3. Kapitel
Hoffnung auf Tüchtige / Ki Kiän

[377] Wer Zikaden mit Feuer fangen will, muß dafür sorgen, daß sein Feuer hell ist und dann den Baum schütteln. Wenn das Feuer nicht hell ist, so nützt alles Schütteln des Baumes nichts. Die Helligkeit des Feuers beruht nicht nur auf dem Feuer, sondern auch auf der Dunkelheit der Umgebung. Heutzutage ist die Dunkelheit tief. Wenn ein Fürst seine Tugend leuchten lassen kann, so fallen ihm die Staatsmänner der ganzen Welt zu, wie die Zikaden ins[377] helle Feuer fliegen. Ein Reich kommt nicht von selber zur Ruhe, der Name wird nicht von selber berühmt, sondern das kommt erst, wenn man tüchtige Staatsmänner zu gewinnen weiß.

Giän Dsï von Dschau saß eines Tages da und seufzte tief: »Wie seltsam! Seit zehn Jahren beabsichtige ich We anzugreifen und doch gelingt es mir nicht.« Ein Mann aus seiner Umgebung sprach: »Dschau ist groß und mächtig, We ist schwach und klein, wenn Ihr nicht ernstlich wollt, so mag es hingehen, wenn Ihr aber ernstlich wollt, so könnt Ihr We sofort angreifen.« Giän Dsï sprach: »Es ist nicht so wie Du sagst. Es sind zehn Staatsmänner aus We bei mir hier. Als ich es angreifen wollte, da sagten alle zehn, es sei nicht recht. Wenn ich es nun angegriffen hätte, so würde ich gegen die Gerechtigkeit verstoßen.«

So vermochte zur Zeit des Giän Dsï We durch zehn Männer die Truppen von Dschau niederzuhalten bis zum Tode des Giän Dsï. Von We kann man sagen, daß es verstand, die rechten Männer zu gebrauchen. Zehn Staatsmänner gingen auf Reisen und das Land hatte Frieden. Von Giän Dsï kann man sagen, daß er geneigt war, gutem Rat zu folgen. Indem er auf die zehn Staatsmänner hörte, entging er dem Vorwurf, kleine Staaten überfallen und schwache Staaten annektiert zu haben.

Als der Fürst Wen von Liang We am Gehöft des Duan Gan Mu vorbeikam, verneigte er sich in seinem Wagen. Sein Diener sprach: »Weshalb verneigen sich Eure Hoheit?« Der Fürst sprach: »Ist das nicht das Gehöft von Duan Gan Mu? Duan Gan Mu ist ein würdiger Mann, ich wage es nicht, mich nicht vor ihm zu verneigen. Außerdem habe ich gehört, daß Duan Gan Mu nicht mit mir tauschen möchte, wie sollte ich wagen, ihn hochmütig zu behandeln? Duan Gan Mu ist ausgezeichnet durch seine Tugend, ich bin ausgezeichnet durch mein Land. Duan Gan Mu ist reich an Gerechtigkeit, ich bin reich an Besitz.«

Sein Diener sprach: »Ja, warum stellen ihn dann Ew. Hoheit nicht an?« Darauf bat der Fürst den Duan Gan Mu, sein Kanzler zu werden, aber Duan Gan Mu nahm es nicht an. Darauf setzte ihm der Fürst ein Einkommen von einer Million Malter Korn aus und ging[378] immer hin, ihn zu besuchen. Darüber waren alle Bürger erfreut und sangen untereinander sein Lob:


»Unser Herr liebt rechte Leute,

Darum ehrt er Duan Gan Mu,

Unser Herr liebt treue Leute,

Darum erhöht er Duan Gan Mu.«


Nicht lange danach zog Tsin mit einem Heere aus, um Liang We anzugreifen. Da erhob Sï Ma Tang (Sï Ma Yü) Einsprache bei dem Fürsten von Tsin und sprach: »Duan Gan Mu ist ein würdiger Mann und der Fürst von We ehrt in, das weiß die ganze Welt. Da ist es besser, ihn nicht mit Krieg zu überziehen!«

Der Fürst von Tsin war einverstanden und zog seine Soldaten zurück, ohne einen Angriff zu wagen.

Von Fürst Wen von Liang We kann man sagen, daß er es verstand, Krieg zu führen. Es heißt, daß ein Edler Kriege führt, so daß, ehe er den Feind erblickt, sein Sieg schon errungen ist. Das ist damit gemeint. Die gewöhnlichen Menschen machen es nicht so. Ihre Trommeln ertönen wie der Donner, ihre Signale erschüttern die Erde, der Staub wirbelt zum Himmel auf, die Pfeile fliegen dicht wie Regen, Verwundete und Tote werden auf Wagen weggebracht, man schreitet durch Gedärm und watet im Blut, und die unschuldigen Leute, die gefallen sind, erfüllen ganze Seen. Bestehen oder Untergang des Staates hängt davon ab. Da kann man dann nicht wissen, wie lang der Staat noch bestehen wird und wie lange der Herrscher noch am Leben bleibt. Das kommt davon her, daß er sich von Liebe und Pflicht so weit entfernt hat.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 377-379.
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