2. Kapitel
Hochhalten der Gerechtigkeit / Gau I

[320] Der Edle benimmt sich so, daß jede Bewegung der Gerechtigkeit entspringt, und jede Tat Gerechtigkeit verwirklicht. Dann mögen ihn die gewöhnlichen Menschen als erfolglos bezeichnen, er ist dennoch erfolgreich. Wenn eines Menschen Taten nicht die Gerechtigkeit verwirklichen und seine Bewegungen nicht der Gerechtigkeit entspringen, dann mögen ihn die gewöhnlichen Menschen für erfolgreich halten, er ist dennoch erfolglos. Was der Edle für Erfolg oder Mißerfolg hält, ist verschieden von dem, was die gewöhnlichen Menschen dafür halten. Darum wenn sein Verdienst einer Belohnung entsprechend ist, nimmt er sie an, wenn sein Vergehen einer Strafe entsprechend ist, so läßt er sie sich gefallen. Wenn eine Belohnung unverdient ist, so nimmt er sie nicht an, auch wenn sie ihm angeboten wird. Wenn er eine Strafe verdient hat, so nimmt er sie auf sich, selbst wenn man sie ihm erlassen wollte.

Vom Standpunkt eines Staates aus gemessen sind solche Männer von dauerndem Gewinn. Wenn sie dauernd um einen Herren sind, so muß er notwendig in sich gehen. Und nur wenn er kein schlechtes Gewissen hat, kann er handeln.

Meister Kung trat vor Herzog Ging von Tsi5. Herzog Ging wollte ihm die Einkünfte des Gebiets von Lin Kiu zum Lebensunterhalt verleihen. Meister Kung lehnte es ab. Heimgekehrt sprach er zu seinen Jüngern: »Ich habe gehört, der Edle nimmt Bezahlung nur an, wenn sie seinen Leistungen entspricht. Ich habe den Herzog Ging beraten. Er hat meinen Rat noch nicht ausgeführt und will mir Lin Kiu verleihen, das zeigt, daß er mich durchaus nicht kennt.« Darauf befahl er seinen Jüngern rasch anzuspannen, dann verabschiedete er sich und ging.

Meister Kung war ein einfacher Gelehrter, in Lu hatte er es nur bis zum Oberrichter gebracht und doch konnte sich selbst der Herr des Weltreiches schwerlich mit seinem Wandel messen, und selbst die Berater der ersten drei Dynastien waren nicht herrlicher als er; denn er warf sich beim Nehmen und Geben nicht weg.[321]

Meister Mo Dsï hieß seinen Jünger Gung Schang Go nach Yüo reisen6. Gung Schang Go erzählte dem König von Mo Dsï's Lehren. Der König von Yüo war damit einverstanden und sagte zu Gung Schang Go: »Wenn dein Meister gewillt ist, nach Yüo zu kommen, so will ich ihm von dem alten Gebiet von Wu das Ufer des Flusses Yin, das 300 Gemeinden zählt7, als Einkommen verleihen.«

Gung Schang Go kehrte zurück und berichtete es dem Meister Mo Dsï. Meister Mo Dsï sprach: »Bist du der Ansicht, daß der König von Yüo fähig ist, meine Worte zu hören und meine Lehren anzuwenden?« Gung Schang Go sprach: »Vermutlich ist er noch nicht so weit.«

Mo Dsï sprach: »Nicht nur der König von Yüo kennt meinen Sinn nicht, selbst du kennst meinen Sinn noch nicht. Wenn der König von Yüo auf meine Worte hört und nach meinen Lehren handelt, so bin ich zufrieden, wenn ich Nahrung und Kleidung habe und als Gast Untertan bei ihm sein kann, ohne ein Amt zu begehren. Wenn der König von Yüo nicht auf meine Worte hört, und nicht nach meinen Lehren handelt, so kann er mir ganz Yüo schenken und ich kann doch nichts mit ihm anfangen.

Wenn der König von Yüo meine Worte nicht hört und sich nicht nach meinen Lehren richtet und ich nehme ein Lehen von ihm an, so habe ich meine Gerechtigkeit verkauft. Wenn ich meine Gerechtigkeit verkaufen will, was brauche ich dazu nach Yüo zu gehen, das kann ich hier im Mittelreich auch.«

Die Leute muß man sorgfältig beurteilen. Die Bauern von Tsin kommen oft um kleinen Vorteils willen mit ihren Brüdern in Prozesse und mit ihren Verwandten in Unfrieden. Mo Dsï nun hätte einen Staat bekommen können und verzichtete darauf, weil er fürchtete, es könne seiner Gerechtigkeit Eintrag tun: das zeigt, daß er seine Tugend ganz anders zu wahren verstand als die Bauern von Tsin.

Der Staat Tschu stand im Krieg mit Wu. Die Soldaten von Tschu waren in der Minderzahl, die von Wu in der Mehrzahl. Da sprach Dsï Nang, der Feldherr von Tschu: »Wenn ich mit Wu kämpfe, werde ich sicher besiegt. Wenn ich das Heer des Königs einer[322] Niederlage zuführe, so bringe ich dadurch Schande auf den Namen des Königs und schädige das Land. Das bringe ich als treuer Beamter nicht über mich.«

Infolge davon zog er sich zurück ohne dem König Meldung gemacht zu haben. Als er auf dem Anger vor der Stadt angekommen war, sandte er einen Boten an den König und bat um die Erlaubnis sich töten zu dürfen. Der König sprach: »Ihr habt Euch zurückgezogen, weil es Vorteil brachte. Nun hat es wirklich Vorteil gebracht, weshalb wollt Ihr euch töten?« Dsï Nang sprach: »Wenn auf dem Rückzug keine Strafe liegt, dann werden in Zukunft Eure Offiziere alle Unvorteilhaftigkeit vorschützen und mir nachmachen sich zurückzuziehen. Auf diese Weise wird schließlich der Staat Tschu zum schwächsten auf Erden.« Mit diesen Worten stürzte er sich in sein Schwert und tötete sich.

Der König sprach: »Ich will die Gerechtigkeit des Feldherrn vollmachen.« Darauf gab er ihm einen dünnen, nur drei Zoll starken Sarg aus Sterkulienholz und legte Beil und Block darauf8.

Das Unglück der Fürsten besteht darin, daß solange sie bestehen, sie nicht wissen, worauf ihr Bestand beruht, wenn sie untergehen, nicht wissen, wodurch ihr Untergang herbeigeführt wird. Darum kommt Bestehen und Untergang in dauerndem Wechsel.

Der Aufschwung von We9 und Ki, der Anschluß sämtlicher Staaten an diese Dynastien, entsprang solchen Verhältnissen. Tschu bestand 42 Generationen lang, und wurde betroffen von den Unruhen zu Gan Hi und des Herzogs von Bo, und die Flucht von den Feldherrn Dschong Siang und Dschou Hou von Dsin. Und heut ist es trotzdem ein Großstaat mit 10000 Kriegswagen, weil es seinerzeit Beamte hatte wie Dsï Nang und andere, die ebenso treu waren wie Dsï Nang; nicht das Verdienst einer einzigen Generation hat das zustande gebracht.

Zur Zeit des Königs Dschau von Tschu10 gab es einen Staatsmann namens Schï Du, der von Natur gerecht und ohne Selbstsucht war. Der König trug ihm Regierungsgeschäfte auf. Da kam auf der Straße ein Mord vor. Schï Du ließ den Mörder verfolgen,[323] da war es sein eigener Vater. Er wandte seinen Wagen und kehrte zurück. Er trat vor den König und sprach: »Der Mörder ist mein Vater. Ich bringe es nicht über mich, an meinem Vater die gesetzliche Strafe zu vollziehen. Einen Schuldigen in Schutz zu nehmen und so das Staatsgesetz zunichte zu machen, geht auch nicht. Wenn ein Beamter sich gegen das Gesetz verfehlt hat, so ist es seine Pflicht die Strafe zu erdulden.« Darauf kniete er vor dem Schaffot nieder und bat um seine Hinrichtung.

Der König sprach: »Daß Du den Täter bei der Verfolgung nicht eingeholt hast, ist kein strafwürdiges Vergehen, geh nur wieder an Deine Arbeit.«

Schï Du lehnte ab und sprach: »Wer nicht für seinen Vater eintritt, ist kein ehrfürchtiger Sohn; wer im Dienst des Fürsten das Recht beugt, ist kein treuer Beamter. Daß der König ihm verzeiht, ist seine Gnade. Daß aber der Beamte nicht die Gesetze außer Kraft treten läßt, ist seine Tugend.«

Darauf verließ er das Schaffot nicht eher, bis im Hofe des Königs sein Haupt gefallen war. Weil er das Gesetz beugte, das ihm hochzuhalten aufgetragen war, wollte er unter allen Umständen sterben; da es sein Vater war, der das Gesetz übertreten hatte, brachte er es nicht über sich, ihn zu bestrafen. Als der König ihm verzeihen wollte, nahm er es nicht an. So zeigte sich Schï Du als treuer Beamter und als guter Sohn.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 320-324.
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