7. Kapitel
Wert der Zuverlässigkeit / Gui Sin

[338] Ein Fürst braucht Zuverlässigkeit. Wer zuverlässig und immer wieder zuverlässig ist, dem fallen alle zu. So heißt es in einer Urkunde von Dschou: Wahrlich, wahrlich, wenn die Worte nicht zuverlässig sind, so kommt nichts zustande. Darum ist die Wirkung[338] der Zuverlässigkeit groß. Wenn Zuverlässigkeit herrscht, so kann man mit bloßen Worten lohnen. Wenn man mit bloßen Worten belohnen kann, so ist alles Gebiet zwischen den sechs Polen unsre Schatzkammer. Soweit die Zuverlässigkeit herrscht, läßt sich alles beherrschen. Was man beherrschen kann und nicht gebraucht, das geht in den Besitz von andern über. Was man beherrschen kann und gebraucht, das ist unser eigener Besitz. Wenn sie unser Besitz sind, so können wir alle Dinge in Himmel und Erde benützen. Ein Herrscher, der diese Lehre einsieht, wird in kurzem die Weltherrschaft erringen. Ein Beamter, der diese Lehre versteht, ist geeignet, der Gehilfe eines Weltherrschers zu werden. Wäre der Lauf des Himmels nicht zuverlässig, so käme das Jahr nicht zustande. Wäre der Lauf der Erde nicht zuverlässig, so könnten die Pflanzen nicht wachsen. Die Natur des Frühlings ist windiges Wetter. Wäre der Wind nicht zuverlässig, so würden die Blüten nicht befruchtet. Würden die Blüten nicht befruchtet, so würden die Früchte nicht reifen. Die Natur des Sommers ist die Hitze, wäre die Hitze nicht zuverlässig, so könnte die Erde das Wachstum nicht fördern. Könnte die Erde das Wachstum nicht fördern, so würden die Feldfrüchte keinen Samen bringen. Die Natur des Herbstes ist Regen. Wäre der Regen nicht zuverlässig, so würde das Korn nicht stark, so würde das Getreide nicht reif. Die Natur des Winters ist Kälte, wäre die Kälte nicht zuverlässig, so würde die Erde nicht hart. Wäre die Erde nicht hart, so könnten die Fesseln des Eises sich nicht lösen19. So groß Himmel und Erde ist, so schöpferisch die Jahreszeiten sind, können sie doch ohne Zuverlässigkeit nicht die Dinge hervorbringen, wie viel mehr ist sie bei menschlichen Angelegenheiten von nöten!

Wenn Fürst und Beamte nicht zuverlässig verbunden sind, so gibt es im Volk üble Nachrede, und die Sicherheit des Staates kommt in Gefahr. Wenn die Beamten nicht zuverlässig sind, so scheut die Jugend nicht das Alter, und Vornehm und Gering verachten einander. Wenn Lohn und Strafe nicht zuverlässig sind, so übertritt das Volk leicht die Gesetze, und man kann es nicht zum Gehorsam gegen die Befehle bringen. Wenn Freunde nicht zuverlässig[339] sind, so kommen sie auseinander, hegen geheimen Groll gegeneinander und können miteinander nicht verbunden bleiben.

Wenn die Handwerker nicht zuverlässig sind, so werden die Geräte schlecht und gefälscht, Zinnober, Lack und die übrigen Farben werden nachgeahmt. Die Zuverlässigkeit ist es, mit der man beginnen kann und enden kann, mit der man in Ehre und Erfolg, in Niedrigkeit und Mißerfolg auskommen kann. Zuverlässigkeit und immer wieder Zuverlässigkeit, die wie ein doppeltes Gewand die Brust umgibt, reicht in ihren Wirkungen bis zum Himmel. Wenn man auf diese Weise die Menschen regiert, so fällt fetter Regen und süßer Tau, Kälte und Hitze und alle Jahreszeiten kommen zu ihrer Zeit.

Herzog Huan von Tsi griff Lu an20. Der Fürst von Lu wagte nicht leichthin den Kampf, so räumte er das ganze Gebiet außerhalb einer Zone von 50 Li um die Hauptstadt. Lu bat, daß ihm die Herrschaft in dem Gebiet von Lu zugestanden werde, so werde er sich unterwerfen. Der Herzog Huan gestand es zu21. Tsau Hui sprach zu Herzog Dschuang von Lu: »Möchtet Ihr lieber sterben und nochmals sterben oder leben und nochmals leben?« Herzog Dschuang sprach: »Was heißt das?« Tsau Hui sprach: »Wenn Ihr auf meine Worte hört, so wird Euer Reich groß und Eure Person in Friede und Freude kommen, das heißt leben und nochmals leben. Wenn Ihr nicht auf meine Worte hört, so wird Euer Reich verwüstet werden und Eure Person in Gefahr und Schande kommen, das heißt sterben und abermals sterben.«

Herzog Dschuang sprach: »Ich will dir folgen.« Am Tage darauf, als der Bund beschworen werden sollte, da streckten Herzog Dschuang und Tsau Hui beide ein Schwert zu sich und nahten so dem Altar. Herzog Dschuang packte mit der Linken den Herzog Huan und mit der Rechten zog er das Schwert und kehrte es gegen sich selbst und sprach: »Früher war die Haupstadt von Lu mehrere Hundert Li von der Grenze entfernt, jetzt ist sie nur noch 50 Li entfernt. Da kann ich nicht mehr bestehen, und auf alle Fälle droht mir der Tod, so will ich mich hier gleich auf der Stelle töten.

Guan Dschung und Bau Schu eilten herbei. Da ergriff Tsau[340] Hui sein Schwert und stellte sich zwischen die beiden Treppen und sprach: »Die beiden Fürsten sind im Begriff ihre Abmachungen zu ändern, da hat sich sonst niemand darein zu mischen.«

Herzog Dschuang sprach: »Legt den Fluß Wen als Grenze fest, so mag es gehen. Sonst will ich sterben.«

Guan Dschung sprach: »Das Land dient zum Schutz des Fürsten, nicht der Fürst zum Schutz des Landes, sagt es ihm zu.« Darauf wurde die Grenze südlich vom Fluß Wen festgesetzt. So wurde die Sache auch beschworen. Als Herzog Huan zurückgekehrt war, da wollte er das Gebiet nicht herausgeben.

Aber Guan Dschung sprach: »Das geht nicht. Wenn die andern Euch durch Einschüchterung zwangen und Ihr es nicht gemerkt habt, so kann man das nicht weise nennen. Als Ihr Euch in der Gefahr befandet, hattet Ihr nicht den Mut des Widerspruchs. Das kann man nicht tapfer nennen. Nachdem Ihr etwas versprochen, es nicht hergeben zu wollen, das kann man nicht zuverlässig nennen. Wer weder weise, noch tapfer, noch zuverlässig ist, der kann keinen Namen und Werke hinterlassen. Gebt es ihnen. Habt Ihr auch das Land verloren, so habt Ihr doch die Zuverlässigkeit gewonnen. Wenn Ihr um 400 Li Land den Namen eines zuverlässigen Mannes auf der Welt gewonnen habt, so schneidet Ihr immer noch gut ab. Herzog Dschuang ist unser Feind, Tsau Hui ist ein Verbrecher. Wer selbst Feinden und Verbrechern gegenüber zuverlässig ist, wieviel mehr wird er es andern gegenüber sein.«

Daß Herzog Huan neunmal die Fürsten vereinigen konnte und sie kamen, daß alle zumal auf ihn hörten, als er einmal das Haus Dschou rettete, kam eben davon her. Guan Dschung kann man als jemand bezeichnen, der es verstand, die Dinge auf ihre Folgen zu prüfen. Er hat aus Beschämung Ehre, aus Verlegenheit Erfolg gemacht. Obwohl zunächst ein Verlust da war, kam nachher ein Gewinn daraus. Da zeigt sich, daß man nicht alles zugleich haben kann.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 338-341.
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