Nachwort[154] 22

Es war im achten Jahr der Dynastie Tsin, im Jahre Gün Tan23, im Herbst am Tage Gia Dsï am Neumond. Da fragte am Neumondstage ein Herr mich nach den Aufzeichnungen der zwölf Monate. Ich24 sprach: Ich habe seinerzeit gelernt, wodurch Huang Di den Dschuan Hü belehrt hat:


»Es gibt einen großen König in der Höhe,

Es gibt ein großes Geviert in der Tiefe,

Wenn du sie zum Muster nehmen kannst,

So bist du Vater und Mutter des Volks.«
[154]

Man hört, daß im Altertum in Zeiten der Ordnung Himmel und Erde zum Vorbild dienten. Die zwölf Aufzeichnungen für die verschiedenen Monate sind Aufzeichnungen über Ordnung und Verwirrung, Bestand und Untergang, man kann daraus erkennen die Ursachen langen Lebens und frühzeitigen Todes, des Heils und Unheils. Wenn man nach oben hin den Himmel erforscht, nach unten hin die Erde untersucht und in der Mitte das Wesen des Menschen zu beurteilen versteht, so kann über Recht und Unrecht, Möglichkeit und Unmöglichkeit kein Zweifel bestehen.

Der Himmel bezeichnet die ungehemmte Bewegung (Kraft). Die Bewegung bewirkt Zeugung. Die Erde bezeichnet das Feste (Stoff). Der Stoff bewirkt die Ruhe (Wirklichkeit). Den Menschen bezeichnet die Zuverlässigkeit, Zuverlässigkeit bewirkt Gehorsam. Diese drei Weltprinzipien wirken ohne zu handeln, ihr Wirken ist die Auswirkung ihrer inneren Gesetzmäßigkeit. Notwendigkeit der Wirkung ergibt sich daraus, wenn die innere Gesetzmäßigkeit befolgt und alle selbstischen Regungen unterdrückt werden. Wer sein Gesicht zu selbstischen Zwecken mißbraucht, wird blind; wer sein Gehör zu selbstischen Zwecken mißbraucht, wird taub; wer seine Gedanken zu selbstischen Zwecken mißbraucht, wird wahnsinnig. Auf allen drei Gebieten ist es so, daß, wenn der Egoismus den Geist beherrscht, die Erkenntnis nicht mehr unbefangen zu sein vermag. Ist die Erkenntnis nicht unbefangen, so sinken die Tage des Glücks, und die Tage der Qual steigen auf. Wenn man nach Mittag, wenn die Sonne die Mittagslinie überschritten hat, nach Westen blickt, so kann man das bestätigt finden.

Freiherr Siang von Dschau25 ritt in seinem Park spazieren. Als er an eine Brücke kam, da scheute sein Pferd und wollte nicht weiter. Tsing Ping lenkte den Wagen. Freiherr Siang sprach: »Geh einmal voraus und sieh nach, unter der Brücke scheint ein Mensch zu stecken.«

Tsing Ping ging voraus und sah nach, da war unter der Brücke Yü Yang, doch lag er und stellte sich tot. Er redete auf Tsing Ping ein: »Verlaß deinen Herrn, ich habe etwas mit ihm auszutragen.«

Tsing Ping sprach: »In der Jugend waren wir Freunde, wenn du[155] nun etwas Großes vorhast und ich verrate es, so verletze ich die Freundespflicht. Du willst meinem Herrn etwas zuleide tun. Wenn ich es ihm nicht sage, so verletze ich die Dienerpflicht. Für einen Menschen wie mich bleibt nichts übrig als zu sterben.«

Darauf zog er sich zurück und tötete sich. Tsing Ping starb nicht gerne, sondern er nahm es wichtig, die Treue eines Dieners nicht zu verletzen und die Freundespflicht nicht zu mißachten. Tsing Ping war wirklich ein guter Freund des Yü Yang26.

Fußnoten

1 Das Sternbild Wu Nü enthält zwei Sterne des Wassermanns, das Sternbild Lou enthält drei Sterne des Widders und das Sternbild Di enthält vier Sterne der Wage.


2 Vgl. oben 1. Wintermonat.


3 Da Lü (die große Flöte) ist eine weibliche Tonart.


4 Die dunkle Halle Hüan Tang ist der nach Norden gerichtete Flügel der Ming Tang, das rechte Gemach ist das am weitesten östliche.


5 Am Vorabend des neuen Jahres wurde der große Exorzismus (Da No) vollführt. Man schlug die Trommeln, um den Pestgeist auszutreiben. In Dschou Li steht über die Bräuche dabei folgendes: Man nimmt ein Bärenfell um, auf dem vier goldene Augen sind, man trägt dunkle Oberkleider und rote Unterkleider, hält einen Speer in der Hand und schwingt einen Schild; so führt man die Sklaven zum Exorzismus durch die Straßen, um den Pestgeist zu vertreiben. Man schlachtet Hunde und Schafe und streut ihre Glieder nach allen vier Himmelsrichtungen, um so den Winter zu verabschieden. Der irdene Ochse wird am Tage des Frühlingsanfangs hinausgeführt, um die Leute zum Pflügen zu ermahnen. Vgl. Lun Yü X, 10.


6 Diese »Heiligen« sind verdienstvolle Beamte früherer Zeiten, die durch ihre Werke sich nach dem Tode göttlichen Rang verdient haben, wie z.B. Yü oder Hou Dsi. Sie stehen nun im Dienst der fünf höchsten Götter (Di), die über den Elementen walten.


7 Die kaiserliche Domäne wurde in hundert Kreise eingeteilt, die in vier Bezirke zusammengefaßt wurden, an deren Spitze je ein Hoher Rat als Aufsichtsbeamter stand.


8 Aus Li Gi ergänzt.


9 Die zwölf Tierkreisbilder endigen mit dem Kuhhirten, wohin die Sonne in diesem Monat kommt. Der Mond läuft die 28 Mondhäuser zu Ende und die Sternbilder beginnen der Reihe nach wieder im Süden aufzutauchen.


10 sc. den Kalender.


11 Die Lehensfürsten, um die es sich hier handelt, sind die, welche aus einer anderen Familie stammen als der kaiserlichen.


12 Der Kommentar identifiziert hier den höchsten Himmelsgott mit den fünf Herrschern. Die Gottheit des Erdaltars ist Hou Tu, der Herr Erde, diesen Platz hat Gou Lung inne. Die Gottheiten des Kornes Hou Dsi sind die Feldgottheiten, die Inhaber dieser Götterstellen sind der Sohn des Liä Schan, namens Gui, und der Ahnherr des Geschlechts Dschou, namens Ki.


13 Zwei Arten von Opfertieren sind genannt: solche, die sich von Gras nähren, und solche, die sich von Körnern nähren, Schweine und Hunde.


14 Dieser Satz, der keinen Sinn ergibt, fehlt in Li Gi. Er scheint wohl irgendwie in den Text eingedrungen zu sein.


15 Yän Dsï Tschun Tsiu 6; Schuo Yüan 5.


16 Dso Dschuan Herzog Hi 28. Jahr; Schuo Yüan 6, Sin Sü 7.


17 Vgl. dazu eine ähnliche Geschichte bei Mong Dsï Buch III B 10.


18 Gemeint ist die Erzählung vom Traum der Mutter des Königs Wu, daß der junge Knabe im Hofe des Hauses Yin, wo Dornen und Disteln gewachsen, einen Zypressenbaum gepflanzt habe: ein Omen für die Herrschaft des Geschlechts Dschou.


19 Graf Dschï Bo verstand den Yü Yang, Mong Tschang Gün verstand den Gung Sun Hung. Darum haben diese beiden ihren Herren große Dienste geleistet.


20 Dschan Guo Tse 6.


21 Dschan Guo Tse 4.


22 Das Nachwort vom ganzen Buch steht nach chinesischem Brauch hier am Schluß des ersten Teils. In alter Zeit wurden nämlich keine Vorworte, sondern Nachworte geschrieben, vgl. Dschuang Dsï. Vgl. auch Einleitung.


23 Die Berechnung der Jahreszyklen hat ihre Schwierigkeiten. Die Kommentare sind sich nicht darüber klar, ob es Gong Schen oder Sin Yu war.


24 Im Text bezeichnet sich Lü Bu We mit seinem Titel Wen Sin Hou, den er als Lehensmann von Lo Yang führte.


25 Der hier folgende Abschnitt gehört nicht in den Zusammenhang. Er scheint aus dem vorherigen Abschnitt XII, 5 hierher versprengt zu sein.


26 Eine der seltenen Stellen in der chinesischen Literatur mit tragischem Problem.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 154-156.
Lizenz:

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