3. Kapitel
Gewandtheit im Verstehen / Dsing Yü

[297] Die Weisen verstehen einander, ohne daß sie erst der Worte bedürften, sie reden zueinander ohne Worte.

Unter den Leuten am Meer9 war einer, der liebte die Libellen. Jeden Morgen ging er an den Meeresstrand und ging den Libellen nach. Die Libellen kamen zu Hunderten unabläßlich herbei, vorn und hinten, rechts und links war alles voll Libellen. Den ganzen Tag spielte er mit ihnen, und sie wichen nicht von ihm. Da sprach sein Vater zu ihm: Ich höre, die Libellen sind immer um dich. Fang doch ein paar und bring sie mir, daß ich damit spiele. Am nächsten Tage ging er an den Strand, aber die Libellen waren alle verschwunden.

Schong Schu10 beriet den Herzog Dan von Dchou und sprach: »Die Halle ist klein, der Leute sind viele, wenn ich leise rede, versteht Ihr mich vielleicht nicht, rede ich aber laut, so hören uns die andern: soll ich nun laut reden oder leise?«

Herzog Dan von Dschou sprach: »Redet leise.« Schong Schu sprach: »Es handelt sich um eine Sache: rede ich in Andeutungen, so drücke ich mich vielleicht nicht deutlich aus, rede ich gar nicht, so kommt sie nicht zustande: soll ich andeutungsweise reden oder soll ich gar nicht reden?«

Herzog Dan von Dschou sprach: »Redet gar nicht11

So verstand es Schong Schu, ohne Worte seinen Rat zu geben, und Herzog Dan von Dschou verstand es, auch ohne Worte zu hören. Das ist Hören ohne Worte, Planen ohne Worte, Handeln, ohne daß man's merkt.

Der König von Yin mochte noch so schlecht sein, die Leute von Dschou durften nicht darüber reden. Wenn sie aber den Mund[297] hielten und nichts darüber redeten, sondern sich miteinander nur durch Andeutungen verständigten, so mochte Dschou Sin noch so viel Argwohn hegen und erfuhr doch nichts davon. Wo das Auge ohne Gestalten sah und das Ohr ohne Laute hörte, da mochte Schang noch so viele Horcher haben und konnte doch nichts erspähen. Wo die Abneigungen und Zuneigungen übereinstimmen, da sind gemeinsame Ziele und Wünsche, die auch kein Kaiser auseinander bringen kann.

Meister Kung sah den Wen Bo Süo Dsï. Ohne etwas zu sagen, ging er wieder weg. Dsï Gung sprach: »Schon lange begehrtet Ihr den Wen Bo Süo Dsï zu sehen. Nun habt Ihr ihn gesehen und nichts mit ihm gesprochen: warum das?12«

Meister Kung sprach: »Sowie ich einen Blick auf diesen Mann warf, da sah ich den ewigen Sinn des Daseins hervorleuchten. Da war dann alles Reden überflüssig. Ehe ich diesen Mann sah, kannte ich nur seine Prinzipien, seit ich ihn gesehen, habe ich seine Gesinnungen und Prinzipien alle erkannt, denn der ewige Sinn ist identisch.«

Was brauchen die Weisen der Worte, um einander zu erkennen!

Der Herzog von Bo13 fragte den Meister Kung und sprach: »Kann man mit andern in geheimen Anspielungen reden?« Meister Kung antwortete nicht. Der Herzog von Bo sprach: »Wie ist's, wenn man einen Stein ins Wasser wirft?« Meister Kung sprach: »Taucher können ihn holen.« Der Herzog von Bo sprach: »Und wie steht's, wenn man Wasser in Wasser gießt?« Meister Kung sprach: »Das Wasser der Flüsse Dschï und Miän, das zusammengeflossen war, konnte der Koch I Ya noch am Geschmack unterscheiden.« Da sprach der Herzog von Bo: »Dann kann man also sich mit andern nicht durch geheime Andeutungen verständigen?«

Meister Kung sprach: »Wieso nicht? Es braucht nur einen, der den Sinn der Worte versteht, dann geht es.« Der Herzog von Bo verstand den Sinn davon nicht. Wer die Meinung versteht, entnimmt sie nicht aus den Worten. Die Worte sind nur das Anhängsel des Gedankens, wie einer, der Fische fangen will, sich naß machen muß oder einer, der Tiere fangen will, laufen muß, nicht zum Vergnügen,[298] sondern weil es nicht ohne das geht. Darum ist die höchste Rede die, die des Redens zu entraten weiß, das höchste Handeln ist das, das des Handelns zu entraten weiß. Das, worum die Menschen mit geringer Erkenntnis sich streiten, sind immer nur Äußerlichkeiten. Das war der Grund, warum der Herzog von Bo schließlich im Kerker zugrunde ging.

Herzog Huan von Tsi versammelte die Lehensfürsten, dabei kam der Fürst von We zu spät. Der Herzog besprach sich bei Hofe mit Guan Dschung darüber, We zu züchtigen. Als er sich nach Schluß der Audienz in seine Gemächer zurückzog, da sah ihn seine Frau, eine geborene Prinzessin von We. Sie trat vor die Halle, verneigte sich zweimal und bat für den Fürsten von We um Verzeihung.

Der Herzog sprach: »Ich habe keinen Grund gegen We vorzugehen, weshalb bittest du für ihn?«

Sie erwiderte: »Ich sah, wie Ihr hereinkamt mit großen Schritten und erregten Mutes, daran erkannte ich Eure Absicht, einen Staat anzugreifen. Als Ihr mich sahet, verändertet Ihr Eure Mienen, daran erkannte ich, daß es gegen We gehen soll.«

Am nächsten Tag begrüßte der Herzog den Guan Dschung und hieß ihn vortreten. Guan Dschung sprach: »Eure Hoheit hat also den Plan gegen We auf gegeben?«

Der Herzog sprach: »Vater Dschung, woher wißt Ihr das?«

Guan Dschung sprach: »Als Eure Hoheit die bei Hofe Versammelten begrüßten, waret Ihr besonders höflich und sprachet leise; als Ihr mich erblicktet, kämet Ihr in Verlegenheit; daher weiß ich es.«

Der Fürst sprach: »Gut! Ihr, Vater Dschung, besorgt das Äußere, meine Frau besorgt das Innere: da weiß ich, daß ich nie zum Spott der Fürsten werden werde.« Herzog Huan hat über seine Geheimnisse nicht gesprochen, und doch merkte sie Guan Dschung an seinen Mienen und dem Ton seiner Rede und seine Frau aus seinen Schritten und seiner Stimmung. Obwohl daher Herzog Huan nicht redete, war er vor ihnen doch offenbar, wie wenn eine Fackel die Finsternis erhellt.[299]

Herzog Siang von Dsin schickte einen Gesandten nach Dschou mit der Botschaft: »Unser Fürst ist krank, er hat das Orakel der Schildkröte befragt und erhielt die Antwort, daß der Geist des San Tu-Berges feindlichen Einfluß ausübe. Ich bin von meinem Fürsten gesandt, freien Durchzug zu erbitten, um ein Heilopfer darbringen zu können.«

Der Großkönig14 erteilte die Genehmigung und empfing den Gesandten bei Hofe.

Als er weggegangen war, sprach Tschang Hung zu Lu Kang Gung: »Ein Heilopfer für den Berg San Tu darzubringen und vom Großkönig empfangen zu werden, das sind friedliche und schöne Dinge und doch sah der Gesandte so kriegerisch aus, ich fürchte, es handelt sich um andere Dinge, und ich schlage vor, daß wir uns darauf rüsten.« Da rüstete Lu Kang Gung Waffen, Kriegswagen und Krieger, um bereit zu sein.

Und in der Tat benützte Dsin das Opfer als Vorwand, um zuerst den Yang Dsï mit 120000 Mann die Gi-Furt überschreiten zu lassen und die Staaten Liau, Yüan und Liang Man zu überfallen, und alle drei wurden vernichtet. So weiß der Weise es zu erforschen, wenn Sache und Name sich nicht decken, danach hat Tschang Hung geurteilt. So sind Worte nicht hinreichend, um geheime Dinge zu entscheiden; nur wer den Sinn der Worte zu erfassen versteht, der ist dazu imstande.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 297-300.
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