3. Kapitel
Ehrung der Meister / Dsun Schï

[46] Schen Nung hatte Sï Dschu zum Meister; Huang Di hatte Da Yau25 zum Meister; der Herrscher Dschuan Hü hatte den Bo I Fu zum Meister; der Herrscher Gu hatte den Bo Dschau zum Meister; der Herrscher Yau hatte den Dsï Dschou Dschï Fu zum Meister; der Herrscher Schun hatte den Hü Yu zum Meister; Yü hatte den Da Dschong Dschï zum Meister; Tang hatte den Siau Tschen26 zum Meister; die Könige Wen und Wu hatten Lü Wang und Dschou Gung Dan zu Meistern.

Fürst Huan von Tsi hatte den Guan I Wu zum Meister. Herzog Wen von Dsin hatte den Gui Fan und den Sui Hui zu Meistern27. Der Herzog Mu von Tsin hatte den Bai Li Hi und den Gung Sun Dschï zu Meistern28. Der König Dschuang von Tschu29 hatte den Sun Schu Au und den Schen Yin Wu zu Meistern. Der König Ho Lü von Wu hatte den Wu Dsï Sü und den Wen Dschï I zu Meistern. Der König Gou Dsiän von Yüo hatte den Fan Li und den Minister Dschung zu Meistern.

Diese zehn Heiligen und sechs Würdigen30 haben alle ihre Meister geehrt. Heutzutage gibt es Fürsten, die an Ansehen jenen alten Herrschern bei weitem nicht gleichen, deren Weisheit die eines Heiligen lange nicht erreicht und die dennoch denken, sie brauchen ihre Meister nicht zu ehren. Auf welche Weise sollen die es zu etwas bringen? Das war eben der Grund, warum die Geschlechter der fünf Herrs her31 zu Ende kamen und warum die drei Dynastien vernichtet wurden32.

Der Mensch ist von Natur so beschaffen, daß sein Ohr die Möglichkeit des Hörens hat. Aber wer nicht hören lernt, für den wäre es besser, er wäre taub. Das Auge hat die Fähigkeit des Sehens, aber wer nicht sehen lernt, für den wäre es besser, er wäre blind. Der Mund hat die Fähigkeit des Redens, aber wer nicht reden lernt,[46] für den wäre es besser, er wäre stumm33. Der Verstand hat die Fähigkeit des Erkennens, aber wer nicht erkennen lernt, für den wäre es besser, er wäre irre. So besteht das Lernen nicht darin, daß der Natur etwas zugefügt werden kann, sondern, daß das natürliche Wesen zur Erfüllung kommt. Wer das, was die Natur in ihm erzeugt hat, vollenden kann und es nicht verdirbt, der versteht es zu lernen.

Dsï Dschang stammte aus einer verkommenen Familie in Lu, Yän Dschu Dsü war ein großer Räuber aus Liang Fu, aber sie lernten bei Meister Kung. Duan Gan Mu war ein großer Wucherer im Staate Dsin, aber er lernte doch bei Dsï Hia. Gau Ho und Hiän Dsï Schï hatten sich im Staate Tsi wegen ihrer Wildheit einen solchen Namen gemacht, daß man auf dem Lande mit dem Finger nach ihnen zeigte, aber sie lernten doch bei Meister Mo Dsï. So Lu Tsan war der größte Betrüger des Ostens, aber er lernte bei Kin Gu Li34.

Diese sechs Männer waren alles Leute, die für Strafe, Schmach und Tod bestimmt zu sein schienen. Nun sind sie aber nicht nur Strafe, Schmach und Tod entgangen, sondern sogar zu großen Gelehrten und berühmten Männern geworden, die ihres Lebens Tage erfüllten, auf die Könige, Fürsten und Vornehme hörten und sie auszeichneten. Das alles haben sie durch Lernen erreicht.

Beim Lernen muß man vor allem darauf bedacht sein, Fortschritte zu machen. Das Herz darf nicht zerstreut sein, man muß emsig memorieren und fleißig und aufmerksam zuhören. Sieht man, daß der Lehrer bei guter Laune ist, so frage man ihn nach dem Sinn des Gelesenen. Man halte Augen und Ohren bei der Sache und weiche nicht von seinen Grundsätzen ab. Wenn man allein ist, denke man über die Worte des Lehrers ernstlich nach. Man bespreche sich dauernd auch mit Leuten anderer Ansichten, um die Wahrheit beurteilen zu lernen. Man widerspreche nicht in den Tag hinein, sondern halte sich immer in den richtigen Grenzen. Trifft man das Richtige, so werde man nicht eingebildet, trifft man daneben, so schäme man sich nicht. Und was das Wichtigste ist, man gehe bei allem auf die Grundlagen zurück.[47]

Solange der Lehrer am Leben ist, pflege man ihn sorgsam. Bei der sorgsamen Pflege kommt es hauptsächlich auf die Pflege des Herzens an35. Nach dem Tode des Lehrers opfere man ihm ehrfürchtig. Bei ehrfürchtigem Opfer kommt es vor allem darauf an, daß man die festgesetzten Termine nicht versäumt. Dadurch ehrt man seinen Lehrer.

Man bringe die Wassergräben im Garten in Ordnung, man gieße den Garten mit Eifer, man gebe sich Mühe, beim Säen und Pflanzen, man flechte Sandalen aus den Ranken der Pflanzen, man knüpfe Netze und flechte Binsen und Schilf. Man gehe auf das Ackerfeld, man sei fleißig im Pflügen und Jäten und in der Wartung des Getreides, man gehe in die Wälder und Gewässer und fange Fische und Schildkröten, hole Vögel und Tiere. Dadurch ehrt man seinen Lehrer.

Man sehe nach Wagen und Pferden und sei vorsichtig beim Fahren und Wagenlenken; man sorge für Kleider und Gewänder und bereite warmes und leichtes Pelzwerk. Beim Aufwarten von Essen und Trinken befleißige man sich der größten Reinlichkeit, man bereite die Speisen gut zu, sorge für Süßes und Fettes, sei immer ehrerbietig und freundlich im Äußeren, höre genau auf Worte und Befehle und eile sich, sie zu vollbringen, immer ernst und eifrig. Dadurch ehrt man seinen Lehrer36.

Der Edle verhält sich beim Lernen also: Wenn er über wissenschaftliche Dinge redet, so wendet er sich stets an seinen Lehrer, um die Wahrheit zu verstehen. Er hört auf ihn und gibt sich alle Mühe, um das Gehörte zu verstehen. Wer beim Hören sich nicht alle Mühe gibt, der heißt ein Abtrünniger; wer bei wissenschaftlichen Gesprächen sich nicht an seinen Lehrer wendet, der heißt ein Treuloser. Solche abtrünnigen und treulosen Menschen wird ein weiser Fürst nicht an seinem Hof zulassen und ein edler Mann nicht zu seinen Freunden machen.

Lehrer sein ist der ehrenvollste Beruf; Schüler sein führt zur wertvollsten Erkenntnis. Der ehrenvollste Beruf ist derjenige, welcher andern nützt, man kann andern nicht mehr nützen, als indem man sie lehrt. Die wertvollste Erkenntnis ist diejenige, die die Persönlichkeit[48] vollkommen macht. Man kann aber seine Persönlichkeit nicht anders vollkommen machen als dadurch, daß man lernt. Ist einer eine vollkommen durchgebildete Persönlichkeit, so wird er als Sohn ehrfürchtig sein, ohne daß man ihn es heißt; als Beamter gewissenhaft sein, ohne daß man es ihm befiehlt; als Fürst gerecht sein, ohne daß man ihn dazu zwingt. Kommt er zu großer Macht, so ist er imstande, die ganze Welt in Ordnung zu bringen.

Dsï Gung fragte den Meister Kung und sprach: »Was wird die Nachwelt besonders von Euch rühmen, o Meister?«

Meister Kung sprach: »Was sollte ich denn Rühmenswertes an mir haben? Wenn du aber durchaus etwas wissen willst, so sei es das, daß ich das Lernen liebe, ohne es satt zu bekommen, daß ich das Lehren liebe, ohne müde zu werden. Das ist das einzige, was man von mir sagen kann37

Wenn der Himmelssohn in den großen Tempel geht, um den Heiligen des Altertums zu opfern, so gilt die Rangordnung des Alters. Wer einmal schon Meister des Himmelssohns war, der wird nicht mehr unter die Beamten gerechnet. Das geschieht, um das Lernen wichtig zu nehmen und die Meister zu ehren38.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 46-49.
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