8. Kapitel
Beachten der Anzeichen / Guan Biau

[369] Im Beurteilen der Gesinnung der Menschen und in der Beobachtung der Entwicklung der Dinge muß man erfahren sein, muß man tief blicken. Der Himmel ist wohl hoch, und doch ruhen Sonne und Mond, Sterne und Tierkreiszeichen, Wolken und Wind, Regen und Tau zu keiner Zeit. Die Erde ist wohl groß, und doch hören Wasser und Quellen, Kräuter und Bäume, Pelztiere und Federtiere, Glatte und Schuppige niemals auf. Was auch zwischen Himmel und Erde wohnt im Räume zwischen den sechs Richtungen ist darauf eingerichtet, daß es einander fördere und nütze, aber es gibt daneben Unzähliges, das einander Schaden und Gefahr bringt. Mit den menschlichen Angelegenheiten verhält es sich ebenso. Die Taten folgen der Gesinnung, die Gesinnung folgt den Trieben. Wenn die Triebe kein Maß haben, so hat die Gesinnung kein Maß. Wenn die Gesinnung eines Menschen kein Maß hat, so kann man nicht wissen, wie er handeln wird. Das Herz des Menschen[369] ist verborgen und geheimnisvoll, man kann es schwer erkennen, tief und unergründlich, man kann es schwer ermessen. Darum ist der Heilige mit seinem Sinn auf die Handlungen gerichtet. Worin der Heilige den andern Menschen überlegen ist, das ist sein Vorherwissen. Er weiß die Dinge vorher, weil er stets ihre Anzeichen und Folgen prüft. Was ein Vorauswissen abgesehen von diesen Anzeichen und Folgen anlangt, so ist ein Yau und Schun darin ganz in derselben Lage wie alle andern. Obwohl die Folgen leichter zu erkennen sind und die Anzeichen schwieriger, so kann doch auch ein Heiliger hier nichts im Sturm erreichen. Die Menschen der Menge kennen den Weg nicht, auf dem man dahin gelangt, und weil sie den Weg nicht kennen, so halten sie ein solches Vorauswissen entweder für übernatürlich oder für zufällig. Aber es ist weder übernatürlich noch zufällig, sondern den Naturgesetzen nach kann es nicht anders als eintreffen. Ein Gou Tschong Dsï und Wu Ki kamen diesem Ziel nahe.

Gou Tschong Dsï ging als Sondergesandter von Lu nach Dsin. Als er durch We kam, da hielt ihn der Minister Yu Dsai Gu Tschen auf und bewirtete ihn. Er hatte ein Musikchor aufgestellt, aber ließ nicht musizieren. Als sie vom Weine warm geworden waren, beschenkte er ihn mit einem kostbaren Nephrit. Als Gou Tschong Dsï von seiner Reise zurückkam und wieder durch We kam, da ging er nicht wieder hin um sich zu verabschieden. Sein Wagenlenker fragte: »Kürzlich hat Euch Yu Dsai Gu Tschen doch bewirtet, und Ihr habt Euch sehr darüber gefreut. Wie kommt es, daß Ihr jetzt auf der Rückreise nicht bei ihm vorsprecht, um Euch zu verabschieden?« Gou Tschong Dsï sprach: »Daß er mich aufhielt und bewirtete, war ein Zeichen, daß er Gefallen an mir gefunden hatte, damit daß er zwar Musik aufstellte, aber nicht musizieren ließ, deutete er mir einen geheimen Kummer an. Damit daß er mir, vom Weine warm geworden, einen wertvollen Nephrit schenkte, hat er ihn mir zur Aufbewahrung anvertraut. Daraus ist zu schließen, daß in We innere Wirren bevorstehen.« Kaum war er dreißig Li von We entfernt, da hörte er, daß Ning Hi einen Aufruhr machte, in dem Yu Dsai Gu Tschen für seinen Fürsten starb.[370]

Da wandte er seinen Wagen und beweinte ihn dreimal, dann kehrte er heim. Zu Hause angekommen ließ er die Familie seines Freundes holen und sonderte ihnen einen Teil seines Hauses zur Wohnung ab, er teilte sein Einkommen mit ihnen und sorgte für ihren Lebensunterhalt. Als der Sohn des Verstorbenen herangewachsen war, gab er ihm den Nephrit zurück.

Meister Kung hörte davon und sprach: »Mit einem Weisen kann man sich geheim verständigen. Einem Guten kann man Besitztümer anvertrauen: das hat Gou Tschong Dsï bewiesen.«

Gou Tschong Dsï beobachtete den Yu Dsai Gu Tschen tief und ahnungsvoll. Ohne daß er seine Verhältnisse kannte, verstand er seine Absicht, das heißt in der Tat Menschenkenntnis.

Wu Ki verwaltete (im Staate Liang We) das Gebiet im Westen des Gelben Flusses. Wang Tso verleumdete ihn bei dem Fürsten Wu von Liang We. Der Fürst Wu ließ ihn abberufen. Als Wu Ki nach An Men kam, hielt er den Wagen an und ruhte, er blickte nach der Gegend im Westen des Flusses und weinte, daß ihm die Tränen in Strömen herunter rollten. Sein Diener sprach: »Soweit ich Eure Gesinnung kenne, betrachtet Ihr den Verlust der Welt nicht ernster als den Verlust eines alten Paars von Schuhen. Warum weint Ihr so, da Ihr aus der Gegend am Gelben Fluß scheiden müßt?«

Wu Ki trocknete die Tränen und antwortete ihm: »Das verstehst Du nicht. Wenn der Fürst mich wirklich verstanden hätte und mich meine sämtlichen Fähigkeiten hätte entfalten lassen, so wäre Tsin zu vernichten möglich gewesen, und in dem Land am Gelben Fluß hätte man die Ordnung eines weisen Königs einführen können. Da nun aber der Fürst auf die Reden von Verleumdern gehört und mich nicht verstanden hat, wird das Gebiet am Gelben Fluß an Tsin fallen, ehe eine lange Zeit vorbei ist, und der Staat Liang We wird von da ab abwärts gehen.«

Wu Ki verließ Liang We wirklich und ging nach Tschu. Das Gebiet im Westen des Gelben Flusses fiel alles an Tsin, We wurde von Tag zu Tag schwächer, während Tsin sich immer mehr ausdehnte. Das hatte Wu Ki vorausgesehen und darüber geweint.[371]

Von den guten Pferdekennern des Altertums urteilte Han Fong Schï nach Mund und Zähnen, Ma Tschau nach den Backen, Dsï Nü Li nach den Augen, We Gi nach der Mähne, Hü Pi nach der Schwanzgegend, Tou Fa Go nach Brust und Rippen, Guan Tsing nach den Lippen, Tschen Bo nach den Beinen, Tsin Ya nach der Vorderhand, Dsan Gün nach der Hinterhand. Alle diese zehn Männer waren die berühmtesten Pferdekenner auf Erden (und ein Wang Liang von Dschau und Bo Lo und Giu Fang Güan von Tsin übertrafen sie noch an Scharfsinn)18. Die Kennzeichen, nach denen sie urteilten, waren verschieden, aber alle verstanden es, wenn sie ein einziges Anzeichen des Pferdes sahen, zu beurteilen, wie hoch oder niedrig seine Gelenke waren, wie sicher oder stolpernd es ging, wie stark oder zart seine Kraft war, wie lang oder kurz seine Leistungsfähigkeit. Aber es ist nicht nur beim Beurteilen von Pferden so: die Menschen haben auch solche geheimen Zeichen, die Ereignisse und Staaten: alle haben solche Merkmale. Das Wissen des Heiligen umfaßt in Vergangenheit und Zukunft Jahrtausende: nicht daß er die Dinge errät, sondern er hat seine Gründe für das, was er sagt. Die Wahrsagebücher, wie ein Lü Tu oder Pan Bo, sind auf diese Weise entstanden19.

Fußnoten

1 Vgl. Liä Dsï 8; Schuo Yüan 4.


2 Sin Sü 8, 9; Dschuang Dsï XII, 7.


3 Vgl. die ausführliche Darstellung weiter unten.


4 Vgl. Huai Nan Dsï.


5 Die beiden Drachen wollten das Schiff zum Untergang bringen, wodurch Tsï Fe seines Schwertes verlustig gegangen wäre.


6 Vgl. Schï Ging, Da Ya 1, 5.


7 Korrigiert nach Dschu Dsï Ping I.


8 Han, Dschau, We.


9 Yu Hu wurde nach Schu Ging und Tschun Tsiu von Ki, dem Sohne Yüs, angegriffen.


10 Dieser Dsï Han z, Z. von Tschun Tsiu darf nicht mit dem Mann gleichen Namens z.Z. der Streitenden Reiche verwechselt werden.


11 Vgl. I Ging Hexagramm 59, 6 auf 4. Platz.


12 Gun ist der Vater des Yü.


13 Schï Ging, Da Ya 1, 2. 3. Da Ming 3.


14 Außerkanonisches Lied, vgl. Laotse 36.


15 Vgl. Schu Ging.


16 Vgl. Sin Sü.


17 Vgl. Schuo Yüan 1.


18 Glosse.


19 Dieser Zusatz: »wie ein Lü Tu oder Pan Bo« ist erst später in den Text eingedrungen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 369-372.
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