2. Kapitel
Wichtignehmen der Worte / Dschung Yän

[293] Ein Herrscher muß seinen Worten Wichtigkeit geben.

Gau Dsung war Weltherrscher. Nachdem er den Thron bestiegen hatte, weilte er drei Jahre im Trauerzelt um seinen Vater leidtragend und redete nichts.

Die höheren Minister und Räte gerieten darüber in Besorgnis und wurden traurig. Da redete Gau Dsung und sprach: »Mir ist der Beruf zuteil geworden, die vier Weltgegenden in Zucht zu halten, da fürchte ich, daß meine Worte diesem Berufe nicht entsprechen möchten, darum redete ich nicht.«

So wichtig nahmen die Großkönige der alten Zeiten ihre Worte; darum waren sie frei von Fehlern.

Der König Tschong4 spielte mit seinem Bruder Tang Schu Yü. Er nahm ein Paulowniablatt, und machte ein Szepter daraus, das gab er Tang Schu Yü und sprach: »Damit belehne ich Dich.«

Tang Schu Yü freute sich, und sagte es dem Herzog von Dschou. Darauf fragte der Herzog von Dschou den König: »Eure Majestät hat Tang Schu Yü belehnt?«

Der König Tschong sprach: »Ich habe nur mit Tang Schu Yü gescherzt.«

Der Herzog von Dschou erwiderte: »Es ist uns gesagt, ein Großkönig rede nichts im Scherz. Was der Großkönig redet, das zeichnen die Chronisten auf, das besingen die Sänger, das besprechen die Staatsmänner.«

Darauf wurde Tang Schu Yü mit dem Staate Dsin belehnt.

Von dem Herzog Dan von Dschou kann man wohl sagen, daß er gut zu raten verstand. Durch ein einziges Wort lehrte er den König Tschong, sein Wort wichtig nehmen, die Pflicht der Liebe zum Bruder erkennen und die Befestigung des Königshauses fördern5.

Der König Dschuang von Tschu war schon drei Jahre auf dem Throne, ohne daß er Hof abgehalten hätte. Er liebte es nur Rätsel zu raten.

Tschong Gung Gia6 trat vor ihn, um ihn zu mahnen. Der König[294] sprach: »Ich habe mir doch alle Mahner verbeten, weshalb kommt Ihr nun doch, mich zu mahnen?« Jener erwiderte: »Ich wage nicht als Mahner zu kommen, ich möchte nur mit Euch Rätsel raten.«

Der König sprach: »Nun, dann gebt mir Euer Rätsel auf.« Jener erwiderte: »Ein Vogel saß auf einem Hügel im Süden. Drei Jahre lang regte er sich nicht, flog auch nicht und sang auch nicht. Was ist das für ein Vogel?«

Der König erriet es und sprach: »Der Vogel, der drei Jahre auf dem Hügel im Süden saß, regte sich nicht, weil er erst seinen Willen festigen wollte, er flog nicht, weil er erst sich die Schwingen wachsen lassen wollte, er sang nicht, weil er sich erst die Regeln der Menschen beschauen wollte. Dieser Vogel flog noch nicht, wenn er aber anfängt zu fliegen, wird er zum Himmel emporsteigen. Er hat bis jetzt noch nicht gesungen, wenn er aber singt, so wird er die Menschen erschrecken. Geht nur weg, ich weiß was Ihr meint.«

Am andern Tage hielt der König Hof. Fünf Männer stellte er an, zehn Männer entließ er. Alle Beamten waren hoch erfreut, und das Volk von Tschu beglückwünschte sich untereinander.

So heißt es im Buch der Lieder7:


Was lange währt wird endlich gut,

Wer lange spart, gibt endlich viel.


Das kann man auf den König Dschuang anwenden.

Das Rätsel des Tschong Gung Gia war noch besser als der Scherz des Tai Dsai Pi8. Tai Dsai Pi's Scherz fand Gehör bei dem König Fu Tschai von Wu und der Staat Wu ging dadurch in Trümmer. Tschong Gung Gia's Rätsel wurde erraten von dem König von Tschu, und der Staat Tschu erlangte dadurch die Hegemonie.

Der Herzog Huan von Tsi beriet sich mit Guan Dschung darüber, den Staat Gü anzugreifen. Aber noch ehe der Beschluß bekannt war, wurde schon in der Hauptstadt darüber gesprochen. Der Herzog Huan wunderte sich darüber und sprach: »Ich habe mit Euch darüber beraten, Gü anzugreifen; wie kommt es nun, daß, ehe ich etwas bekannt gegeben habe, schon in der Stadt darüber gesprochen wird?«[295]

Guan Dschung sprach: »Da lebt sicher ein großer Weiser in der Stadt.«

Der Herzog Huan sprach: »Ei, unter den Fronarbeitern neulich war einer, der eine Hacke hielt und herauf sah. Vielleicht war es der?«

Darauf gab er den Befehl, daß dieselben Arbeiter ohne Schichtwechsel noch einmal zur Arbeit antreten sollten. Nach einer Weile kam unter ihnen Dung Go Ya heran.

Guan Dschung sprach: »Sicher ist es der.« Darauf erhielt der Zeremonienmeister den Befehl, ihn herzuführen. Er kam und blieb vor der Treppe stehen.

Meister Guan fragte ihn: »Habt Ihr darüber gesprochen, daß man Gü angreifen werde?«

Er antwortete: »Ja.«

Auf die Frage: »Ich habe nichts davon gesagt, daß Gü angegriffen werden solle, wie kommt Ihr nur darauf, davon zu reden, daß man Gü angreifen wolle?« erwiderte er: »Es heißt: der Vornehme versteht zu planen, der Niedrige versteht zu erraten. Ich habe es mit Verlaub erraten.«

Guan Dschung sprach: »Da ich aber doch gar nicht von der Bekämpfung von Gü geredet habe, woraus habt ihr es denn erraten?« Jener erwiderte: »Es heißt: der Edle hat einen dreifach verschiedenen Gesichtsausdruck. Entweder blickt er offen und heiter, das ist der Ausdruck beim Anhören von Musik, oder sieht er traurig und still aus, das ist die Miene der Trauer. Oder endlich sieht er mutig und voll drein, Hände und Füße stramm haltend, das ist die Miene des Krieges. Als ich gestern Euch auf der Terrasse sah, da blicktet Ihr voll Mut drein und Eure Hände und Füße waren stramm, das war die Miene des Krieges. Ihr öffnetet den Mund und schloßt ihn nicht. Wovon Ihr redetet, war also Gü, Ihr hobt den Arm und deutetet, die Richtung, die Ihr wieset, war nach Gü, da überlegte ich mir mit Verlaub, daß unter allen Fürsten einzig Gü sich unbotmäßig zeigte, darum redete ich davon.«

»Was das Ohr hört, sind Laute. Nun aber hat Dung Go Ya keinen Laut gehört, sondern aus Mienen und Handbewegungen seine Schlüsse gezogen; so hatte er die Fähigkeit zu hören, ohne[296] mit dem Ohr etwas zu vernehmen. Darum konnten der Herzog Huan und Guan Dschung, obwohl sie sich aufs Geheimhalten verstanden, vor ihm nichts verbergen. So hört der Weise das, was keinen Laut gibt und sieht, was keine Gestalt hat. So machten es Dschan Ho, Tiän Dsï Fang und Lau Dan.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 293-297.
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