4. Kapitel
Ungerechte Vorwürfe gegen Schüler / Wu Tu

[49] Wer sich auf den Beruf eines Lehrers versteht, der macht, daß seine Schüler Ruhe finden und fröhlich sind, Zeit haben, sich erholen können, ernst sind und streng gegen sich selbst. Wenn diese sechs Dinge in der Schule vorhanden sind, so sind die Wege zu Verkehrtheiten und Ungezogenheiten verstopft und die Fertigkeit zum Fortschritt in Vernunft und Gerechtigkeit nimmt zu. Wenn einer diese sechs Dinge von der Schule nicht fürs Leben mitbekommt, so kann der Fürst ihn nicht als Beamten brauchen, ein Vater ihn nicht als Sohn brauchen, ein Meister ihn nicht als Jünger brauchen.

Es liegt in der Art der Menschen, daß sie keine Freude haben können, wenn sie sich nicht behaglich fühlen, und woran sie keine Freude haben, darin machen sie keine Fortschritte. Wenn man[49] ihnen Freude zu geben vermag, so brauchts gar nicht einmal eines tüchtigen Schülers, selbst ein untauglicher wird sich Mühe geben. Wenn man es aber ihnen schwer macht, so brauchts gar nicht erst eines untauglichen Schülers, selbst ein tüchtiger kann es nicht lange aushalten. Wenn man zurückgeht auf das eigentliche Wesen des Menschen, so findet man das Mittel, die Schüler anzufeuern.

Der Meister Hua Dsï39 sprach: »Ein König freut sich über das, was ihn zum König macht; ein Verlorener freut sich über das, was ihn zum Verlorenen macht.« Wer Tiere nur gebraten ißt, rottet sie damit noch nicht ganz aus; aber wer eine Leidenschaft für getrocknetes Fleisch hat, der kommt fast so weit. So hat ein König auch eine Leidenschaft für Vernunft und Recht und ein Verlorener hat eine Leidenschaft für Grausamkeit und Roheit. Ihre Leidenschaften sind verschieden, darum ist auch das Schicksal verschieden.

Ein schlechter Lehrer ist in seiner Stimmung nicht harmonisch, er greift etwas auf und läßt es wieder fallen und springt von einem aufs andere ab. Er besitzt keine Konsequenz; wie bei unbeständigem Wetter wechselt gute Laune und Zorn beständig bei ihm. Seine Worte und Reden wechseln täglich, und er läßt in seinen Handlungen seinen Launen freien Lauf. Liegt ein Fehler an ihm, so verschmäht er es, sein Unrecht zu bekennen. Er verharrt bei seinen Fehlern und ist eigensinnig, so daß keine Mahnung ihn zu ändern vermag.

Leuten gegenüber, die Einfluß und Macht haben und großen Reichtum, fragt er nicht nach Begabung und prüft nicht ihren Wandel, sondern er lehrt sie voll Hast und lobt schmeichlerisch, nur darauf bedacht, ja ihr Wohlwollen zu erlangen. Dagegen andere Schüler, die sich nicht hervordrängen, der Reinheit sich befleißigen, ein ruhiges Benehmen führen und über die andern hervorragen, die eine rasche Auffassung über alles Gehörte haben und mit Eifer und Begabung beim Lernen sind: wenn sie fast mit ihrem Pensum fertig sind, so verfolgt er sie mit Hemmungen, er macht ihnen Schwierigkeiten und läßt sie darin stecken, er ist mißgünstig gegen sie und haßt sie. Wollte der Schüler nun weggehen, so täte es ihm leid, daß er nicht fertig geworden ist; bleibt[50] er, so kommt er nicht zur Ruhe; kehrt er heim, so muß er sich vor Eltern und Geschwistern schämen; geht er nach auswärts, so kommt er bei Bekannten und Landsleuten in Schande. Das ist ein Kummer für einen Lernenden. Auf diese Weise kommen Lehrer und Schüler innerlich auseinander. Es liegt in der menschlichen Natur, Leute zu hassen, denen man entfremdet ist. So kommen Lehrer und Schüler gegenseitig in Feindschaft und Unfrieden. Es liegt aber in der menschlichen Natur, daß man die, mit denen man in Feindschaft lebt, nicht lieben kann, daß man die, die man haßt, nicht loben kann. Das führt zum Verderb des Unterrichts und zum Verfall aller Wahrheit und Lehre.

Nicht also macht es ein guter Lehrer. Er liebt den Schüler wie sich selbst. Er geht auf seine eigenen Bedürfnisse zurück, um ihn zu belehren. So findet er die rechte Weise des Lehrens. Was er andern zufügt, ist nur von der Art, daß man es auch ihm zufügen mag. Auf diese Weise sind Lehrer und Schüler wie ein Leib. Sie lieben einander wie sich selbst, sie loben einander wie sich selbst, sie helfen einander wie sich selbst. Das führt zur Blüte des Unterrichts und zum Gedeihen aller Wahrheit und Lehre.

Ein schlechter Schüler folgt dem Lehrer widerwillig und möchte es doch zu etwas bringen. Er ist dem Lehrer gegenüber oberflächlich und möchte doch etwas Gründliches lernen. Selbst Gras und Bäume, Hühner und Hunde, Rinder und Pferde darf man nicht schlecht behandeln. Behandelt man sie schlecht, so vergelten sie es den Menschen auch wieder mit schlechter Behandlung. Wieviel weniger darf man so sein, wenn es sich um einen vernünftigen Lehrer handelt und um die Worte der Wahrheit und der Unterweisung.

Ein schlechter Schüler ist in seinem Betragen gegen den Lehrer nicht gewissenhaft. Seine Aufmerksamkeit ist nicht ungeteilt. Er liebt ihn nicht herzlich und geht nicht mit Eifer ans Lernen. Beim Disputieren weiß er nicht wahr und falsch zu unterscheiden. Wenn er andere lehren soll, so ist er ungeschickt. Er murrt gegen den Lehrer, er liebt den Schlendrian, und sein Geist treibt sich in der Welt herum. Er rühmt sich seiner Macht und freut sich seiner schlechten Streiche. Darum versinkt er in tückische Schlauheit,[51] wird verblendet durch kleinliche Gewinnsucht und betört sich durch seine Lüste und Begierden. Wenn er etwas fragt, so bringt er alles durcheinander vor. Die verschiedenen Abschnitte seiner Aufsätze haben einen verschiedenen Sinn, und die verschiedenen Abteilungen widersprechen einander. Trennt er etwas, so kann er es nicht mehr zusammen bringen, vereinigt er etwas, so kann er es nicht mehr unterscheiden; ist die Sache fertig, so kann er kein Ende finden. Das sind die Übel eines Menschen, der nicht zu lernen versteht40.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 49-52.
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