5. Kapitel
Anpassung beim Reden / Schun Schuo

[220] Wer gut zu reden versteht, der macht es wie ein geschickter Ringer, der die Kraft der andern zu seiner Kraft macht, indem er sie, wenn sie auf ihn zukommen, vollends herzieht oder, wenn sie sich von ihm abwenden, vollends nach hinten stößt. Er stellt keine eigene Idee auf, sondern wächst mit dem anderen und[220] wird mit ihm groß und redet zu ihm wie das Echo. Er nimmt Teil an des anderen Blüte und Niedergang, je nachdem der andere einem von beiden sich zuwendet. Wenn da einer noch so stark und klug ist: man hat sein Leben in der Hand. Wenn man mit günstigem Winde einem ruft, ist darum der Ton nicht lauter (obwohl man ihn weiter hört). Wenn man von erhöhter Stelle aus Umschau hält, ist darum das Auge nicht klarer (obwohl man weiter schaut). Man nützt nur die Verhältnisse aus.

Hui Ang42 trat vor den König Kang von Sung. Der König stampfte mit dem Fuß auf, räusperte sich und sprach erregten Tones: »Was uns erfreut, ist Heldenmut und Kraft. Wir mögen nicht Gerechtigkeit und Liebe. Womit kannst Du, o Fremdling, uns belehren?« Hui Ang erwiderte: »Ich habe ein Mittel, da durch wird der Mensch fest, daß auch eines Helden Stoß nicht in ihn eindringt und eines Starken Schlag ihn nicht trifft. Hat der große König denn dafür gar keinen Sinn?« Der König sprach: »Gut, das ist's, was wir zu hören wünschen.«

Hui Ang fuhr fort: »Wenn einer uns sticht, ohne daß es eindringt und schlägt, ohne zu treffen, so bleibt es doch immer eine Schande für uns, angegriffen zu werden. Ich habe ein Mittel, das bewirkt, daß die andern, selbst wenn sie Helden sind, uns nicht zu stechen wagen, selbst wenn sie stark sind, uns nicht zu schlagen wagen. Hat der große König denn gar keinen Sinn dafür?« Der König sprach: »Das ist's, was wir zu wissen wünschen!« Hui Ang fuhr fort: »Wenn einer uns nicht zu stechen wagt oder nicht zu schlagen wagt, so fehlt ihm darum doch nicht die Absicht dazu. Ich habe ein Mittel, das bewirkt, daß die Menschen gleich von vorne herein gar nicht die Absicht haben uns zu schädigen. Hat der große König denn dafür gar keinen Sinn?« Der König sprach: »Gut, das ist's, was wir gerne möchten!«

Hui Ang fuhr fort: »Wenn die andern keine böse Absicht gegen uns haben, so heißt das noch nicht, daß sie uns lieben und uns von Herzen Gutes gönnen. Ich habe ein Mittel, das bewirkt, daß alle Männer und Frauen auf Erden die Hälse recken und sich auf die Zehen stellen und mit Freuden uns lieben und uns alles Gute[221] gönnen. Das ist noch besser als Heldenmut und Kraft. Über all jenen vier Stufen43 zu weilen, hat der große König denn dafür gar keinen Sinn?« Der König sprach: »Das ist's, was wir zu erlangen wünschen.«

Hui Ang sprach: »Das ist's, was Kung und Mo hatten. Kung Kiu und Mo Di hatten kein Land, über das sie Fürsten waren, kein Amt, durch das sie vornehm waren, und dennoch reckten alle Männer und Frauen auf der ganzen Welt die Hälse und stellten sich auf die Zehen und wünschten ihnen Glück und Frieden. Nun seid Ihr, o großer König, der Herr eines Großstaates; wenn Ihr wirklich die Absicht habt, so werden innerhalb der vier Grenzen alle es zu genießen haben; das ist weit mehr als Kung Kiu und Mo Di vermochten.« Der König von Sung vermochte darauf nichts zu erwidern. Hui Ang entfernte sich dann mit eiligen Schritten. Da sprach der König zu seiner Umgebung: »Das nenne ich Beredtsamkeit! Der Fremdling hat durch sein Reden uns überwältigt.«

Der König von Sung war ein schlechter Fürst, und dennoch konnte er dazu gebracht werden, daß er wenigstens innerlich zustimmte durch Ausnützung der günstigen Gelegenheit. Durch Ausnützung der Gelegenheit kann der Geringe und der Arme dem Vornehmen und Reichen überlegen werden und der Kleine und Schwache den Großen und Starken bändigen.

Tiän Dsan44 trug geflickte Kleider als er vor den König von Tschu trat. Der König von Tschu sprach: »Herr, wie sind doch Eure Kleider so schlecht!« Tiän Dsan sprach: »Es gibt noch schlechtere Kleider als diese.« Der König von Tschu sprach: »Darf man es hören?« Er erwiderte: »Panzer sind schlechter als diese Kleider.« Der König sprach: »Was heißt das?« Er erwiderte: »Im Winter friert man darin, im Sommer machen sie heiß. Es gibt keine schlechteren Kleider als die Panzer. Ich bin arm, darum gehe ich schlecht gekleidet. Nun seid Ihr, großer König, der Herr eines Großstaates und habt an Reichtum nicht Euresgleichen und dennoch liebt Ihr es, Eure Untertanen in Panzer zu kleiden. Das möchte ich nicht! Denkt Ihr etwa, Ihr seid im Recht? In Panzern führt man Kriege, da muß man den anderen die Hälse abschneiden und die Eingeweide[222] durchwühlen, man muß anderer Leute Städte und Mauern zerstören und anderer Leute Väter und Brüder verletzen. Das alles sind Dinge, die keinen guten Namen haben. Oder denkt Ihr etwa, es bringe Euch wirklichen Vorteil? Aber wer auf Schaden anderer Leute aus ist, auf dessen Schaden sind die anderen auch aus. Wer anderen Gefahr bereitet, dem bereiten die anderen auch Gefahren. In Wirklichkeit bringt das also durchaus keinen Frieden. Darum würde ich an Eurer Stelle beides verschmähen.« Der König von Tschu wußte nichts zu erwidern. Und ob wohl Tiän Dsans Worte nicht vollständig befolgt wurden, muß man von ihm doch sagen, daß er seine Worte zu wählen wußte. Allerdings hatte er den Sinn eines Einflusses durch die stille Macht der Persönlichkeit noch nicht erfaßt45.

Guan Dschung war dem Fürsten von Lu in die Hände gefallen. Der fesselte ihn und sperrte ihn in einen Käfig. So ließ er ihn von Dienern auf einen Wagen setzen und nach Tsi ausliefern. Die Diener sangen während des Ziehens. Guan Dschung fürchtete, man könne ihn in Lu noch anhalten und töten, deshalb wollte er so rasch wie möglich nach Tsi. Darum sprach er zu den Dienern: »Ich will für Euch singen und Ihr haltet Schritt mit meinem Gesang.« Er sang nun eine Marschmelodie, auf die sich gut gehen ließ, so daß die Diener nicht müde wurden und den Weg sehr rasch nahmen. Guan Dschung verstand es, die Umstände zu benützen. Die Diener kamen auf ihre Rechnung, und Guan Dschung kam ebenfalls auf seine Rechnung durch diese List. Daß er auf diese Weise dem Fürsten einer Großmacht zur Hegemonie im Reiche verhelfen hat, war noch wenig. Aber der Herzog Huan war allerdings ein Mann, dem man nicht leicht zum Großkönigtum hätte verhelfen können.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 220-223.
Lizenz: