3. Kapitel
Sachgemässe Beanspruchung / Jen Schun

[269] Jeder Beamte hat das Amt, für Ordnung zu sorgen; kommt Unordnung auf, so ist das sein Fehler. Wenn nun die Unordnung frei von Tadel bleibt, so wird die Unordnung immer größer. Wenn ein Fürst Gewalt liebt und sein Können gerne bewundern läßt, wenn er gerne sich hervordrängt und selber gelten will, so hält der Beamte seine Stellung dadurch fest, daß er die Fehler seines Fürsten ungerügt läßt und sich durch Unterwürfigkeit in Gunst zu setzen weiß. So macht der Fürst statt des Beamten den Beamten. So folgt der Beamte ihm in allen Stücken, um seinen Besitz zu mehren. Und das Verhältnis von Fürst und Beamten wird unklar.

Sie haben hörende Ohren und hören nicht, sie haben sehende Augen und sehen nicht, sie haben einen erkennenden Verstand und richten sich nicht danach. Das kommt von den Umständen. Damit das Ohr hören kann, muß es ruhig sein, damit das Auge sehen kann, muß es hell sein, damit der Verstand erkennen kann, muß er vernunftgemäß sein. Wenn Fürst und Beamte ihre Rollen tauschen, so verkommen diese drei Sinne. Der Herrscher eines dekadenten Staates hat wohl Ohren zu hören, wohl Augen zu sehen, wohl Verstand zu erkennen, aber wenn Fürst und Beamte in Unordnung sind, wenn der Unterschied zwischen Hoch und Niedrig vernachlässigt wird, so mag er wohl hören, aber was hört er denn? Er mag wohl sehen, aber was sieht er denn? Er mag[269] wohl erkennen, aber was erkennt er denn? Umherschweifen der Gedanken und Zerstreutheit führt dazu, daß ein Tor zu nichts kommt. Kommt er zu nichts, so erkennt er nichts. Erkennt er nichts, so glaubt er nichts.

Die Tiere ohne Knochen (die Insekten, die im Frühjahr entstehen und vor dem Herbst sterben) kann man nicht dahin bringen, daß sie wissen, was Eis ist. Wenn ein Landesfürst diese Worte zu beherzigen versteht, so hat das Unglück keine Möglichkeit, über ihn zu kommen. Aber er darf sich wirklich nicht auf die Fähigkeit seiner Augen, Ohren und seines Verstandes verlassen.

Nur wenn er die Stellungen in Ordnung bringt und vernunftgemäß handelt, wird es ihm gelingen.

Der Fürst Dschau Li von Han sah einst bei der Besichtigung der Opfertiere, die im Ahnentempel geopfert werden sollten, daß das Schwein zu klein war. Da ließ der Fürst Dschau Li es gegen ein anderes umtauschen. Der Beamte brachte aber dasselbe Schwein wieder. Der Fürst Dschau Li sprach: »Ist das nicht immer noch das Schwein von vorhin?« Der Beamte hatte nichts zu erwidern, und die Diener erhielten den Befehl, ihn zur Strafe abzuführen. Die Umgebung sprach: »Woher wußten Eure Königliche Hoheit, daß es dasselbe Schwein war?« Der Fürst erwiderte: »Ich habe es an seinem Ohr wiedererkannt.«

Schen Bu Hai hörte es und sprach: »Woher weiß man, daß einer taub werden wird? Wenn sein Ohr allzu scharfhörig ist. Woher weiß man, daß einer blind werden wird? Wenn sein Auge allzu klar sieht. Woher weiß man, daß einer am Verrücktwerden ist? Wenn seine Worte allzu treffend sind8. Darum heißt es: Tue das Hören ab und horche auf nichts, so wirst du scharfhörig. Tue das Sehen ab und schaue nach nichts, so wirst du klarsichtig. Tue das Wissen ab und forsche nach nichts, so wirst du umfassend. Wenn man diese drei Sinne und ihre Funktionen abtut, so herrscht Ordnung. Wenn man aber die drei Sinne funktionieren läßt, so herrscht Verwirrung.« Damit soll gesagt sein, daß man sich auf Gehör, Gesicht, Verstand und Wissen nicht verlassen kann. Denn was Ohr, Auge, Verstand und Wissen erkennen, ist äußerst unvollkommen,[270] und was sie hören und sehen ist äußerst unbedeutend. Wenn man auf Grund dieser unvollkommenen und unbedeutenden Erkenntnis in allseitiger Fühlung mit der Welt stehen, widersprechende Sitten in Einklang bringen, die Menge der Untertanen in Ordnung bringen will, so lassen sich solche Prinzipien sicher nicht durchführen.

Auf eine Entfernung von zehn Meilen kann das Ohr nichts mehr hören. Was außerhalb von Vorhängen und Mauern ist, kann das Auge nicht mehr sehen. Einen drei Morgen Land bedeckenden Palast vermag der Verstand nicht zu überschauen. Wie will man es da machen, um im äußersten Osten nach Kaiwu zu kommen, oder im Süden das Do-Ying-Volk zu unterwerfen, oder im Westen die Schou Mi zu bändigen, oder im Norden sich um das Dschan-Örl-Volk zu kümmern?

Darum ist es für Fürsten überaus wichtig, daß sie diese Worte überdenken. Denn Ordnung und Verwirrung, Ruhe und Gefahr, Bestand und Untergang kommen immer nur auf einem einzigen Weg den Menschen zu. Darum:

»Die höchste Erkenntnis tut ab die Erkenntnis, höchste Liebe vergißt der Liebe. Höchste Tugend ist nicht Tugend.« Ohne Worte, ohne Gedanken, wartet man ruhig die Zeit ab. Ist der rechte Zeitpunkt da, und erregt er den Verstand, so wird der, welcher Muße hat, gewinnen. Das Gesetz des Entsprechens bewirkt, daß durch Ruhe und Stille, Allseitigkeit und Einfachheit, Anfang und Ende geschlichtet wird.

Wenn auf diese Weise die menschlichen Verhältnisse geordnet werden, so braucht man nicht erst ein Lied anzustimmen und findet schon Begleitung, man braucht nicht erst voranzugehen und findet schon Folge.

Die Könige des Altertums haben wenig selbst getan und vieles angeregt. Anregen ist die Kunst des Fürsten, Handeln ist die Pflicht der Beamten. Handeln bringt Unruhe, Anregen gibt Ruhe. So wird es auf Anregung des Winters kalt und auf Anregung des Sommers heiß. Was braucht sich ein Fürst zu schaffen zu machen! So gibt es ein Wort: »Es ist für einen Fürsten besser, wenn er[271] kein Wissen und kein Handeln pflegt, als wenn er Wissen und Handeln hat.« Das trifft das Wahre.

Einst bat ein ausführender Beamter den Herzog Huan von Tsi9 um Anweisungen. Herzog Huan sprach: »Sprich darüber mit Vater Guan Dschung.« Nach einiger Zeit kam er wieder mit einer Sache zu dem Herzog. Der Herzog sprach wieder: »Sage es dem Vater Guan Dschung.« Das wiederholte sich dreimal. Da sprach jener: »Ein über das andere Mal wird man an Vater Guan Dschung verwiesen, da ist es freilich leicht ein Fürst zu sein.«

Herzog Huan sprach: »Ehe ich den Vater Guan Dschung gefunden hatte, da hatte ich es schwer, nachdem ich aber den Vater Guan Dschung gefunden habe, weshalb sollte ich es mir da nicht leicht machen?« Herzog Huan hatte den Guan Dschung gefunden und alle seine Geschäfte wurden dadurch leicht, wie viel mehr wird das der Fall sein, wenn man die Kunst des sinngemäßen Handelns gefunden hat.

Als Meister Kung in Not war zwischen Tschen und Tsai, da10 hatte er einst sieben Tage lang keine Suppe mehr gegessen und auch kein Getreide mehr gekostet. Als er bei Tage schlief, hatte Yän Hui Reis erbeten. Er hatte welchen bekommen und bereitete ihn zu. Als er beinahe gar war, da sah Meister Kung wie Yän Hui seine Hand in den Kessel streckte und davon aß. Nach einer Weile war das Essen gar. Da trat er vor den Meister Kung und brachte ihm das Essen. Meister Kung tat so, als habe er nichts gesehen. Er erhob sich und sprach: »Heute habe ich im Traum meinen seligen Vater gesehen, ich will ihm erst von dieser unberührten Speise etwas opfern.«

Yän Hui erwiderte: »Es geht nicht. Vorhin ist etwas Ruß in den Kessel geflogen. Es war mir zu schade, etwas von dem Essen wegzuwerfen, darum habe ich mit der Hand hineingegriffen und die rußige Stelle aufgegessen.«

Da seufzte Meister Kung und sprach: »Worauf man am ehesten trauen kann, sind die eigenen Augen. Aber selbst dem Augenschein darf man nicht immer trauen. Worauf man sich am ehesten verlassen kann, das ist der eigene Verstand, aber selbst der eigene[272] Verstand ist nicht immer zuverlässig. Kinder, merkt es euch, es ist wirklich nicht leicht, die Menschen zu kennen.« Darum ist das Erkennen noch nicht das Schwierigste, sondern das, wodurch Kung Dsï die Menschen erkannte, das ist das Schwierigste.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 269-273.
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