4. Kapitel
Verwendung des Volks / Yung Min

[328] Bei der Verwendung des Volks ist die beste Methode, durch die Pflicht zu wirken, die nächste, durch Lohn und Strafe zu wirken. Wenn die Pflicht nicht ausschlaggebend ist, so bringt man die Leute nicht dazu, daß sie zum Sterben bereit sind; wenn Lohn und Strafe nicht genügend verteilt werden, so bewirken sie nicht, daß das Volk etwas tut oder unterläßt. Unter solchen Umständen aber hat es weder in alter noch in neuer Zeit jemand gegeben, der sein Volk hätte benützen können. Es gibt keine festen Regeln darüber, wie man ein Volk benützen darf und so gibt es auch keine festen Regeln darüber, wie man es nicht benützen darf; es kommt alles darauf an, daß man die rechte Art hat.

Ho Lü von Wu hatte nur 30000 Mann zu seiner Verfügung. Wu Ki hatte nur 50000 Mann zur Verfügung. Großstaaten, die 30–50000 Mann aufbringen können, gibt es viele, und doch können sie nach außen nicht die Feinde abhalten, im Innern nicht ihr eignes Reich bewahren. Nicht, daß ihre Untertanen nicht zu gebrauchen wären: sie verstehen es nicht, wie sie gebraucht werden müssen; was hilft es dann, wenn der Staat groß ist, die Lage günstig und die Krieger zahlreich? Seit alter Zeit gab es viele Weltherrscher, die zugrunde gingen, weil sie es nicht verstanden, ihre Untertanen zu benützen. Darum muß man die Theorien der Verwendung des Volkes sorgfältig beachten. Ein Schwert schlägt nicht allein zu, ein Wagen läuft nicht von selbst, es bedarf eines, der sie dazu veranlaßt. Sät man Weizen, so erntet man Weizen; sät man Hirse, so erntet man Hirse: darüber wundert sich kein Mensch. Beim Gebrauch des Volkes kommt es auch darauf an, was man sät. Es gibt keine größere Verblendung als achtlos zu sein im Säen und dann doch zu hoffen, daß man sein Volk verwenden könne.

Zur Zeit des Yü gab es 10000 Staaten auf Erden. Zur Zeit des Tang gab es noch über 3000 Staaten. Heute besteht keiner von ihnen mehr. Denn alle verstanden es nicht, ihre Untertanen zu benützen. Daß das Volk nicht benützt werden kann, kommt davon, daß Lohn und Strafe nicht ihr volles Gewicht haben. Tang und[329] Wu stützten sich auf die Untertanen von Hia und Schang, denn sie wußten es, wie man die Leute verwenden muß. Guan Dschung und Schang Yang stützten sich auf die Leute von Tsi und Tsin, weil sie auch wußten, wie man die Leute verwenden muß. Die Verwendung der Leute beruht auf bestimmten Bedingungen. Kennt man die Bedingungen, so gibt es niemand, der nicht gebraucht werden könnte. Mit der Verwendung des Volks verhält es sich wie mit einem Netz, das durch ein Hebeseil und ein Verschlußtau reguliert wird. Sowie man am Hebeseil zieht, so geht das ganze Netz mit all seinen Maschen in die Höhe; sowie man am Verschlußtau zieht, so dehnen sich alle Maschen aus. Worin besteht nun dieses Hebeseil und Verschlußtau bei einem Volk? Es ist Liebe und Haß. Was lieben sie? Was hassen sie? Sie lieben Ehre und Nutzen und hassen Schande und Schaden. Schande und Schaden sind der Grund, daß die Strafen das rechte Gewicht bekommen. Ehre und Nutzen sind der Grund, daß die Belohnungen das rechte Gewicht bekommen. Wenn Strafen und Belohnungen alle gerecht und wirksam sind, so gibt es kein Volk, das sich nicht verwenden ließe.

Ho Lü übte seine Leute inmitten der fünf Seen. Sie schlugen sich alle mit den Schwertern an die Schultern, daß das Blut auf die Erde floß und ließen sich fast nicht mehr zurückhalten. Gou Dsiän übte seine Leute in Tsin Gung, die Leute stürzten sich um die Wette ins Wasser und Feuer, so daß über 1000 verunglückten. Man mußte mit dem Becken das Zeichen zum Aufhören geben. Das kam daher, weil Lohn und Strafe ihr Gewicht hatten.

Ein Mo-Yä-Schwert wird nicht schärfer in der Hand eines Tapferen oder stumpfer in der Hand eines Feigen, und doch erreicht ein Tapferer etwas damit, während ein Feiger nichts zustande bringt: das kommt, weil der eine etwas kann, der andre nicht.

Die Leute von Su Scha bekämpften ihren eigenen Fürsten und schlossen sich an Schen Nung an. Die Leute von Mi Hu fesselten ihren Herrn und lieferten ihn an König Wen aus. Tang und Wu verstanden es, nicht nur ihre eignen Leute zu gebrauchen, sie vermochten auch Leute zu gebrauchen, die nicht ihre eignen waren.[330] Wenn man Leute gebrauchen kann, die nicht die eignen sind, so kann man sich einen berühmten Namen machen, auch wenn der Staat klein und die Krieger wenig sind. In alter Zeit kam es häufig vor, daß einer, der aus der Mitte der geringen Leute hervorging, sein ganzes Zeitalter in Ordnung bringen konnte: sie alle vermochten Leute zu gebrauchen, die nicht ihre Untertanen waren. Die rechte Gesinnung, die es versteht auch Leute, die nicht die eigenen Untertanen sind, zu gebrauchen, beruht darauf, daß man es nicht unterläßt, die Verhältnisse sorgfältig zu prüfen. Die Methoden der drei ersten Dynastien bestanden in nichts anderem, als daß sie die Zuverlässigkeit zu ihrer Richtschnur machten.

Ein Mann aus Sung war auf Reisen. Sein Pferd ging nicht voran. Da schlug er es tot und warf es in den Fluß Gi. Dann reiste er weiter, und wieder wollte sein Pferd nicht voran. So schlug er auch das zweite tot und warf es in den Fluß Gi. So machte er es drei mal. Mehr konnte auch ein Dsau Fu nicht die Pferde in Furcht setzen. Wenn man aber nicht die Geschicklichkeit des Dsau Fu hat und nur seine Einschüchterungsmittel, so hilft es gar nichts zum Wagen fahren. Den Untüchtigen unter den Herrschern geht es gerade so: sie verstehen nicht die Art mit den Menschen umzugehen, sondern wenden nur Abschreckungsmittel an. Je mehr sie das Volk einschüchtern, desto weniger ist das Volk zu gebrauchen. Herrscher, die ihre Staaten einbüßten, taten es meist deshalb, weil sie durch Einschüchterung ihre Leute benutzen wollten. Ganz ohne Einschüchterung kann man nicht auskommen, aber sie ist nicht genügend, daß man sich allein auf sie verlassen könnte. Es ist so wie das Salz als Würze dient. Das Salz kann nur als Zutat gebraucht werden. Wenn es nicht richtig angewandt ist, so verdirbt es die Speisen, denen es beigefügt wird und macht sie ungenießbar. Mit der Furcht verhält es sich ebenso, sie darf auch nur als Zutat benützt werden, um zu wirken. Wozu soll sie als Zutat dienen? Zur Liebe und Bereicherung des Volkes. Wenn die Gesinnung der Liebe zum Volk und der Wunsch, ihm zu nützen, am Tage liegen, so läßt sich auch durch Furcht wirken. Wenn das Volk zu sehr eingeschüchtert wird, so wird dadurch die Liebe zum Volk[331] und das Sorgen für seine Wohlfahrt erstickt. Wenn die Liebe und Sorge für die Wohlfahrt erstickt sind und man nur mit aller Macht auf Einschüchterung aus ist, so gerät man sicher in Fehler. Das war die Ursache, weshalb Yin und Hia zugrunde gingen. Der Fürst hat den Vorteil der Macht, er kann Ämter austeilen. Wenn er den Vorteil der Macht festhält und das Recht, Ämter zu verteilen, nicht aus der Hand lassen will, so darf er diese Gesichtspunkte nicht außer acht lassen. Nur wer diese Abhandlung vollkommen durchschaut, bringt es fertig, daß seine Leute ohne Beschränkung in ihren Schranken bleiben.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 328-332.
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