6. Kapitel
Abhandlung über den Wandel / Hing Lun

[361] Der Wandel des Herrschers ist verschieden von dem der geringen Leute. Wenn auch die Lage nicht günstig ist und die Zeit nicht geeignet, muß man in allen Dingen Vollkommenheit erstreben, um Vollendung zu erreichen, so wird man das Leben des Volkes in die Hand bekommen. Das Leben des Volkes in der Hand zu haben ist ein schweres Amt, man darf dabei nicht an die eigene Zufriedenheit denken. Wenn ein geringer Mann diese Absicht im Staate ausführen wollte, so würde seine engste Umgebung ihn nicht dulden.

Yau trat das Weltreich an Schun ab. Damals war Gun12 ein Lehensfürst, er ergrimmte über Yau und sprach: »Wer die Wahrheit des Himmels erlangt hat, ist Weltherrscher, wer die Lehre des Weltherrschers erlangt hat, gehört unter die drei höchsten Ratgeber. Ich habe die Lehre des Herrschers erlangt, und doch hat er mich nicht unter die drei höchsten Ratgeber aufgenommen.« Damit hat Yau unrecht getan. Er wollte unter allen Umständen den Posten eines der drei höchsten Räte erlangen, dabei war er grimmiger als ein Raubtier. Er beabsichtigte einen Aufruhr zu machen. Er war wie ein stößiges Raubtier und dachte dadurch seine Stadt zu schirmen und dachte, indem er seinen Schwanz erhob, könne er ihn als Feldzeichen benützen. Wenn man ihn rief, kam er nicht, sondern tobte sich draußen in den Feldern aus, und bereitete so dem Herrscher Kummer, darauf verbannte ihn Schun auf den Flügelberg (Yüschan) und schlachtete ihn mit einem scharfen Messer (von Wu). Yü, sein Sohn, wagte nicht darüber zu zürnen, sondern diente dem Schun sogar noch und wurde zum Verwalter der Erd- und Wasserarbeiten ernannt, um die Wasser der Flüsse und Seen abzuleiten. Seine Haut war schwarz gebrannt, keinen Schritt wagte er zu viel zu machen und wagte nicht frei zu atmen, um das Wohlgefallen des Herrschers zu erlangen.

Dschou Sin war ein schlechter Herrscher. Er tötete den Grafen Me und machte Fleischspeisen aus ihm, er tötete den Fürsten Gui und machte gekochtes Fleisch aus ihm. Damit bewirtete er die[362] Lehensfürsten im Tempel. König Wen vergoß Tränen und seufzte darüber. Dschou Sin fürchtete, daß er einen Aufruhr erregen könnte, und wollte den König Wen töten und Dschou vernichten. König Wen sprach: »Wenn auch ein Vater vom Wege abgewichen ist, so wird sein Sohn doch nicht wagen, seinem Vater nicht zu dienen. Wenn auch ein Fürst nicht gütig ist, so wird ein Beamter deshalb doch nicht wagen, seinem Fürsten nicht zu dienen. Wer sollte ein Recht haben, gegen den König sich zu empören?« Darauf verzieh ihm Dschou Sin. Die Leute auf Erden hörten das und waren der Meinung, daß König Wen Ehrfurcht vor seinem Oberen und Mitleid mit seinen Unteren habe.

Im Liederbuch heißt es:


»Wen Wang allein

Vermag vorsichtig zu sein.

Er versteht dem Herrn zu dienen

Und darum viel Glück zu verdienen13


Tsi griff Sung an. Der König von Yän sandte Dschang Kui, der die Truppen von Yän Tsi zu Hilfe führen sollte. Der König von Tsi tötete ihn. Als der König von Yän das hörte, da flossen ihm die Tränen stromweise herunter, dann berief er seine Beamten und sagte zu ihnen: »Ich wollte ihm helfen und Tsi tötete meinen Abgesandten, nun will ich ein Heer ausrüsten um Tsi anzugreifen.« Ein Feldherr hatte schon den Befehl entgegengenommen. Da trat Fan Yu vor den König und widersprach ihm: »Einem würdigen König will ich gerne dienen. Ihr aber seid kein würdiger Herr, darum bitte ich um meinen Abschied, denn ich möchte Euch nicht länger dienen.«

König Dschau sprach: »Was ist dein Grund?« Jener erwiderte: »In der Schlacht bei Sung Hia geriet Euer Vater in die Hand der Leute von Tsi und mußte seine Diener dahinten lassen. Ihr wart darüber aufs äußerste entrüstet, aber dennoch dientet Ihr dem König von Tsi weiterhin. Denn Eure Kraft war gegen Tsi nicht ausreichend. Nun ist Dschang Kui getötet worden und Ihr wollt Tsi angreifen, damit nehmt Ihr Dschang Kui wichtiger als Euren Vater.«[363]

Der König sprach: »Du hast Recht.« Darauf bat Fan Yu den König, die Soldaten zurückzurufen. Der König sprach: »Ja, aber was dann?« Fan Yu erwiderte: »Ich bitte, daß Ihr Trauergewänder anzieht und Euren Palast verlaßt und auf dem Anger wohnt, einen Gesandten nach Tsi schickt und ehrfurchtsvoll Euch entschuldigt mit den Worten: »Das alles ist meine Schuld. Ihr seid ein würdiger Herr, wie wolltet Ihr die Abgesandten der Lehensfürsten alle töten? Und unsern Abgesandten von Yän habt Ihr getötet, sicher hat unser Staat nicht genügend Vorsicht in der Wahl des rechten Mannes walten lassen. Ich will Buße tun und bitte um Verzeihung.«

Als der Gesandte nach Tsi kam, war der König von Tsi gerade bei einem großen Festmahl. Seine Umgebung und seine Beamten waren sehr zahlreich. Darum ließ er den Gesandten vor sich kommen, um Bericht zu erstatten. Der Gesandte berichtete: »Der König von Yän ist sehr besorgt, und läßt um Verzeihung bitten.« Als er fertig war, ließ der König ihn die Sache nochmals wiederholen, um sich vor seiner Umgebung und seinen Beamten zu rühmen. Darauf sandte er einen Gesandten in niedrigem Rang, um dem König von Yän sagen zu lassen, daß er wieder in seinen Palast ziehen solle. Das war der Grund, warum Tsi später am Dsi-Fluß eine große Niederlage erlitt, so daß es in größte Not kam und 70 Städte verlor, die es, wenn Tiän Dan nicht gewesen wäre, wahrscheinlich nicht zurückgewonnen hätte. König Min war auf seinen großen Staat Tsi stolz und ging zugrunde. Tiän Tan hatte nur noch die Stadt Dsi Mo und vollbrachte ein großes Werk.

In den Liedern heißt es in diesem Sinne:


»Wen man verderben will, muß man erst schwer beladen,

Wen man zu Boden werfen will, muß man erst hoch erheben,

Beladen zu werden ohne zu verderben,

Erhoben zu werden ohne zu Fall zu kommen;

Das kann nur einer, der den rechten Weg hat14


König Dschuang von Tschu sandte Wen Wu We nach Tsi. Er ging durch Sung, ohne erst um Durchgangserlaubnis zu bitten. Als er zurückkam sprach Hua Yüan zum Herzog Dschau von Sung: »Als[364] er hinging, bat er nicht um Durchgangserlaubnis, bei der Rückkehr bat er ebenfalls nicht um Durchgangserlaubnis, damit hat er uns als ein abhängiges Gebiet behandelt. Außerdem hat er, als der Fürst von Tschu mit uns auf die Jagd ging, den Wagenführer Eurer Hoheit in Mong Dschu geschlagen. Ich bitte, daß er hingerichtet wird.« So tötete man Wen Wu We auf dem Damm des Flusses Yang Liang.

König Dschuang spielte gerade mit seinem Ärmel, als er es hörte, da sprach er: »Ach!« schleuderte seinen Ärmel zurück und stand auf. Er kam bis in den Hof, ehe man ihm die Schuhe nachbringen konnte, bis zum Tor, ehe man ihm sein Schwert umbinden konnte und bis zum Markt Pu Schu, ehe sein Wagen ihn einholte. Darauf zog er auf den Anger und versammelte ein Heer, mit dem er Sung neun Monate lang belagerte. Es entstand eine solche Hungersnot in der Stadt, daß die Leute ihre Kinder austauschten und sie aufaßen, Knochen spalteten und damit kochten. Da führte der Herzog von Sung entblößten Leibes ein Opfertier heraus, demütigte sich, unterwarf sich und erklärte, daß er nicht mehr könne. Er sprach: »Wenn Euer großer Staat uns zu schonen beabsichtigt, so werden wir alles tun, was Ihr befehlt.«

König Dschuang sprach: »Der Herzog von Sung redet vernünftig.« Darauf zog er sein Heer 40 Li weit zurück und weilte unter dem Tor von Lu, dort wurde der Friede geschlossen, dann kehrte er heim.

Der Verlauf aller Ereignisse beruht auf dem Herrscher. Das Übel der Herrscher kommt davon her, daß sie, ehe Not an Mann geht, ihre Leute gleichgültig behandeln. Wenn man die Leute gleichgültig behandelt, so treibt man die Unternehmungen leicht zu weit. Nun war ein Beamter ohne Berechtigung getötet worden, darum führte der König von Tschu persönlich ein Heer ins Feld, um ihn zu rächen, das war entschieden ein Zeichen, daß ihm seine Leute nicht gleichgültig waren. Als der Herzog von Sung sich unterwarf und seine Erschöpfung ankündigte, zog er sein Heer zurück. Das zeigt, daß er die Dinge nicht auf die Spitze trieb. Darum konnte er die Fürsten in Han Yang versammeln und sie[365] an seinem Siegesmahl teilnehmen lassen, denn er hatte sich in seinen Handlungen nach der Gerechtigkeit gerichtet. Durch bloße Macht hätte er das nicht erreicht.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 361-366.
Lizenz:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon