2. Kapitel
Abhandlung über die Einschüchterung / Lun We

[94] Die Gerechtigkeit ist es, die durch alle Dinge als roter Faden sich hindurchzieht, auf der die Verhältnisse von Fürst und Untertan, Alter und Jugend, näheren und ferneren Verwandten beruhen, von der es abhängt, ob Ordnung oder Verwirrung, Friede oder Gefahr und die Möglichkeit des Sieges vorhanden ist. Die Möglichkeit des Sieges darf man nicht bei anderen suchen, sondern muß sie in sich selber finden.

Es liegt in der menschlichen Natur das Leben zu lieben und den Tod zu hassen, die Ehre zu lieben und die Schmach zu hassen. Wenn es gelingt, die Vereinigung der Bedingungen von Leben und Tod, Ehre und Schmach zu erzeugen, so kann man die drei Heere eines Großstaates gleicher Gesinnung machen. Was die Stärke der Heere[94] anlangt, so ist Einheit erwünscht. Wenn die ganzen Heere eine Gesinnung durchdringt, so finden die Befehle keinen Widerstand. Wer es einzurichten weiß, daß seine Befehle auf keinen Widerstand stoßen, dessen Soldaten sind auf Erden unüberwindlich. Die vollkommenen Soldaten des Altertums waren das Resultat davon, daß das Volk die Befehle wichtig nahm. Sie sind das Wichtigste auf Erden und das Kostbarste für den Himmelssohn. Sie sind geborgen im Herzen des Volkes und bringen die Glieder in harmonische Bewegung, so daß sie richtig und fest stehen und nichts in der Welt sie erschüttern kann.

Wenn es sich also verhält, wie sollte dann der Feind imstande sein zu siegen? Darum heißt es: wessen Befehle stark sind, dessen Feind ist schwach; wessen Befehle zuverlässig sind, dessen Feind muß sich beugen. Erst gilt es, den Sieg zu erringen in den eigenen Mauern, dann folgt der Sieg draußen auf dem Schlachtfelde ganz von selbst.

Die Waffen sind Unglücksgeräte auf Erden, die Tapferkeit ist die unheilvolle Tugend auf Erden. Die Unglücksgeräte zu erheben und die unheilvolle Tugend auszuüben, dazu braucht es eines Anlasses, der so beschaffen ist, daß man nicht anders kann. Wenn man diese Unglücksgeräte erhebt, so muß man töten. Aber man soll töten um vieler Menschen Leben zu retten. Wenn man diese unheilbringende Tugend ausübt, so muß man Schrecken verbreiten. Man soll Schrecken verbreiten um den Feind einzuschüchtern. Daß der Feind eingeschüchtert und seinem Volk das Leben erhalten wird, das ist der Grund, warum ein gerechter Krieg zum Siege führt. So erreichten es im Altertum die vollkommenen Krieger, daß ehe Adel und Volk sich vereinigen konnten, der Schrecken des Siegers sich schon verbreitet hatte und der Feind sich unterwerfen mußte. Was bedurfte es da noch der Trommeln und Pauken, Schilder und Speere? Darum: wer es versteht, Schrecken zu verbreiten, der benützt den Zeitpunkt, da der Feind sich noch nicht erhoben, das feindliche Heer sich noch nicht vereinigt hat. So still und heimlich geht er zu Werke, daß niemand seine Absicht merkt. Darin besteht das rechte Wesen des wahren Schreckens.[95]

Im Kriege kommt alles darauf an, rasch vordringend zu sein. Der Weg zu einem raschen Vordringen beruht aber darauf, daß man erkennt, daß Langsamkeit und Zögern ein Teil des Vordringens ist. Durch rasches Vordringen wird der Sieg in einem gerechten Kriege entschieden. Aber man kann nicht lange dabei verharren. Wer es weiß, daß man nicht lange dabei verharren darf, der weiß, wie der Hase läuft und der Geier fliegt, wenn es ihnen ans Leben geht. Hemmen auch Flüsse und Ströme seinen Lauf, so überschreitet er sie; stellen sich ihm große Berge in den Weg, so überwindet er sie. Er hält den Atem an und nimmt seine ganze Kraft zusammen. Sein Herz denkt nichts anderes, sein Auge sieht nichts anderes, sein Ohr hört nichts anderes. Mit ganzer Kraft ist er auf sein kriegerisches Ziel gerichtet.

Yän Schu schwor, daß er mit dem Fürsten Tiän auf Tod und Leben kämpfen wolle und das ganze Volk von Tsi stand in Furcht. Yü Yang war entschlossen den Siang Dsï zu töten oder selbst zu sterben, und das ganze Haus von Dschau war von Schrecken ergriffen. Tschong Ging setzte sein Leben gegen das des Herrn von Han, und die Leute von Dschou gerieten alle in Angst. Wieviel mehr wird solches der Fall sein, wenn sich ein Großstaat in einer Lage befindet, daß er wirklich muß. Welcher Feind sollte ihm widerstehen können? Noch ehe die Klingen sich kreuzen, ist die Absicht erreicht. Die Feinde stehen in Furcht und Zittern, ihre Kraft ist erschöpft, ihre Seele ist erschüttert und sie gehen und wissen nicht wohin, sie laufen und wissen nicht wohinaus. Auch wenn sie die schärfsten Waffen und stärksten Befestigungen haben, so wagt ihr Sinn nicht sie zu ergreifen und kein Gedanke kommt, daran Halt zu machen. Auf diese Weise ist Giä vom Hause Hia umgekommen in Nan Tschau7.

Wenn man nun mit Holz gegen Holz schlägt, so bricht es ab; wenn man Wasser in Wasser gießt, so zerstreut es sich; wenn man Eis in Eis gießt, so sinkt es unter; wenn man Schlamm in Schlamm gießt, so versinkt er. Daraus ergibt sich, welche Folgen es haben muß, wenn Eile mit Weile angewandt wird.

Es gibt einen überaus wichtigen Grundsatz im Kriege, nämlich[96] den, daß man weiß, daß einerlei ob der Gegner Pläne hat oder nicht, die eigenen Pläne nicht verhindert werden können. Das führt immer zum Erfolg. So hat es Dschuan Dschu8 gemacht. Mit einer Hand erhob er sein Schwert; er nahte sich und alles war beendet; der König von Wu war eingesetzt. Wieviel mehr wird es erst Soldaten, die für eine gerechte Sache fechten, gelingen, die wenn sie viel sind nach Zehntausenden zählen, wenn sie wenig sind nach Tausenden zählen, in dichten Scharen heranmarschieren und des Feindes feste Plätze stürmen; solche werden sicher weit mehr erreichen als Dschuan Dschu.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 94-97.
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