5. Kapitel
Liebevolle Fürsorge für die Staatsbeamten / Ai Schï

[101] Man kleidet die Menschen, um sie gegen die Kälte zu schützen. Man nährt die Menschen, um sie gegen den Hunger zu schützen. Hunger und Kälte sind die größten Leiden der Menschen, und es ist Pflicht, sie davor zu retten. Wenn jemand in Not und Verlegenheit gerät, so ist es so schlimm wie Hunger und Kälte.[101] Darum nimmt sich ein guter Herr der Verlegenheit seiner Leute an und hat Mitleid mit ihrer Not. Dadurch wird sein Name berühmt und er gewinnt die Herzen seiner Staatsbeamten.

Der Herzog Mu von Tsin fuhr einst auf einem vierspännigen Kriegswagen. Der Wagen zerbrach, das rechte Mittelpferd verlief sich, und Leute aus Yin fingen es ein. Der Herzog Mu ging selber aus, es zu suchen. Da sah er, wie die Leute von Yin eben im Begriff waren, es aufzuessen am Südhang des Ki-Berges. Da lachte der Herzog Mu und sprach: »Wenn ihr das Fleisch meines Rosses eßt und keinen Wein dazu trinkt, so fürchte ich, es könnte euch schaden«. Darauf gab er ihnen allen zu trinken und ging weg. Ein Jahr darauf kam es zu einer großen Schlacht gegen den Staat Dsin auf der Ebene von Han. Die Leute von Dsin hatten schon den Wagen des Herzogs Mu umringt. Liang Yu Mi von Dsin hatte schon das linke Pferd des Herzogs festgehalten. Der rechte Wagenkämpfer des Herzogs Hui von Dsin namens Schï Fen schlug nach dem Panzer des Herzogs Mu und hatte ihn schon sechsmal getroffen. Da kamen von den Leuten von Yin, die seinerzeit am Fuße des Ki-Berges das Fleisch des Pferdes gegessen hatten, über dreihundert herbei und verteidigten den Herzog Mu mit äußerster Kraft, neben seinem Wagen aufs tapferste kämpfend. Dadurch erlangte er einen großen Sieg über Dsin, und es gelang ihm umgekehrt den Herzog Hui gefangen heim zu führen. Das ist die Bestätigung des Liedes:


Herrscht man über Edle, so sei man gerecht,

Um ihre Tugend zu wecken.

Herrscht man über Gemeine, so sei man großmütig,

Um ihre Kraft zu spornen.


Wie sollte daher ein Herrscher es versäumen können Tugendübungen und Menschenliebe zu pflegen. Durch Tugendübung und Menschenliebe gewinnt er die Liebe des Volkes. Liebt das Volk seinen Herrn, so sind alle mit Freuden bereit, für ihren Herrscher zu sterben.

Dschau Giän Dsï13 hatte zwei weiße Maultiere, die er besonders liebte. Yang Tschong Sü Gü war krank. Bei Nacht kam der Türhüter[102] vom breiten Tor an die Tür und trat vor den Herrn. Er sprach: »Der Diener unseres Herrn, Sü Gü, ist krank. Der Arzt hat ihm gesagt, wenn er die Leber eines weißen Maultiers bekomme, so werde er von seiner Krankheit genesen, wenn nicht, so werde er sterben.« Als der Türhüter dies berichtete, weilte Dung An Yu zur Seite des Fürsten. Er wurde böse und sprach: »Ei, dieser Sü Gü hofft das Maultier unseres Herrn zu bekommen; ich bitte, ihn sofort bestrafen zu wollen.« Dschau Giän Dsï sprach: »Einen Menschen zu töten, um ein Tier am Leben zu erhalten, ist doch nicht gütig. Dagegen ein Tier zu töten, um einem Menschen das Leben zu retten, ist doch die Pflicht eines gütigen Mannes.«

Darauf berief er den Küchenmeister, ließ ihn das weiße Maultier schlachten und seine Leber dem Yang Tschong Sü Gü geben. Nicht lange danach führte Dschau Giän Dsï ein Heer, um Di anzugreifen. Der Beamte vom breiten Tor hatte zur Linken siebenhundert Mann und zur Rechten siebenhundert Mann, die alle zuerst die Mauern erstiegen und dem Feind schweren Schaden zufügten.

Wie dürfte ein Herrscher es unterlassen, seine Untergebenen zu lieben. Daß ein Feind herankommt, kommt daher, daß er darin seinen Vorteil sieht. Wenn er nun getötet wird, sowie er kommt, so sieht er seinen Vorteil darin, zu entfliehen. Wenn die Feinde alle ihren Vorteil in der Flucht erblicken, so braucht man keine Klinge mit ihnen zu kreuzen. Wenn der Feind durch mich sein Leben findet, so finde ich durch den Feind meinen Tod. Wenn der Feind durch mich seinen Tod findet, so finde ich durch den Feind mein Leben. Ob nun ich mein Leben durch den Feind finde, oder der Feind sein Leben durch mich findet, das ist doch ein wesentlicher Unterschied! Hierauf beruht das Geheimnis der Kriegskunde. Bestehen und Untergang, Leben und Tod hängt einzig davon ab, daß man dies erkennt.

Fußnoten

1 Güo (Horn) ist α und ζ der Jungfrau, Kiän Niu oder Niu (Stier) enthält sechs Sterne des Steinbocks, das Sternbild Dsui (Schnabel) enthält drei Sterne des Orion.


2 Nan Lü (südliche Pfeife) ist eine weibliche Tonart.


3 Der dunkle Vogel bedeutet die Winterkrähen.


4 Dsung Dschang (die Halle der klaren Vollendung) ist der nach Westen gelegene Flügel; der große Tempel ist der mittlere Raum davon.


5 Die mit Stroh gefütterten Opfertiere sind Rinder und Schafe, die mit Korn gefütterten sind Hunde und Schweine.


6 Das sogenannte No, eine magische Feier zum Zweck der Vertreibung schädlicher Dünste, vgl. Lun Yü X, 10.


7 Nach der Überlieferung des Schu Ging wurde Giä nicht getötet. Auch die anderen in diesem Kapitel erwähnten historischen Beispiele lassen sich schwer mit den übrigen Geschichtsberichten vereinigen.


8 In diesem und dem vorhergehenden Abschnitt ist der Text unsicher. Dschuan Dschu war ein Held von Wu, der den König Liau von Wu ermordete und den König Ho Lü auf den Thron setzte.


9 King Gi ist der Sohn des Königs Liau von Wu, Tschen Niän ist ein Bürger vom Staate Tsi, beide waren in der Zeit der streitenden Reiche wegen ihrer Tapferkeit berühmt.


10 Während die gewöhnlichen Kriegswagen nur drei Mann Besatzung hatten, hatten diese fünf Mann, wodurch sie besonders furchtbar wurden.


11 Die Leute von We hatten ursprünglich die Abzugsgräben ihrer Felder in nord-südlicher Richtung gezogen, dadurch bildeten diese Hindernisse für die Truppen von Tsin. Indem sie nun die Gräben ihrer Felder in ost-westlicher Richtung zogen, lag das Land offen da.


12 Dieser Abschnitt richtet sich gegen den Idealismus des Mong Dsï, der die Hauptstärke in der Gerechtigkeit der Sache sah. Er vertritt ungefähr den Standpunkt, daß der Herrgott bei den stärksten Bataillonen steht.


13 Siehe Han Schï Wai Dschuan 10, Huai Nan Dsï 13, Schuo Yüan 6, Dso Dschuan Herzog Hi 15. Jahr.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 101-103.
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