6. Kapitel
Sich nicht unterkriegen lassen / Bu Tschu

[306] Ein gescheiter Mann, der denkt, er habe die große Wahrheit erfaßt, ist noch nicht so weit. Dennoch ist er in seinem Verkehr mit der Außenwelt schwer in Verlegenheit zu bringen. Aber obwohl sich seine Worte schwer widerlegen lassen, kann man doch noch nicht wissen, ob ihn Glück oder Unglück trifft. Wer gescheit ist und seinen Verstand dazu anwendet, die Gebote der Vernunft und Pflicht zu erkennen, dem schlägt sein Verstand zum Glück aus. Wer gescheit ist und seinen Verstand dazu benützt, seine Fehler zu beschönigen und die Toren zu betrügen, dem schlägt sein Verstand zum Unglück aus.

Warum man im Altertum die Kunst des Kriegswagenfahrens so hoch schätzte, das war, weil man dadurch die Grausamen vertreiben und die Verkehrten abhalten konnte.

König Hui von Liang-We sprach zu Hui Dsï: »In alter Zeit waren die Fürsten der Staaten immer die Tüchtigsten. Nun komme ich Euch an Tugend nicht gleich, darum will ich Euch mein Reich abtreten.« Hui Dsï lehnte ab. Der König drang in ihn und sprach: »Mein Reich gehört zu den größten, die es gibt. Wenn ich es nun einem weisen Mann abtrete, so kommt dadurch die Habsucht und die Eifersucht der Menschen zum Stillstand. Darum möchte ich, daß Ihr auf mich hört!« Hui Dsï sprach: »Wenn es so ist, wie Ihr sagt, so kann ich nicht auf Euch hören. Ihr seid ein mächtiger Fürst. Daß Ihr Euren Staat einem andern schenkt, mag angehen. Ich aber bin ein einfacher Mann aus dem Volk, dem Gelegenheit geboten ist, einen Großstaat zu bekommen; wenn ich nun ablehne, so trägt das erst recht dazu bei, die Habsucht und Eifersucht im Volk aufhören zu machen.« In alter Zeit waren die, die im Besitz der Staaten waren, immer weise. Ein Weiser, der das Weltreich überkam, war Schun. So wollte der König aus Hui Dsï einen Schun machen. Ein Weiser, der das Weltreich ablehnte, war Hü Yu. Also wollte Hui Dsï ein Hü Yu sein. Aber die Leistungen eines Yau, Schun und Hü Yu bestanden nicht nur darin, daß der eine das Reich an Schun abgab und daß Hü Yu es ablehnte, sondern ihre andern[307] Handlungen standen auch im Einklang damit. Da nun das andre fehlte und jene Menschen dennoch es Yau, Schun und Hü Yu gleichtun wollten, kam es dahin, daß König Hui vom Staate Tsi besiegt in Sack und Hut seine Unterwerfung anbot in Güan, und daß der König We von Tsi sich kaum bereit finden ließ, sie anzunehmen, und daß Hui Dsï verkleidet von We wegfahren mußte, und es ihm kaum gelang, aus dem Gebiet von We zu entkommen. Darum darf man in seinen Taten nicht einen glücklichen Zufall sich als ein wirkliches Verdienst zuschreiben.

Kuang Dschang sprach zu Hui Dsï in Anwesenheit des Königs Hui von We: »Die Heuschrecken tötet der Bauer, wenn er sie fängt, warum wohl? Weil sie dem Korn schaden. Ihr reist umher oft mit mehreren hundert Wagen und mehreren hundert Nachfolgern, mindestens mit einigen Dutzend Wagen und einigen Dutzend Nachfolgern. Das heißt auch nicht arbeiten und doch essen, der Schade davon fürs Korn ist noch schlimmer als der von den Heuschrecken angerichtete.«

Der König Hui sprach: »Hui Dsï wird es schwer haben, dir zu erwidern. Immerhin mag er seine Meinung sagen.«

Hui Dsï sprach: »Wenn man heutzutage eine Stadtmauer baut, so stehen die einen oben und stampfen die Erde fest, andre schleppen drunten in Körben Erde herbei. Wieder andre haben die Pläne in der Hand und beaufsichtigen den Bau. Ich gehöre zu den Aufsehern mit den Plänen in der Hand. Wenn man eine Seidenspinnerin in Seide verwandeln würde, könnte sie nicht mehr die Seide verarbeiten. Wenn man einen Zimmermann in Holz verwandeln würde, so könnte er nicht mehr das Holz verarbeiten. Wenn man einen Weisen in einen Bauern verwandeln wollte, so könnte er nicht mehr die Bauern in Ordnung halten. Ich bin aber einer, der die Fähigkeit hat, die Bauern in Ordnung zu halten. Warum willst du mich denn durchaus mit den Heuschrecken vergleichen?«

Hui Dsï hatte sich also zur Aufgabe gemacht, den Staat We in Ordnung zu bringen. Aber seine Ordnung war keine Ordnung. Zur Zeit des Königs Hui kämpfte We in 50 Schlachten und wurde zwanzigmal besiegt, und die Gefallenen überstiegen alle Schätzungen.[308] Der beste Feldherr und der Lieblingssohn des Königs wurden gefangen genommen. Die Torheit seiner großen Pläne diente der Welt zum Gelächter, und man wies mit den Fingern auf ihre Fehler hin. Dazuhin bat er den Geschichtsschreiber des Hauses Dschou, seinen Namen noch berühmter zu machen20. Er belagerte Han Dan drei Jahre lang, ohne es erobern zu können. Seine Soldaten erschöpften sich an dieser Aufgabe und die Finanzen des Staates waren aufgebraucht. Da kamen von allen Seiten Heere gegen We gezogen und alle Untertanen verurteilten ihn und auch die Fürsten rühmten ihn nicht. Er mußte sich bei Di Dsiän (dessen Warnung er vorher in den Wind geschlagen) entschuldigen. Darauf hörte er auf die Ratschläge dieses Mannes, und so blieb seine Dynastie noch vor dem Untergang bewahrt. Aber die Schätze waren in alle Winde zerstreut, und sein Gebiet war ihm von allen Seiten verkleinert worden, und der Niedergang von We fing damit an.

Dschung Fu ist ein hoher Titel. Sein Reich abzutreten ist eine ernste Sache. Wenn Hui Dsï auch behauptete, daß er diese Anerbietungen zurückgewiesen habe, so fand er keinen Glauben; daß aber seine Worte Gehör fanden, und ein solches Unheil die Folge war, war ein Zeichen, daß seine Ratschläge nicht geschickt waren. Wenn aber ein ungeschickter Mensch ein Reich in Ordnung bringen will, so richtet er den größten Schaden an in diesem Land. Zum Glück hatte nur der König von We auf ihn gehört. Was er also wirklich geleistet, war eine allgemeine Schädigung des Reiches, und das nannte er dann in Ordnung bringen; da war die Verurteilung des Kuang Dschang wirklich angebracht.

Als Bo Gui zum erstenmal mit Hui Dsï zusammenkam, riet ihm Hui Dsï stark zu sein. Bo Gui antwortete nichts. Hui Dsï ging weg, da sagte Bo Gui zu den Leuten in seiner Umgebung: »Jemand hatte eine jüngere Frau eben geheiratet. Wenn die Braut ankommt, soll sie ruhig und ernst sein, vorsichtig im Gesichtsausdruck und sanft in den Bewegungen. Ein Junge hatte aus Reisig eine Fackel entzündet, die hell brannte. Da sprach die Braut: ›Die Fackel brennt zu stark.‹ Als sie in die Türe trat, war auf der Schwelle ein Loch. Die Braut sprach: ›Das muß man zustopfen, sonst verletzt sich noch[309] jemand am Fuß.‹ Das waren beides Dinge, die für die Braut nicht sehr angenehm waren, aber die Art, wie sie sich beklagte, war zu schroff. Hui Dsï sah mich heut auch zum erstenmal, dabei war sein Rat auch allzu schroff.«

Hui Dsï hörte es und sprach: »Nicht also! Im Buch der Lieder heißt es:


Ein hehrer und freundlicher Herr

Ist der Vater seines Volkes.


Hehr bedeutet groß, freundlich bedeutet freigebig. Wenn das Wesen eines Herrn groß und freigebig ist, so ist er der Vater seines Volkes. Die Eltern aber warten auch nicht erst lange, ehe sie ihre Kinder belehren. Was braucht er mich mit einer jungen Braut zu vergleichen, heißt es etwa im Buch der Lieder: Eine hehre und freundliche Braut?«

Wer andre schmutzig schilt, der wird von ihnen wieder schmutzig gescholten. Wer andre verkehrt schilt, der wird von ihnen wieder verkehrt gescholten. Auf welche Weise er andre schilt, wird er wieder von ihnen gescholten werden. Bo Gui sagte: »Hui Dsï hatte mich erst kürzlich kennengelernt und mir gleich zu schroff geraten.« Hui Dsï hörte es und schalt ihn und verglich sich dabei mit den Eltern des Bo Gui; war das nicht noch schroffer als Bo Gui? Er war wirklich zu schroff in seinen Worten.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 306-310.
Lizenz:

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