5. Kapitel
Benützung der Menge / Yung Dschung

[52] Wer sich aufs Lernen versteht, der macht es wie der König von Tsi beim Hühneressen. Der aß immer nur die Hinterzehe; dabei brauchte er mehrere Tausend, bis er satt war41. Selbst wenn man nicht satt wird, so hat man wenigstens Hühnerfüße gehabt. Es gibt in der Tat nichts in der Welt, das nicht einen Vorzug hat, und nichts, das nicht ein Gebrechen hat. So ist's auch mit den Menschen. Darum benützt der, der gut zu lernen versteht, die Vorzüge der andern, um seine eigenen Gebrechen auszugleichen. Wer so die andern zu benützen versteht, der wird das Erdreich besitzen. Man schäme sich nicht, etwas nicht zu können, man ärgere sich nicht, etwas nicht zu wissen. Wer sich schämt, etwas nicht zu können, und sich ärgert, etwas nicht zu wissen, der kommt in Verlegenheit. Wer sich aber nicht schämt, etwas nicht zu können, und sich nicht ärgert, etwas nicht zu wissen, der kommt voran. Selbst Giä und Dschou Sin42 hatten noch etwas, vor dem man Respekt haben mußte, das man ihnen nachtun konnte; wieviel mehr ist das bei tüchtigen Menschen der Fall.

So hat ein Gelehrter gesprochen: Das Disputieren darf man nicht unterlassen. Wer wirklich zu disputieren versteht, der schafft dadurch Belehrung. Die Belehrung ist ein großer Dialog. Wer aber seinen Gedanken im Wortwechsel mit andern keinen Ausdruck zu verleihen versteht, der ist wie ein Mensch, der außen in grobes härenes Gewand gekleidet ist, während er darunter in Samt und Seide geht.

Die Jung-Tataren werden geboren in der Tatarei, sie wachsen[52] auf in der Tatarei, und so lernen sie die tatarische Sprache ganz unvermerkt. Die Leute von Tschu werden geboren in Tschu und wachsen auf in Tschu, und so lernen sie die Sprache von Tschu ganz unvermerkt. Wenn man nun einen Knaben aus Tschu in der Tatarei aufwachsen ließe und einen Tataren in Tschu, so würde der Mann aus Tschu Tatarisch lernen und der Tatare die Sprache von Tschu43. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, wüßte ich nicht, wie es unmöglich sein sollte, einen Herrscher, der sein Land zugrunde richtet, zu einem tüchtigen Herrn zu machen. Es kommt alles von den unrichtigen Einflüssen der Umgebung, in der er geboren und aufgewachsen ist, her. Darum ist es unbedingt nötig auf die Umgebung, wo einer geboren wird und aufwächst, acht zu geben.

Es gibt keinen ganz weißen Fuchs auf der Welt, aber es gibt ganz weißes Pelzwerk. Man nimmt eben von allen das Weiße. Dadurch daß sie von allen etwas nahmen, haben die drei Erhabenen und die fünf Herrscher solch großen Erfolg und Ruhm erreicht44.

Wodurch alle Herrscher bestehen, das stammt von der Masse des Volks. Wenn einer, der seine eigene Stellung befestigt hat, seine Massen im Stich lassen wollte, so hat er den Wipfel, aber er verliert die Wurzel. Daß einer, der den Wipfel erreicht, aber die Wurzel verliert, sich in sicherem Zustande befände, ward noch nie gehört.

Im Verein mit allen Tapferen braucht man selbst einen Recken wie Mong Ben nicht zu fürchten45. Im Verein mit allen Starken braucht man selbst einen Athleten wie Wu Huo nicht zu fürchten46. Im Verein mit allen Scharfsinnigen braucht man selbst einen Späher wie Li Lou nicht zu fürchten47. Im Verein mit allen Weisen braucht man selbst einen Yau und Schun nicht zu fürchten. Darum ist der Verein mit der Gesamtheit der große Schatz der Fürsten.

Tiän Piän sprach zum König von Tsi: »Mong Ben hat gefährliche Allüren. Wenn man ihn aber an die Grenze schickt, so ist er nicht gefährlich48

Die Könige von Tschu und We hörten nicht auf Ratschläge und dennoch waren sie in ihrem Gebiet gerüstet, und ihre Krieger waren kampfbereit, das kam davon, daß sie die Menge für sich hatten.

Fußnoten

1 Das Sternbild Bi (Ende) ist Aldebaran und die Hyaden, I (Flügel) enthält 2 Sterne der Hydra und des Bechers, Wu Nü bzw. Nü (Jungfrau) enthält 2 Sterne des Wassermanns. Die Tage Bing und Ding sind das dritte und vierte Zeichen im Zehnerzyklus. Sie bedeuten das Feuer.


2 Yän Di, der Flammenherr, ist der Sohn der Schau Diän. Sein Clanname ist Kiang. Er regierte die Welt in der Macht des Feuers. Es ist derselbe, der unter dem Namen Schen Nung, der göttliche Landmann, bekannt ist. Er heißt der Flammenherr, da der Ackerbau eine Rodung des Buschwerks durch Feuer verlangte.


3 Dschu Yung ist ein Nachkomme des Dschuan Hü, der unter Gau Sin Beamter des Feuers war; nach seinem Tod wurde er als Schutzgeist des Feuers verehrt.


4 Durch die Wirkung der völligen Yang-Kraft zerstreuen sich die Schuppen und werden zu Federn. Das Haupt der gefiederten Tiere ist der Phönix.


5 Dschï ist die zweite Note der chinesischen Skala. Sie bedeutet das Feuer. Ihr Platz ist im Süden.


6 Dschung Lü ist eine Yin-Tonart. Die Yang-Kraft ist nach außen zerstreut, die Yin-Kraft bildet sich im Innern.


7 Die Zahl der Wandelzustände ist fünf. Das Feuer steht am zweiten Platz, macht zusammen sieben.


8 Dieser Satz fehlt im Yüo Ling in Li Gi und wird daher vom Kommentar für in den Text eingedrungen gehalten, da bei den übrigen Monaten keine entsprechenden Hinweise auf Wesensart und Sinnestätigkeit sich finden. Doch müssen wir mit Dschu Dsï Ping I wohl annehmen, daß es sich um einen ursprünglichen Textbestandteil handelt, dessen Rest hier stehen geblieben ist und nach dem die übrigen Jahreszeiten zu ergänzen wären:


Frühling–Holz–Liebe–Geruch

Sommer–Feuer–Sitte–Gesicht

Herbst–Metall–Gerechtigkeit–Geschmack

Winter–Wasser–Weisheit–Gehör

Zentrum–Erde–Treue–Bewußtsein


9 Sou Hui. Da in diesem Monat das Feuer zur Herrschaft gelangt, opfert man dem Genius des Herdes. Die Lunge ist nach der einen Auffassung dem Metall zugeordnet. Sie wird geopfert, weil Feuer das Metall überwindet. Nach den anderen Auffassungen würde die Lunge eben dem Feuer entsprechen.


10 Das Lichtschloß (Ming Tang) ist der nach Süden gewandte Saal. Nach diesem Saal hieß der ganze Tempel Ming Tang. Das linke Zimmer liegt am Ostende.


11 Um die Natur des Feuers, die alle Pflanzen wachsen macht, zu symbolisieren. Hühner und Bohnen dienen nach Dschong Kang Tsdiong zur Beruhigung der Natur.


12 Am 46. Tage nach dem Frühlingsanfang ist Sommeranfang, Li Hia, der meistens in den vierten Monat fällt.


13 Diese Zeremonien dienen dazu, den Bestand des Reiches zu sichern, die Gesellschaft zu festigen und das Volk zu fördern. Die Musik dient zur Beeinflussung der Sitten und Gewohnheiten, sie soll das Verkehrte der Menschen ausgleichen und ihre guten Anlagen stärken.


14 Der Titel Tai We für Kriegsminister kommt zuerst unter der Tsin-Dynastie vor, was mit der Abfassung dieser Ordnungen unter Lü Bu We stimmt.


15 Eine Stadt, Hiän, besteht aus 2500 Familien, ein Dorf, Pi, aus 500 Familien.


16 Da in diesem Monat die Kraft des Lichten ihren Höhepunkt erreicht, reifen die heilsamen Kräuter; sie werden daher gesammelt und aufbewahrt. Hirschgras sind feine Kräuter wie Schäfertäschchen usw. In Li Gi ist das Wort anders geschrieben.


17 In diesem Monat ist die Yang-Kraft in voller Wirkung; im nächsten Monat lauert die Yin-Kraft unten. Darum werden leichtere Strafsachen entschieden in Übereinstimmung mit diesem Geist des Tötens. Leichte Strafgefangene, die keine Körperstrafen zu erdulden haben, werden entlassen.


5. Kapitel 4. Monat 5. Kapitel 5. Monat


18 Es wird dabei der neue Wein getrunken, der stärkend und lebenverlängernd wirkt.


19 d.h. alle zehn Tage ein Regen.


20 Im ersten Frühlingsmonat ist die Yang-Kraft in voller Wirkung. Würde man nun die tötenden Ordnungen der Metallkraft ausführen, so würde das Wasser sich aus dem Metall bilden und heftige Regen das Korn töten, so daß es nicht wachsen kann. Von allenthalben würden die Leute aus Furcht vor Räubern sich in die ummauerten Plätze flüchten, um sich zu schützen.


21 Da in diesem Monat die Yang-Kraft in starkem Wachsen begriffen ist, so würde, wenn man die für den Frühling gültigen Ordnungen für die aus dem Winterschlaf erwachenden Insekten befolgen wollte, eine Insektenplage eintreten. Im Frühling ist die Holzkraft stark, die sich in der Atmosphäre des Windes äußert, so daß infolge davon Stürme entstehen würden.


22 Diese Unkenntnis der Vernunftgrundsätze bewirkt auf seiten der Fürsten und Väter, daß sie es an Liebe und Güte fehlen lassen. Mangel an Gewissenhaftigkeit und Ehrfurcht enttäuscht die Fürsten und Väter, Mangel an Liebe und Güte enttäuscht die Beamten und Söhne.


23 Im I Ging Hexagramm Nr. 4 heißt es: Nicht ich suche den jungen Toren, sondern der junge Tor sucht mich. Vgl. Li Gi, Kü Li A, 11.


24 Siehe Lun Yü XI, 22.


25 Vgl. Dschuang Dsï I, 2 und sonst. Da Yau ist der Sage nach der Erfinder des Sechziger-Zyklus. Alle die in diesem Zusammenhang erwähnten Meister sind hauptsächlich in taoistischen Quellen erwähnt. Vgl. außerdem Buch II Kap. 4 und Sin Sü, Dsa Schï 5.


26 Gleich I Yin.


27 Sui Hui fällt übrigens zeitlich nach dem Herzog Wen. Auch die Angabe in Liä Dsï VIII, 9, daß Sui Hui gleichzeitig mit Dschau Wen Dsï gelebt habe, ist historisch unrichtig, ebenso wie eine Geschichte in Schuo Yüan, in der Sui Hui mit Wen von Dsin zusammen vorkommt.


28 Über Bai Li Hi vgl. Mong Dsï VI, B 6 und 15.


29 Merkwürdigerweise steht hier nicht wie sonst Ging, sondern Tschu. Auch der Name Schen Yin Wu ist sehr unsicher. Vgl. Buch II, 4 und den 3. Teil Bu Gou Lun, IV, 2 und Sin Sü, wo überall der Name etwas abweicht. Schen Yin Wu ist identisch mit Schen Dschu Liang, dem Herzog von Schê, der in Lun Yü an verschiedenen Stellen vorkommt.


30 Auch hier ist die Einteilung in die fünf Hegemonen noch nicht erwähnt. Die spätere Aufzählung läßt die beiden letzten der obengenannten Fürsten weg und hat dafür noch den Fürsten Siang von Sung als fünften Hegemonen.


31 Die fünf Herrscher sind nach dem I Ging: Bau Hi (Fu Hi), Schen Nung, Huang Di, Yau und Schun. Eine andere Aufzählung siehe in Abschnitt 5, Anmerkung 5.


32 Hia, Schang und Dschou.


33 Korrigiert nach Sin Sü. Im Text steht »schuang« = schal im Anschluß wohl an Lau Dsï, das aber nicht in den Zusammenhang paßt.


34 Über Dsï Dschang und Dsï Hia vgl. Lun Yü und Gia Yü. Über Yän Dschu Dsu vgl. Gia Yü. Über Duan Gan Mu vgl. Mong Dsï III, B 7. Was die Namen Gau, Ho und Hiän Dsï Schï anlangt, so scheint eine Textverderbnis vorzuliegen. Bei Mo Dsï wird nur ein Schüler namens Gau Schï Dsï genannt. Kin Gu Li, dessen Name sehr verschieden geschrieben wird, ist einer der berühmtesten Schüler von Mo Dsï.


35 D.h. daß man dem Lehrer immer Freude macht.


36 In China hat der Schüler ähnlich wie in Indien, solange er sich im Hause des Lehrers befindet, dessen Hausarbeiten zu besorgen.


37 Vgl. Lun Yü VII, 33.


38 Vgl. Mong Dsï II, A 2.


39 Hua Dsï ist ein Taoist aus alter Zeit.


40 Vgl. Huai Nan Dsï 16.


41 Gemeint ist die weiche hintere Zehe am Hühnerfuß. Das Gleichnis bedeutet, daß man beim Lernen der Wahrheit sich viel aneignen muß, um sich auszuzeichnen. Bei Huai Nan Dsï (Schuo Schan) heißt es übrigens statt mehrere Tausend mehrere Dutzend.


42 Giä hat die Verfertigung von Dachziegeln eingeführt, Dschou den Bleipuder.


43 Vgl. Mong Dsï III, B 6.


44 Im Kommentar werden als die drei Erhabenen genannt Fu Hi, Schen Nung und Nü Wa (Nü Wa wird gelegentlich auch als Schwester von Fu Hi bezeichnet), als die fünf Herrscher Huang Di, Di Gu, Dschuan Hü, Yau und Schun.


45 Vgl. Mong Dsï II, A 2.


46 Vgl. Mong Dsï VI, B 2.


47 Vgl. Mong Dsï IV, A 1.


48 Der Grund, warum Mong Ben an der Grenze nicht gefährlich war, ist die starke militärische Bedeckung, die dort stationiert war.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 52-53.
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