3. Kapitel
Herablassung den Würdigen gegenüber / Hia Hiän

[213] Staatsmänner, die im Besitz der Wahrheit sind, sind allerdings erst stolz gegen die Herrscher. Untaugliche Herrscher sind aber auch stolz gegen die Staatsmänner, die im Besitz der Wahrheit sind. Wenn sie einander aber immer so stolz behandeln, wie[213] wollen sie da zusammenkommen? Es ist wie mit den Anhängern des Kung und des Mo, die einander verurteilen, wie mit den Staaten Tsi und Tschu, die einander zu unterwerfen suchten. Ein tüchtiger Herrscher macht das aber nicht so. Wenn ihn ein solcher Staatsmann auch stolz behandelt, so ist er selbst nur um so höflicher gegen ihn, wie könnte jener es dann auf die Dauer übers Herz bringen, sich ihm nicht zuzuwenden? Wem sich aber die Staatsmänner zuwenden, dem folgt die ganze Welt und erkennt ihn als Herrscher an. Ein Herrscher ist, wer Herr ist auf Erden, ein Fürst ist, wer die ganze Welt zu sich herführt27.

Wer die Wahrheit gefunden hat, der kann es bis zum Rang des Himmelssohnes bringen und wird doch nicht hochmütig sein, er kann seinen Besitz über die ganze Welt ausdehnen und wird doch nicht eingebildet werden. Aber er kann auch niedrig sein und im einfachen Kleid umhergehen und doch nicht sein Schicksal beklagen, er kann so arm sein, daß er selbst an Nahrung und Kleidung Mangel leidet und dennoch frei sein von Furcht und Sorge. Seine Wahrhaftigkeit ist ehrlich, denn er besitzt die Wahrheit als Eigentum; seine Erkenntnis ist frei von Zweifeln, denn er weiß, worauf er sich verlassen kann. Er geht seine eigenen Wege und läßt sich nicht beeinflussen und abbringen. Er paßt sich allen Verhältnissen an und vermag daher in seinem Einfluß der Natur gleichzukommen28. Er ist klar, und darum fest in seinem Herzen. Er ist unvoreingenommen und frei von Trug und Hinterlist. Er ist verborgen, und seine Willenskraft ist langfristig. Er ist dunkel und unerforschlich tief. Er ist entschlossen und gefeit gegen alle Versuchungen. Er ist harmlos und nicht rechthaberisch. Er ist einfältig und verschmäht Klugheit und Vorsicht. Er ist gelassen und nimmt Lob und Tadel der Welt leicht. Der Himmel ist sein Vorbild, sein Wandel ist in Tugend, die Wahrheit ist sein Herr.

Er wandelt sich mit den Dingen und kommt nie in Verlegenheit und an ein Ende. Seine Seele erfüllt Himmel und Erde, ohne sich zu erschöpfen. Sein Geist umspannt das Weltall in Zeit und Ewigkeit und kennt keine Grenzen.

Man weiß nicht von wannen er kommt und wohin er geht; man[214] weiß nicht zu welcher Tür er hervorgetreten ist und welchen Anfang er gemacht hat, oder welchen Ursprung er genommen hat. Er ist so groß, daß außer ihm nichts mehr ist und so klein, daß in ihm nichts Inneres mehr ist: das ist die höchste Vornehmheit

Wenn ein Staatsmann es so weit gebracht hat, so sind selbst die fünf Herrscher nicht imstande, ihn nach Belieben als Freund zu behandeln, und Könige können ihn nicht nach Belieben zum Lehrer gewinnen. Erst wenn ein Herrscher sein Herrscherbenehmen ablegt, kann er sich ihnen nähern und sie erlangen.

Yau29 trat nicht als Herrscher vor Schan Güan, sondern befragte ihn, wie man einen Höheren befragt30. Yau war Himmelssohn, Schan Güan ein Mann in schlechtem Gewand. Weshalb behandelte er ihn dennoch mit solch ausgesuchter Höflichkeit? Schan Güan war ein Mann im Besitz der Wahrheit. Und einen Mann, der die Wahrheit besitzt, darf man nicht stolz behandeln. Yau sagte sich, daß er an Tugend und Weisheit jenem nicht gleichkomme, darum befragte er ihn in demütiger Haltung. Das war Großartigkeit der Gesinnung. Wer aber außer einem Mann von vollendeter Großartigkeit der Gesinnung vermag es, Würdige mit der nötigen Höflichkeit zu behandeln?

Dan, der Herzog von Dschou, war der Sohn des Königs Wen und Bruder des Königs Wu und der Oheim des Königs Tschang. Aber er empfing siebzig Männer, die in ärmlicher Gasse unter einem baufälligen Dache wohnten. Was König Wen begonnen, aber nicht vollenden konnte, das hat Dan, der Herzog von Dschou, mit dem jungen Fürsten Tschong (für den er die Regierung führte) auf dem Arm vollendet. Darum heißt es: ein König vollendet seine Aufgabe nur, wenn er sich persönlich tüchtigen Männern unterstellt31. Herzog Huan von Tsi besuchte den Unterbeamten Dsi an einem Tage dreimal, ohne vorgelassen zu werden. Sein Gefolge sprach: »Wenn ein mächtiger Fürst wie Ihr an einem Tage dreimal bei einem einfachen Bürger vorspricht, ohne ihn zu Gesicht zu bekommen, da ist's wahrlich besser, abzustehen.«

Aber Herzog Huan sprach: »Nein. Indem ein Staatsmann Einkommen und Rang nicht wichtig nimmt, zeigt er seinem Herrn[215] gegenüber Geringschätzung. Aber sein Herr, der die Hegemonie und Weltherrschaft nicht wichtig nähme, zeigte auch seinen Staatsmännern gegenüber Geringschätzung. Wenn auch der Minister Einkommen und Rang gleichgültig nimmt, wie könnt ich es wagen, die Hegemonie oder die Weltherrschaft unwichtig zu nehmen?«

Die Leute erwähnen immer nur die häuslichen Vorgänge bei dem Herzog Huan, aber obwohl seine häuslichen Verhältnisse keineswegs in Ordnung waren, hat er doch mit fester Hand die Fürsten geleitet. Wenn er außer diesem Werk auch noch seine häuslichen Verhältnisse in Ordnung gebracht hätte, so wäre es ein Geringes für ihn gewesen, die Weltherrschaft zu erreichen.

Dsï Tschan war Kanzler von Dschong. Er besuchte den Hu Kiu Dsï Lin und saß unter dessen Schülern auf dem Platz, den er nach seinem Alter einnahm. Seinen Kanzler hatte er vor der Türe stehen lassen. Als Kanzler eines Großstaates auf seine Würde verzichten, nur bedacht sein auf seine Gesinnung und Betragen, von Herzen bereit sich andere zum Vorbild zu nehmen: das war Dsï Tschans Art. Darum war er achtzehn Jahre Kanzler in Dschong. Er hatte während dieser Zeit nur drei schwere Strafen und zwei Hinrichtungen verhängt. Und dennoch hat er es so weit gebracht, daß Pfirsiche und Pflaumen über die Wege hereinhängen konnten, ohne daß sie jemand pflückte, daß Geldstücke auf den Straßen liegen konnten, ohne daß sie jemand aufhob32.

Der Fürst Wen von We33 besuchte den Duan-Gan Mu. Er blieb vor ihm stehen und auch als er ermüdet war, wagte er nicht zu ruhen. Zurückgekehrt empfing er den Dse Huang. Da kauerte er sich bequem in der Halle nieder, als er mit ihm sprach. Dse Huang war darüber mißvergnügt. Aber der Fürst Wen sprach: »Wenn ich dem Duan-Gan Mu ein Amt anbiete, so nimmt er es nicht an, biete ich ihm Reichtümer an, so weist er sie zurück. Du aber wolltest ein Amt, und ich gab Dir die Stelle des Kanzlers, du wolltest Einkünfte, und ich gab Dir die Stelle eines hohen Rats. Ist es nicht zu viel verlangt, daß Du, nachdem Du alle diese Wohltaten von mir erhalten hast, nun auch noch besonders höfliche Behandlung erwartest?« Darum beachten tüchtige Herrscher in ihrer Behandlung[216] der Menschen die Regel, daß sie die, die keine materiellen Gunstbezeugungen annehmen, mit Ehrerbietung behandeln. Die wirklichen Staatsmänner vermag man nicht höher zu ehren, als durch Beherrschung der eigenen Wünsche. Versteht man seine Wünsche zu beherrschen, so werden die Befehle befolgt. Von dem Fürsten Wen mag man mit Recht sagen, daß er gerne die Staatsmänner geehrt habe. Darum hat er seinen südlichen Nachbarstaat Tschu bei Liän Ti besiegt und seinen östlichen Nachbarstaat Tsi bei Tschang Tschong (der großen Mauer) und hat dabei den Fürsten von Tsi gefangen genommen und dem Großkönig dargebracht. Der Großkönig aber hat ihm dafür den Titel eines Hohen Rates verliehen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 213-217.
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