3. Kapitel
Triebe und Begierden / Tsing Yü

[19] Der Himmel erzeugt den Menschen mit Begierden und Wünschen. Die Begierden haben einen naturgemäßen Trieb. Die Triebe haben ihr Maß. Der Weise pflegt das Maß, um die Begierden zu hemmen. Deshalb überschreitet er niemals die natürlichen Triebe.

Die Begierde des Ohrs ist auf die fünf Töne gerichtet. Die Begierde des Auges ist auf die fünf Farben gerichtet. Die Begierde des Mundes ist auf die fünf Geschmacksarten gerichtet. Das sind die natürlichen Triebe. In diesen drei Stücken sind Vornehme und Geringe, Toren und Weise, Gute und Schlechte in ihren Begierden vollkommen gleich. Selbst ein Schen Nung und Huang Di stimmen darin mit einem Giä und Dschou Sin überein. Wodurch die Weisen sich unterscheiden ist, daß sie die natürlichen Triebe treffen. Wenn man bei seinen Handlungen das Leben wichtig nimmt, so trifft man die natürlichen Triebe; wenn man seine Handlungen nicht durch das Wichtignehmen des Lebens bestimmen läßt, so verfehlt man die natürlichen Triebe. Diese beiden Dinge sind die Wurzel von Leben und Tod, Sein und Nichtsein. Die Herrscher,[19] wie sie zu sein pflegen, beeinträchtigen die natürlichen Triebe, darum hat all ihr Tun Untergang und Verlust zur Folge.

Das Ohr darf man nicht übertäuben, das Auge darf man nicht übermüden, den Mund darf man nicht überfüllen, sonst schwillt der ganze Körper an, die Sehnen und Knochen erstarren, das Blut in den Adern stockt, die neun Körperöffnungen erschlaffen, und jeder Winkel des Leibes verliert seinen naturgemäßen Zustand. So etwas kann selbst ein Pong Dsu20 nicht aushalten. Wer Dinge, die man nicht erlangen kann, begehrt, wer Dinge, an denen man sich nicht ersättigen kann, erstrebt, der kommt weit ab von der Wurzel des Lebens. Die Menschen hassen und lästern ihn, und er sät große Feindschaft. Wenn die Gedanken leicht erregbar sind, so wird man unstet und kraftlos. Wer sich seiner Macht und seiner Klugheit brüstet, der ist in seiner Brust betrügerisch und falsch. Wer langsam ist, wo Tugend und Pflicht rufen, und eilig, wo unrechtmäßiger Gewinn winkt, der kommt in Bedrängnis und Verlegenheit. Wenn die Reue hinterher kommt, so ist es zu spät. Schwätzer und Heuchler umdrängen einen solchen Menschen, und die Gerechten entfernen sich von ihm. Das Land kommt in große Gefahr, Reue über die vergangenen Fehler hilft nichts mehr. Man hört Worte, die einen erschrecken, und findet doch den rechten Weg nicht mehr. Alle Krankheiten kommen grimmig über einen, und alles Elend stellt sich ein. Auf diese Weise kommt man bei der Beherrschung der Menschen und bei der eigenen Lebensführung in große Not. Denn wenn das Ohr sich nicht mehr an den Tönen freuen kann, wenn das Auge sich nicht mehr an der Schönheit freuen kann, der Mund die Leckerbissen nicht mehr genießt, so ist das ebenso schlimm wie der Tod.

In alter Zeit gab es Männer, die den Weg der Wahrheit gefunden; sie brachten ihr Leben zu einem hohen Alter. Der Töne, Farben und Leckerbissen vermochten sie sich lange zu freuen. Woher kommt das? Weil sie ihre Anschauungen früh gefestigt hatten. Sind die Anschauungen frühe gefestigt, so versteht man es frühe mit seinem Leben zu sparen. Versteht man es frühe zu sparen, so erschöpft sich die Lebenskraft nicht. Wird es im Herbste[20] früh kalt, so gibt es sicher einen warmen Winter, fällt im Frühjahr viel Regen, so gibt es sicher einen trockenen Sommer. Wenn nun selbst die Natur nicht zweierlei vermag, wie viel weniger der Mensch. Der Mensch verhält sich gleich wie die Natur. Alle Geschöpfe sind zwar äußerlich verschieden, aber ihren Trieben nach dieselben. Darum nahmen im Altertum die Leute, die ihre Person oder auch das Weltreich in Ordnung bringen wollten, die Natur zum Vorbild. Bietet man den Wein vielen Gästen an, geht er bald zu Ende. Nun gibt es auch gar vieles, was am Leben eines Großen und Vornehmen zehrt. Darum geht das Leben der Großen und Vornehmen in der Regel auch rasch zu Ende. Aber nicht nur die Außendinge zehren an ihm, sondern er selbst schädigt sein Leben, und alle Welt bereichert sich auf seine Kosten, und niemals kommt er zur Selbsterkenntnis.

Unter den Zeitgenossen des Sun Schu Au waren alle Fürstendiener der Meinung, daß Sun Schu Au ein besonderes Glück gehabt habe, dem König Dschuang von Ging zu begegnen.

Vom Standpunkt der Wahrheit aus betrachtet war es aber nicht so, vielmehr war es für den Staat Ging ein Glück. Der König Dschuang von Ging liebte es unermüdlich überall umherzureisen, zu jagen, Wagen zu rennen, zu schießen und konnte sich nie genug vergnügen und überließ die Mühe der Fürsorge für sein Land und die Sorge für die Fürsten gänzlich dem Sun Schu Au. Sun Schu Au hatte Tag und Nacht keine Ruhe und vermochte daher sein Leben nicht zu pflegen. Darum gelang es ihm den Ruhm des König Dschuang in leuchtenden Farben auf die Nachwelt zu bringen.

Aber während er nach außen hin große Taten vollführte21, nahm sein Leben im Inneren Schaden. Mit den Ohren konnte er nicht mehr hören, mit den Augen konnte er nicht mehr sehen, mit dem Mund konnte er nicht mehr essen, in seiner Brust war er verwirrt, redete irre und sah Trugbilder, und als es mit ihm zum Sterben kam, war er wie umgekehrt aufgehängt, voll Furcht und Besorgnis und wußte nicht, was er tun sollte. Ist es nicht traurig, wenn einer so wenig weiß, worauf es bei allem Dichten und Trachten ankommt?

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 19-21.
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