1. Kapitel
Wohlüberlegte Antworten / Schen Ying

[290] Ein Fürst muß sorgfältig prüfen, was er äußert und wie seine Mienen und Antworten beschaffen sein sollen. Jeder Fürst, der Einsicht hat, wird mit seinen Worten nicht gerne anderen zuvorkommen. Sondern er wird den Grundsatz befolgen: Der andere soll singen, ich begleite, der andere soll voran, ich folge. Was der andere ausgibt, nehme ich ein, was der andere sagt, das nehme ich als Maßstab für ihn. An seine wirklichen Leistungen lege ich dann den aus seinen Worten geschöpften Maßstab an. Dann werden die, die etwas zu sagen haben, es nicht wagen in den Tag hineinzureden, und der Fürst hat sie dann in der Hand.

Kung Sï bat um seinen Abschied. Der Fürst von Lu sprach: »Die Fürsten auf der ganzen Welt sind auch wie ich, wo wollt Ihr denn hin?«

Kung Sï erwiderte: »Ich habe gehört, der Edle ist wie ein Vogel: wird er erschreckt, so fliegt er davon.«

Der Fürst von Lu sprach: »Wenn ich ein untauglicher Fürst bin, und alle andern sind auch so, so geht Ihr dem einen untauglichen Fürsten aus dem Wege und lauft einem andern untauglichen Fürsten zu. Denkt Ihr denn, daß Ihr alle Fürsten auf Erden zu beurteilen versteht? Wenn ein Vogel auffliegt, so fliegt er von dem Ast weg, da er erschreckt wurde und fliegt an einen anderen Ort, da er nicht erschreckt wird. Ob er aber, wenn er von einem Ort, da er erschreckt wird, wegfliegt, einen anderen finden wird, da er nicht erschreckt wird, das kann er nicht zum voraus wissen. Wenn er aber vor einem Schrecken flieht und sich einem andern Schrecken zuwendet, wozu fliegt da der Vogel überhaupt weg?«

Kung Sï hatte allerdings einen Fehler gemacht in seiner Antwort an den Fürsten von Lu.

Der König Hui von We1 ließ durch einen Boten dem Fürsten[290] Dschau von Han sagen: »Der Staat Dschong ist von dem Hause Han vernichtet worden. Ich möchte, daß Ihr seine Nachkommen wieder in ihr Erbe einsetzt. Das entspricht der Pflicht, die uns gebietet, das Zugrundegehende zu erhalten und erloschene Geschlechter fortzusetzen. Wenn Ihr den Staat wieder einsetzt, so werdet Ihr Euch einen großen Namen machen.«

Der Fürst Dschau war darüber in Unruhe. Der Prinz Schï Wo bat um die Erlaubnis, die Antwort auszurichten. Als der Prinz Schï Wo nach We kam, trat er vor den König Hui und sprach: »Eure Regierung hat uns befohlen, die Erben von Dschong wieder einzusetzen. Das ist etwas, das wir nicht wagen. Unser Staat ist von Eurer Regierung mehrfach geschädigt worden. Als vor Zeiten der Nachkomme des Herzogs Tschu namens Schong Schï von dem Staate Dsin2 in Tung Ti festgesetzt wurde, hat Euer Staat kein Erbarmen gegen uns gezeigt, und nun heißt Ihr uns das Zugrundegehende zu erhalten und das ausgestorbene Geschlecht fortzusetzen. Das wagen wir nach dem Vorgefallenen nicht zu tun.«

Der König von We schämte sich und sprach: »Das war nicht mein eigener Gedanke, bitte, die Sache weiter nicht mehr zu berühren.« Hier wurde eine ungerechte Handlung hervorgehoben, um eine andere ungerechte Handlung zu decken. Denn wenn auch der König von We nichts zu erwidern wußte, so blieb die pflichtwidrige Handlung des Staates Han dennoch in ihrem vollen Umfang bestehen und die Beredsamkeit des Prinzen Schï Wo diente nur dazu, ein Unrecht zu entschuldigen und einen gemachten Fehler zu vollenden.

Der König Dschau von We fragte den Tiän Tschu: »Als ich noch Thronfolger war, hörte ich Euch darüber reden, daß es ganz leicht sei, als Weiser zu leben. Ist das wirklich so?«

Tiän Tschu sprach: »Ja, das habe ich behauptet.«

Der König Dschau sprach: »Seid Ihr dann selber ein Weiser?«

Tiän Tschu sprach: »Mancher erkennt einen Weisen, noch ehe er ein Werk vollbracht hat. So hat Yau den Schun erkannt. Andere erkennen einen Weisen erst3, nachdem er große Werke vollbracht[291] hat, und Ihr fragt mich, ob ich ein Weiser sei; ist das etwa ein Zeichen, daß Ihr ein Yau seid?«

Darauf wußte der König Dschau nichts zu erwidern.

Zu der Antwort, die Tiän Tschu dem König Dschau gab, ist folgendes zu bemerken. Der König hatte nicht gesagt, daß er die Weisen zu erkennen wisse, sondern hatte nur gefragt, ob Tiän Tschu ein Weiser sei, worauf dieser dem König unter Verschiebung der Frage mit einer Behauptung über das Erkennen der Weisen antwortete. Der König Dschau war eigentlich im Recht. Daß Tiän Tschu ihn ins Unrecht setzte, war ein Zeichen, daß er nicht besonders scharfsinnig war.

Der König Hui von Dschau sagte zu Gung-Sun Lung: »Ich bemühe mich nun schon seit über zehn Jahren eine Abrüstung herbeizuführen. Aber es gelingt mir nicht. Ist Abrüstung unmöglich?«

Gung-Sun Lung erwiderte: »Der Gedanke der Abrüstung entspringt einer Gesinnung allgemeiner Menschenliebe. Aber allgemeine Menschenliebe darf nicht ein bloßer leerer Name sein, sondern man muß sie durch die Tat beweisen. Als die beiden Bezirke Eures Gebietes Ning und Li Schï von dem Staate Tsin annektiert wurden, da trauertet Ihr in Sack und Asche. Ein andermal griffet Ihr Euren östlichen Nachbarstaat Tsi an und erobertet eine Stadt, da veranstaltetet Ihr ein Festmahl mit Wein. Als Tsin Land gewann, da trauertet Ihr in tiefer Trauer, als Tsi Land verlor, da hieltet Ihr ein Festmahl. Das zeigt nicht die Gesinnung der allgemeinen Menschenliebe. Das ist der Grund, warum die Abrüstung sich nicht verwirklichen läßt. Das ist wie wenn z.B. jemand unhöflich und rücksichtslos wäre und Höflichkeit beanspruchte, oder wenn einer parteiisch und voreingenommen wäre und doch Gehorsam für seine Befehle verlangte, oder wenn einer dauernd durch neue Verordnungen die alten umstieße, und doch erwartete, daß sein Land in Ruhe ist, oder wenn einer grausam und habgierig wäre, und doch erwartete, daß gefestigte Verhältnisse herrschen. Das würde selbst ein Huang Di nicht zuwege bringen.«

Der Thronerbe von We wollte die Abgaben erhöhen, um Getreidevorräte zu sammeln. Das Volk wurde unzufrieden. Da sprach[292] er darüber mit Bo I und sagte: »Das Volk ist doch zu töricht. Die Vorräte, die ich sammle, sollen doch dem Volke zugute kommen, was verschlägt es denn, ob sie sie selbst aufstapeln oder ob sie von der Regierung aufgestapelt werden?«

Bo I sprach: »Nicht also, sondern wenn Korn unter der Bevölkerung vorhanden ist, ohne daß die Regierung darüber Bescheid weiß, so ist es besser, daß es von der Regierung aufbewahrt wird. Wenn aber die Regierung das Korn aufbewahrt, ohne daß die Bevölkerung über seinen Verbleib Bescheid weiß, so wäre es besser, es würde von der Bevölkerung aufbewahrt. Darum muß man immer von sich aus schließen, wie etwas von anderen verstanden wird, dann werden unsere Befehle stets Gehorsam finden.« Wenn ein Staat lange dauert, gewinnt er Festigkeit. Ist er fest, so geht er nicht leicht zugrunde. Nun sind aber selbst die Dynastien Yü, Hia Yin und Dschou alle zugrunde gegangen. Und bei allen lag die Ursache daran, daß sie nicht von sich auf andere zu schließen verstanden.

Prinz Ta war Kanzler in Dschou. Schen Hiang hatte eine Unterredung mit ihm und zitterte dabei. Prinz Ta verspottete ihn und sprach: »Ihr zittert ja, während Ihr mit mir sprecht, ist das etwa, weil ich Kanzler bin?«

Schen Hiang sprach: »Das ist allerdings eine Ungewandtheit von mir. Aber doch möchte ich fragen, an wem der größere Fehler liegt, wenn Ihr im Alter von zwanzig Jahren durch Eure Kanzlerwürde einen alten Mann vor Euch zittern macht?«

Der Prinz Ta wußte darauf nichts zu erwidern. Das Zittern ist ein Zeichen von Mangel an Gewohnheit (im Verkehr mit Vornehmen). Andere vor sich zittern machen, ist ein Zeichen von Arroganz und Hochmut. Wenn der Höhergestellte im Verkehr zuvorkommend und bescheiden ist, und doch noch jemand vor ihm zittert, so liegt der Fehler dann nicht an dem Höhergestellten. Darum, wenn jemand gelegentlich auch einen Verstoß macht, so soll man seine zuvorkommende und bescheidene Art nicht ändern, dann macht ein solcher Verstoß keinerlei Schwierigkeit. Wenn man aber arrogant und hochfahrend ist, dann mag das wohl der Fall sein.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 290-293.
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