4. Kapitel
Wahrhafte Unbestechlichkeit / Tschong Liän

[149] Einen Stein kann man zertrümmern, aber man kann ihm nicht seine Härte nehmen. Zinnober kann man abwischen, aber man kann ihm nicht seine Röte nehmen. Die Härte und Röte sind nämlich wesenhafte Eigenschaften. Das Wesen kommt vom Himmel, man kann es sich nicht beliebig aneignen. Daß man einen selbstbewußten Ehrenmann nicht beschimpfen kann, beruht auf demselben Grunde.

Als einst das Haus Dschou im Begriff war emporzusteigen, lebten zwei Männer in Gu Dschu, namens Bo I und Schu Tsi. Die beiden sprachen zueinander: »Wir hören, daß im Westen ein[149] Markgraf aufgekommen ist, der wie es scheint auf dem rechten Wege wandelt, warum wollen wir hier verweilen?«

Darauf gingen die beiden westwärts nach Dschou. Als sie am Ki-Berge ankamen, da war der König Wen schon gestorben und Wu hatte den Thron bestiegen. Da blieben sie, um den Geist des Hauses Dschou zu prüfen. Da sandte der König seinen jüngeren Bruder Dan zu Giau Go im Lande Sï-Ne. Er schloß einen Bund mit ihm unter folgenden Bedingungen: »Es soll dir dreifacher Reichtum verliehen werden, du sollst ganz in derselben Weise wie alle meine Beamten behandelt werden.«

Dreimal wurde derselbe Wortlaut aufgezeichnet und mit dem Blute der Schlachtopfer bestrichen. Die eine Urkunde wurde in Sï-Ne vergraben. Je eine erhielten die beiden Bundesschließenden.

Ferner sandte er den Großmeister Herzog Schau zu We Dsï Ki am Berge Gung Tou. Er schloß einen Bund mit ihm unter folgenden Bedingungen: »Für alle Zeit habe dein Geschlecht den Rang des ältesten Fürsten, es soll die Ahnenopfer des Hauses Yin ewig fortsetzen und die Ausführung der Sang-Lin-Musik übertragen bekommen. Zum Eigenbesitz sei dir Mong Dschu verliehen.«

Dreimal wurde derselbe Wortlaut aufgezeichnet und mit dem Blut der Schlachtopfer bestrichen. Die eine Urkunde wurde am Fuß des Gung-Tou-Berges vergraben, je eine erhielten die beiden Bundesschließenden.

Als Bo I und Schu Tsi davon hörten, da sahen sie einander an und lachten. Sie sprachen: »Ei, wie seltsam! Das ist nicht das, was wir unter dem rechten Weg verstehen. Als einst Schen Nung die Welt regierte, da wurden die regelmäßigen Opfer mit aller Ehrfurcht vollzogen, aber er betete nicht um Glück. Den Menschen gegenüber war er gewissenhaft und treu und sorgte für höchste Ordnung, aber er erstrebte sein Ziel nicht mit andern Mitteln. Weil er die Ordnung liebte, sorgte er für Ordnung, weil er das Recht liebte, sorgte er für Recht, aber er hat nicht die Verworfenheit von andern als Folie für seine Vollkommenheit, nicht die Gemeinheit der andern als Folie für seine Höhe benützt. Das Haus Dschou dagegen hat den Verfall und die Verwirrung des Hauses Yin gesehen[150] und führt nun die Regierung weiter in Ordnung und Recht. Man verläßt sich auf kluge Überlegungen und wendet Bestechungen an; man verläßt sich auf Waffengewalt, um sich Respekt zu verschaffen. Man schlachtet Opfertiere und schwört, um eine Sache glaubhaft zu machen, man braucht die Länder Sï-Ne und Gung-Tou, um sein Verhalten ins rechte Licht zu setzen. Man verbreitet Traumgeschichten18, um das Volk zu erfreuen. Man tötet und straft, um Vorteil zu erzwingen. Auf diese Weise setzt man die Sünden des Geschlechts Yin fort und tauscht gegen Unordnung Tyrannei ein. Wir haben gehört, daß die Männer des Altertums, wenn sie Zeitalter der Ordnung fanden, mit ihrer Kraft im Dienst des Ganzen nicht zurückgehalten haben, wenn sie dagegen in ungeordneten Zeiten lebten, nicht unter allen Umständen nur auf Fristung ihres Lebens bedacht waren. Nun ist die Welt in Finsternis, der Geist des Hauses Dschou im Verfall begriffen. Besser als mit Dschou zu leben und so uns selber in Schmach zu bringen, ist es, zu entfliehen, um unseren Wandel rein zu halten.«

So gingen die beiden nordwärts nach dem Schou-Yang-Berg und starben dort Hungers.

Es liegt in der Natur der Menschen, daß jeder etwas hat, das ihm wichtig, und etwas, das ihm unwichtig ist. Was man wichtig nimmt, will man vervollkommnen, was man unwichtig nimmt, auf dessen Kosten pflegt man das Wichtige. Bo I und Schu Tsi, die beiden Männer, verließen den Leib und warfen das Leben weg, um ihre Gesinnung durchzusetzen. Sie hatten zuvor entschieden, was ihnen wichtig und was ihnen unwichtig sei.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 149-151.
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