5. Kapitel
Die richtige Würde / Schï We

[332] Die alten Könige verwandten ihre Leute wie man gute Pferde lenkt: man mutet ihnen nicht viel zu und erneuert ihre Kraft durch Beschränkung. Wenn sie auch laufen möchten, so dürfen sie nicht. Darum kann man mit ihnen 1000 Meilen weit kommen. Wer seine Leute zu verwenden versteht, macht es ebenso. Die Leute bitten Tag und Nacht verwendet zu werden und erreichen es nicht. Wenn sie es dann erreichen von ihrem Herrn verwendet zu werden, strömen die Leute herbei, wie wenn man aufgestautem Wasser einen Abfluß eröffnet, von dem es 1000 Klafter herunterstürzt: wer kann ihm widerstehen?

In den Büchern von Dschou13 heißt es: »Wen seine Leute für gut halten, den ernähren sie, mit wem seine Leute nicht zufrieden sind, dem sind sie feind. Statt Feinde zu haben in großer Zahl, wäre es besser, gar keine Untertanen zu haben. König Li war Großkönig. Aber seiner Feinde waren viel, darum mußte er nach Dschï fliehen. Und seine Söhne und Enkel wurden vom Unheil erreicht. Wenn es nicht den Herzog Hu von Schau gegeben hätte, so wären seine Enkel ausgerottet worden. Die Herren von heutzutage sind meist auf zahlreiche Untertanen aus, aber sie verstehen es nicht, gut mit ihnen auszukommen, so machen sie nur ihre Feinde zahlreich. Wenn sie mit ihren Untertanen nicht gut auskommen, so ist es eben so, als hätten sie sie nicht. Wer seine Leute[332] besitzen will, muß notwendig ihr Herz gewinnen, das heißt, er muß ihre Liebe haben. Der bloße Besitz ihres Leibes ist kein wirklicher Besitz.

Schun war ein Mann aus dem Volk und kam in Besitz des Weltreichs. Giä war Großkönig und fand seine Ruhe nicht, das kam davon her. Diese Theorie des Besitzes verdient eine genaue Untersuchung. Tang und Wu verstanden diese Theorie, darum machten sie sich durch ihre Werke einen Namen. Die berühmten Fürsten der alten Zeit regierten durch Liebe und Pflicht, befriedigten durch Sympathie und Nutzen und leiteten durch Gewissenhaftigkeit und Treue. Sie waren darauf aus, das Unglück des Volkes zu beseitigen und sein Glück zu fördern. Darum verhielten sich die Leute zu ihren Herrschern wie das Wachs zum Siegel: drückt man ein viereckiges Siegel darauf, so wird es viereckig, drückt man ein rundes darauf, so wird es rund; oder wie die Getreidearten zum Boden, entsprechend seiner Art vermehren sie sich hundertfältig. Das war der Grund, warum die fünf Herrscher und drei Könige keinen Gegner hatten. Selbst nach ihrem Tode hinterließen sie auf die nachfolgenden Ge schlechter noch einen Eindruck von göttlicher Macht, denn sie verstanden sich auf die Behandlung der Menschen.

Der Fürst Wu von Liang We14 weilte in Dschung Schan. Er fragte den Li Ko: »Woher kommt es, daß der Staat Wu zugrunde ging?« Li Ko sprach: »Er war beständig in Kriege verwickelt und siegte beständig.«

Der Fürst Wu sprach: »Dauernd kriegen und dauernd siegen ist das Glück eines Staates. Woher kommt es, daß einer dadurch zugrunde geht?« Er erwiderte: »Wenn man dauernd Kriege führt, so wird das Volk erschöpft, wenn man dauernd siegt, so wird der Herrscher stolz. Ein stolzer Herrscher, der über ein erschöpftes Volk regiert und seinen Staat dadurch nicht zugrunde richtet, ist selten auf der Welt. Wer stolz ist, wird leichtsinnig; wer leichtsinnig ist, kennt keine Grenzen in seinem Begehren. Durch Erschöpfung entsteht Groll. Ein Volk, das Groll hegt, kennt keine Grenzen in seinen schlimmen Gedanken. Da nun Fürst und Volk[333] beide die Grenzen überschritten hatten, so ist es nur zu verwundern, daß Wu so spät erst zugrunde ging. Das war die Ursache, daß Fu Tschai sich in Gan Sui selbst ums Leben brachte.

Dung Yä Dsï15 bot sich dem Herzog Dschuang von Lu als Wagenlenker an. Vorwärts und rückwärts ging es nach der Schnur. Rechts und links ging es nach dem Zirkel.

Herzog Dschuang sprach: »Gut. Auch Dsau Fu konnte es nicht besser.« Er ließ ihn hundert Pferde einschätzen auf ihre Leistungsfähigkeit, aber die wenigsten erreichten das Maß.

Yän Ho trat vor den Herzog.

Der Herzog Dschuang sprach: »Seid Ihr dem Dung Yä Dsï schon begegnet?« Jener erwiderte: »Ja, ich bin ihm begegnet. Seine Pferde werden sicher zusammenbrechen.« Herzog Dschuang sprach: »Wie sollten sie zusammenbrechen?«

Kurz danach kam Dung Yä Dsï mit zusammengebrochenen Pferden an. Herzog Dschuang ließ Yän Ho rufen und fragte ihn: »Woher wußtet Ihr, daß er zusammenbrechen würde?«

Yän Ho erwiderte: »Er konnte nach der Schnur vorwärts und rückwärts, nach dem Zirkel rechts und links, so daß auch ein Dsau Fu es nicht besser hätte machen können. Als ich ihm begegnete, sah ich, daß er noch immer seine Pferde beanspruchte, daher wußte ich, daß seine Pferde zusammenbrechen würden.«

So gebrauchen auch die Verderber ihrer Staaten ihre Untertanen ohne Rücksicht auf die Natur der Menschen, ohne Überlegung der menschlichen Gefühle.

Sie machen ihre Belehrungen zahllos und rechnen Unkenntnis als Fehler an; sie mehren ihre Befehle immerzu und verurteilen die, die ihnen nicht nachkommen. Sie vergrößern die Gefahren und bestrafen die, die sie nicht zu bestehen wagen. Sie erschweren die Verantwortung und lassen die, die ihr nicht gewachsen sind, büßen. Wenn die Leute vorangehen, so hoffen sie auf Belohnung, wenn sie zurückhalten, so fürchten sie die Verurteilung16. Sie wissen, daß ihre Kraft nicht ausreicht, dennoch können sie vielleicht das vorgeschriebene Ziel erreichen, doch wenn sie es erreichen, so weiß es der Fürst und verfolgt sie noch weiter mit Strafen. So[334] lockt man durch Bestrafung die Übertretungen hervor. Daher kommt es dann, daß Vorgesetzte und Untertanen sich hassen. Wenn die Sittenregeln zu zahlreich sind, so kann man sie nicht richtig erfüllen. Wenn die Arbeiten zu zahlreich sind, so kann man sie nicht zustande bringen. Wenn die Befehle zu häufig sind, so werden sie nicht mehr gehört. Wenn der Verbote zu viel sind, so werden sie nicht mehr beachtet.

Die Verbote eines Giä und Dschou Sin waren zahllos, dadurch kamen die Untertanen in Hilflosigkeit, und sie selbst gerieten in Gefangenschaft. Zu diesem Äußersten kamen sie, weil sie nicht die richtige Würde hatten.

Dsï Yang von Dschong war zu hart und streng. Als daher einer seiner Diener einen Bogen zerbrochen hatte, fürchtete er, daß er dafür hingerichtet werden würde. Darum ließ er jenen tollen Hund herein, bei dessen Verfolgung Dsï Yang getötet wurde17.

Unter den Dreifüßen von Dschou war einer, der war ganz schief; seine Form war sehr hoch, aber oben und unten war er schief, um anzudeuten, daß durch Übertreibung Mißerfolg kommt.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 332-335.
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