4. Kapitel
Heranziehung der Gleichgesinnten / Dschau Le

[355] Arten, die übereinstimmen, ziehen einander an. Wenn die Gesinnung übereinstimmt, findet Vereinigung statt. Töne, die gleich sind, klingen miteinander mit. So, wenn man die Tonika anschlägt, klingt die Tonika mit. Wenn man die Terz anschlägt, so klingt die Terz mit. Durch den Drachen wird der Regen veranlaßt. Durch den Körper wird der Schatten bewegt. Das, wodurch Glück und Unglück kommt, nennen die gewöhnlichen Menschen Schicksal, ohne zu wissen, aus welchen Bedingungen es entsteht. So herrscht, wenn ein Staat in Verwirrung ist, nicht nur Verwirrung, sondern er zieht sicher auch noch äußere Feinde an. Wenn er nur in innerer Verwirrung wäre, so würde er nicht notwendig zugrunde gehen. Wenn er aber auch noch äußere Feinde anzieht, so kann er unmöglich länger bestehen. Soldaten werden gebraucht, wenn es Vorteil bringt oder um der Gerechtigkeit willen. Wenn man einen Staat, der in Verwirrung ist, angreift, so muß er sich unterwerfen. Unterwirft er sich, so haben die Angreifer den Nutzen. Einen Staat in der Verwirrung anzugreifen, entspricht der Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit bringt dem Angreifer Ehre. Wenn etwas Ehre und Vorteil bringt, so werden es selbst mittelmäßige Fürsten unternehmen, wieviel mehr erst tüchtige Herrscher. Darum[355] sind Landabtretungen, Schätze, Waffen, demütige Worte und Unterwerfung nicht imstand, den Angriff abzuwenden.

Wenn Ordnung herrscht, so wird einer, der Gewinn sucht, nicht angreifen, wem es um Ruhm zu tun ist, der wird ihn nicht bekämpfen; denn jeder Angriff geschieht entweder um des Gewinns oder um des Ruhmes willen. Wenn weder Ruhm noch Vorteil zu holen sind, wird selbst ein starker Staat keinen Angriff unternehmen.

Der Ursprung des Militärs liegt weit zurück. Der Herrscher Yau kämpfte am Ufer des Roten Wassers, um die Miau-Barbaren des Südens zu unterwerfen. Schun schlug das Volk der Miau nieder und änderte seine Sitten. Yü griff die Tsau, We, Kü, Au und Yu Hu9 an, um seine Kultur durchzuführen. So war der Gebrauch des Militärs schon vor der Zeit der drei Dynastien vorhanden. Wenn ein Land in Unordnung war, bediente man sich des Militärs, wenn es in Ordnung war, hielt man damit inne. Wenn man ein Volk, das in Ordnung lebt, angreift, so gibt es kein größeres Übel. Wenn man ein in Verwirrung befindliches Land nicht züchtigt, so kommt das Volk zu dauerndem Schaden. Das ist der Wechsel, der durch Ordnung und Unordnung bedingt ist, der Grund für die Anwendung friedlicher oder kriegerischer Maßnahmen. Friedliche Maßnahmen sind der Beweis der Sympathie. Kriegerische Maßnahmen sind die Äußerung der Antipathie. Wenn Sympathie und Antipathie der Gerechtigkeit folgen, so haben friedliche und kriegerische Maßregeln ihre festen Grundsätze. Darin beruht die Größe der Heiligen. Das ist wie die Folge von Kälte und Hitze. Wenn die Zeit kommt, so entstehen ihre Wirkungen. Der Heilige kann die Zeit nicht machen, aber er kann in seinen Handlungen der Zeit entsprechen. Wenn die Handlungen der Zeit entsprechen, so ist der Erfolg groß.

Schï Yin Dschï war der Gesandte von Tschu an Sung. Der Minister der Arbeiten, Dsï Han, bewirtete ihn. Da sah er, daß die Mauer des südlichen Hauses überhängend war und nicht repariert wurde. Vom westlichen Haus her lief das Wasser durch die Halle und man hatte dem nicht abgeholfen. Schï Yin Dschï fragte nach dem Grund. Der Arbeitsminister Dsï Han sprach: »Der Nachbar[356] im Süden ist ein Handwerker, ein Schuster. Ich wollte ihn entfernen, da sprach sein Vater: ›Ich bin auf mein Schusterhandwerk angewiesen zum Unterhalt von drei Generationen. Wenn Ihr mich nun umziehen heißt, so wissen die Leute von Sung nicht mehr, wo sie ihre Schuhe kaufen sollen und wir haben dann nichts mehr zu essen. Ich bitte Euch, Mitleid zu haben mit meiner Armut.‹ Deshalb habe ich ihn dann nicht entfernt. Das westliche Haus ist hoch gelegen, mein Palast liegt tiefer, darum ist es vorteilhaft, daß das Wasser diesen Weg nimmt. Darum habe ich es nicht abgeleitet.«

Schï Yin Dschï kehrte nach Tschu zurück, als der König von Tschu eben im Begriff war, ein Heer auszurüsten und Sung anzugreifen. Da erhob Schï Yin Dschï bei dem König von Tschu Einsprache: »Sung darf man nicht angreifen. Sein Fürst ist tüchtig, sein Kanzler gütig. Wer tüchtig ist, gewinnt die Leute, wer gütig ist, vermag die Leute zu verwenden. Wenn Tschu den Staat Sung angreift, wird es keinen Erfolg haben und zum Gespött der Welt werden.« So ließ man Sung liegen und griff Dschong an. Meister Kung hörte es und sprach: »Was innerhalb der Mauern des Palastes gepflegt wird, das vermag die feindlichen Angriffe auf eine Entfernung von 1000 Li zunichte zu machen. Das hat der Arbeitsminister Dsï Han gezeigt10.« Sung lag inmitten von drei Großstaaten und doch hatte es zur Zeit des Dsï Han von keiner Seite her unter Angriffen zu leiden, und das ganze Gebiet lebte in Wohlstand, solange er Kanzler war, unter den Herzogen Ping, Yüan und Ging, bis an sein Lebensende. Denn er war gütig und einfach. Darum war das Lichtschloß mit Stroh gedeckt und hatte Pfosten aus Bambus und drei Stufen aus Erde, um den Wert der Einfachheit zu zeigen.

Dschau Giän Dsï war im Begriff, We zu überfallen. Da sandte er den Schï Mo hin, um den Staat auszukundschaften. Ein Monat war ausgemacht, aber es vergingen sechs Monate, ehe er zurückkehrte. Dschau Giän Dsï sprach: »Warum so spät?« Schï Mo sprach: »Wenn man auf Vorteil sinnt und doch zu Schaden kommt, so ist das nicht klug. Nun ist Gü Bo Yü Kanzler und Schï Yu steht ihm zur Seite. Kung Dsï ist Ratgeber und Dsï Gung führt den Befehl angesichts des Fürsten, und dieser hört sehr auf ihn. Im Buch[357] der Wandlungen heißt es: ›Er zerstreut seine Partei, großes Heil.‹ Die Zerstreuenden sind weise. Die Partei sind die vielen. Die Größe ist der Anfang des Heils. Er zerstreut seine Partei, großes Heil, bedeutet also, daß er viele tüchtige Männer zu Gehilfen hat11

Darauf rüstete Dschau Giän Dsï ab und unternahm nichts. Alles was man überlegt, ist zweifelhaft. In zweifelhaften Fällen soll man die Taten nach der Gerechtigkeit beschließen. Wenn man sich der Gerechtigkeit zu folgen entschließt, so haben die Pläne keinen Mißerfolg. Wenn man in seinen Plänen keinen Mißerfolg hat, so folgen einem Ruhm und wirklicher Vorteil. Wenn ein tüchtiger Herrscher etwas unternimmt, so braucht es nicht erst ein Niederholen der Flagge oder den Tod des einen Feldherrn, um Sieg oder Niederlage zu erkennen: er erforscht die wirken den Ursachen, und Gewinn und Verlust, Ehre und Schande werden dadurch fest bestimmt. Darum waren tüchtige Männer dasjenige, worauf man unter den drei ersten Dynastien besonderen Wert legte.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 355-358.
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