4. Kapitel
Untersuchung der Handlungen / Schen We

[379] Das Ich ist das Subjekt des Handelns, die Welt ist das Objekt des Handelns. Wer unterscheiden kann, worauf es beim Handeln ankommt, der erkennt das Wichtigere und das Unwichtigere. Wenn jemand seinen Kopf abschneiden würde, um seinen Hut zu wechseln, wenn er seinen Leib töten würde, um seine Kleider zu ändern, den würde man sicher für betört halten. Warum? Der[379] Hut dient ja nur zum Schmuck des Kopfes, die Kleider zum Schmuck des Leibes. Wenn man das, was geschmückt werden soll, tötet, um das, womit man es schmücken will, zu erlangen, so weiß man nicht, was man tut.

Aber die Art, wie die Welt dem Gewinn nachläuft, gleicht häufig diesem Betragen, denn wenn man seinen Leib in Gefahr bringt, sein Leben schädigt, sich um den Hals bringt und den Kopf abschneiden läßt, um sein Leben dem Gewinn zu opfern, so ist das auch Unwissenheit.

Der große König Tan Fu wohnte in Bin. Die Di-Barbaren griffen ihn an. Er brachte ihnen einen Tribut an Fellen und Seide dar, aber sie nahmen ihn nicht an. Er brachte ihnen einen Tribut von Perlen und Edelsteinen dar, aber sie waren nicht zufrieden; denn was sie wollten, war sein Land. Da sprach der große König Tan Fu: »Mit den älteren Brüdern zusammenzuleben und ihre jüngeren Brüder zu töten, mit den Vätern zusammenzuleben und ihre Söhne zu töten, das bringe ich nicht über mich. Bleibt alle ruhig hier, ob ihr meine Untertanen seid oder die der Di, was macht das für einen Unterschied? Außerdem habe ich gehört, daß man nicht um dessentwillen, wodurch die Menschen ernährt werden sollen, die Menschen schädigen darf.« Damit gab er seinem Pferd die Peitsche und ritt weg. Die Leute aber vereinigten sich und folgten ihm, so daß ein Reich am Fuß des Berges Ki entstand.

Von dem großen König Tan Fu mag man sagen, daß er es verstand, das Leben zu ehren. Wer das Leben zu ehren versteht, der wird auch, wenn es sich um Ehre und Reichtum handelt, nicht nur der Nahrung willen das Leben schädigen, noch, selbst wenn er in Niedrigkeit und Armut weilt, nicht um des Gewinnes willen seinen Leib in Verwicklung bringen. Wenn jemand Stellung und Besitz von seinen Vorfahren überkommen hat, so nimmt er es sicher nicht leicht, es zu verlieren. Aber das Leben geht noch auf viel ältere Quellen zurück und doch nimmt man seinen Verlust oft leicht. Ist das nicht ein großer Irrtum?

Die Staaten Han und Liang We stritten miteinander um Landgebiet. Meister Hua Dsï trat vor den Fürsten Dschau Li von Han. Fürst[380] Dschau Li sah traurig aus. Da sprach Meister Hua Dsï: »Wenn heute die Welt eine Urkunde schriebe und Euch unterbreitete des Inhalts: Wenn Ihr sie mit der linken Hand ergreifet, so soll Eure rechte Hand verloren sein, wenn Ihr sie mit der Rechten ergreifet, so soll Eure Linke verloren sein, doch wenn Ihr sie angreifet, so werde Euch die Weltherrschaft sicher sein: Würdet Ihr sie ergreifen oder nicht?«

Der Fürst Dschau Li sprach: »Ich würde sie nicht ergreifen.« Meister Hua Dsï sprach: »Sehr richtig! Von hier aus zeigt sich, daß die beiden Arme wichtiger sind als die ganze Welt. Der Leib ist noch wichtiger als die Arme. Der Staat Han dagegen ist bei weitem unwichtiger als die ganze Welt und worum heute der ganze Streit geht, das ist noch weit unwichtiger als Han. Und doch bekümmert Ihr Euren Leib und schädigt Euer Leben, nur darum besorgt, daß Ihr das strittige Gebiet erringet?«

Fürst Dschau Li sprach: »Gut. Ich habe zwar viele, die mir Ratschläge erteilen, aber diesen Rat hat mir noch keiner gegeben.«

Von Meister Hua Dsï kann man sagen, daß er Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden wußte. Wenn man weiß, was wichtig und was unwichtig ist, dann macht man in seinen Reden keinen Fehler.

Prinz Mou von Dschung Schan sprach zu Dschan Dsï: »Wenn man leiblich in der Einsamkeit weilt, aber das Herz noch immer nicht frei ist von dem Gedanken an die königlichen Paläste, was ist dann zu tun?«

Dschan Dsï sprach: »Man muß das Leben wichtig nehmen. Wenn man das Leben wichtig nimmt, so nimmt der Gewinn an Wichtigkeit ab.«

Prinz Mou von Dschung Schan sprach: »Wenn man das wohl weiß, aber sich nicht überwinden kann, was dann?«

Dschan Dsï sprach: »Wenn man sich nicht überwinden kann, so ist es besser, sich seinen Wünschen zu überlassen, dann leidet wenigstens der Geist keinen Schaden. Wenn man sich nicht überwinden kann und sich zwingt, seinen Wünschen zu entsagen, so bringt man sich in doppelte Schwierigkeit. Menschen, die in solch doppelter Schwierigkeit sind, werden aber niemals alt.«

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 379-381.
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