2. Wie ein Fürst das Leben kennenlernt

[26] Der Herzog sprach: »Das ist schön; ohne Eure Weisheit, Meister, hätte ich solche Worte nie vernommen. Allein ich bin geboren im Innern des Schlosses und bin herangewachsen in den Armen der Wärterinnen. Ich habe Trauer, Sorgen, Mühe, Furcht und Gefahren nie kennengelernt. Ich fürchte, ich bin nicht imstande, die Lehren von den fünf Stufen zu verwirklichen; was kann ich tun?«

Meister Kung erwiderte: »Wenn Ihr also redet, so wißt Ihr es ja schon; ich wüßte auch nichts Weiteres.«

Der Herzog sprach: »Ohne Euch, mein Meister, bin ich nicht imstande, mein Herz zu entfalten. Sagt es mir, mein Meister.«

Meister Kung sprach: »Wenn Ihr, o Fürst, in den Ahnentempel Euch begebt, rechts die Stufen zur Halle emporsteigt, wenn Ihr nach oben blickt auf die Kapitelle und Streben der Säulen, nach unten blickt auf Tisch und Kissen und daran denkt, wie die Geräte alle noch da sind wie einst und doch die Menschen nicht mehr zu sehen sind, die sie gebraucht; wenn Ihr so der Trauer denkt, so werdet Ihr erfahren, was Trauer ist.

Wenn Ihr beim ersten Tagesgrauen Euch erhebt und Gewänder und Krone anlegt, wenn Ihr bei Tagesanbruch Audienz haltet und all die Gefahren und Schwierigkeiten überdenkt, wie auch das kleinste Versehen im einzelnen der Anfang werden kann von Verwirrung und Untergang; wenn[26] Ihr also an die Sorgen denkt, so wißt Ihr, was Sorgen sind.

Wenn Ihr vom Sonnenaufgang an Euch mit der Regierung beschäftigt, bis die Sonne sich zum Untergang neigt, wenn der Fürsten Söhne und Enkel kommen und gehen als Eure Gäste, wenn Ihr alle Sitten der Höflichkeit, die Verbeugungen, das Vortrittlassen unter sorgfältiger Beachtung der Würde, die der Rang erfordert, vollzieht; wenn Ihr so der Mühe denkt, so wißt Ihr auch, was Mühe ist.

Wenn Ihr in tiefe Gedanken versunken zu den vier Toren Eurer Hauptstadt hinausgeht und besorgt in die Ferne blickt und die Trümmer vergangener Reiche seht – und es sind sicher eine ganze Anzahl da –; wenn Ihr also der Furcht gedenkt, so wißt Ihr, was Furcht ist.

Nun gleicht der Fürst dem Schiff, das Volk gleicht dem Wasser. Das Wasser ist es, das das Schiff trägt, das Wasser ist es auch, das das Schiff zum Kentern bringt. Wenn Ihr so der Gefahr denkt, so wißt Ihr, was Gefahr ist.

Wenn Ihr diese fünf Stücke versteht und daneben noch ein wenig die fünf Stufen im Sinn behaltet, welche Fehler könntet Ihr da bei Eurer Regierung noch machen?«

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 26-27.
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