1. Kapitel
Abhandlung über die Wichtigkeit der Geradheit /Gui Dschï Lun

[402] Ein tüchtiger Herrscher nimmt nichts wichtiger als einen Staatsmann. Warum er einen Staatsmann wichtig nimmt, ist, weil er gerade herausredet. Wenn die Worte gerade sind, so tritt das Verkehrte deutlich hervor. Worin aber ein Herrscher zu leiden hat, das ist, daß er die Verkehrten zu erkennen sucht und dabei doch die geraden Worte haßt.

Das ist, wie wenn man die Quelle verstopft und doch das Wasser haben möchte. Woher soll denn das Wasser kommen? Wenn man das, was man wünscht, unwichtig nimmt, das, was man haßt, wichtig nimmt, woher soll dann das, was man wünscht, kommen?

Mong I trat vor den König Süan von Tsi. Der König sprach: »Ich höre, daß Ihr die Aufrichtigkeit liebt. Ist das so?« Jener erwiderte: »Wie wäre ich aufrichtig? Es heißt, ein Mann, der die Aufrichtigkeit liebt, wohnt nicht in einem ungeordneten Staat und tritt nicht vor einen unreinen Herrscher. Nun habe ich es erreicht vor Euch zu treten und wohne in Tsi, wie könnte ich da von mir behaupten, die Aufrichtigkeit zu lieben?« Der König Süan wurde zornig und sprach: »Das ist ein ungebildeter Mann.« Schon war er im Begriff ihn strafen zu lassen, da sagte Mong I: »In meiner Jugend interessierte ich mich für dieses Betragen, erwachsen übte ich mich in seiner Durchführung. Weshalb könnt Ihr nicht mit einem ungebildeten Menschen zusammen sein, um seine Vorliebe für Aufrichtigkeit zur Geltung zu bringen?« Darauf hieß ihn der König gehen.

Wenn Mong I auch vorsichtig war in seinen Worten in der Gegenwart des Königs, so würde er ihm doch sicher nie geschmeichelt haben. Wenn man aber jemand gefunden hat, der seinem Herrn[402] nicht schmeichelt, so ist das nicht wenig. Das ist es, was die tüchtigen Herrscher suchen und die untüchtigen hassen.

Hu Yüan beriet den König Min von Tsi: »Die Dreifüße der Yin-Dynastie sind im Hof der Dschou-Dynastie aufgestellt worden. Die Erdaltäre von Yin wurden von Dschou mit einem Dach zugedeckt. Ihre Musik, die die heiligen Tänze mit Schild und Speer begleitete, diente zum bloßen Vergnügen der Menschen. Die Musik einer untergegangenen Dynastie kann man nicht im Tempelbrauchen. Die Erdaltäre einer untergegangenen Dynastie dürfen nicht den Himmel sehen. Die Geräte einer untergegangenen Dynastie werden im Hofe aufgestellt, um als Warnung zu dienen. Laßt Euch das zur Warnung gereichen, daß nicht einst die großen Musikröhren von Tsi in anderer Staaten Hof aufgestellt werden, daß nicht der Altar des großen Herzogs einst überdeckt werde, daß nicht die Musik von Tsi von den Leuten zum Vergnügen gespielt wird.« Der König von Tsi hörte nicht auf die Worte von Hu Yüan. Darum ging dieser von ihm und beweinte drei Tage lang den Staat. Er sprach:


»Wer zuerst flieht, wird noch schöne Kleider tragen,

Die zu spät erst fliehen wollen,

Werden die Kerker füllen.

Ich sehe wie künftig die Leute nach Osten strömen und nicht wissen, wo sie bleiben sollen.«


Der König von Tsi fragte den Richter: »Welche Strafe setzt Ihr darauf, den Untergang des Staates im voraus zu beweinen?« Der Richter sprach: »Das Abhacken der Füße.« Der König sprach: »Man soll dem Gesetz seinen Lauf lassen.« Darauf ließ der Richter das Beil und den Block vor dem Osttor aufstellen. Er wollte ihn nicht töten sondern vertreiben.

Hu Yüan hörte es und ging hinkend bei ihm vorüber. Der Richter sprach: »Auf dem Beweinen des Staates steht die Strafe des Fußabhackens, seid Ihr zu alt oder zu unklug?«

Hu Yüan sprach: »Was heißt unklug sein?« Darauf sagte er: »Es kommen Menschen von Süden, als Hecht treten sie ein und als Haifisch weilen sie, so daß der Hof des Schlosses dem Gras anheimfällt und die Stadt zur Wüste wird. Yü hatte einen Bi Gan,[403] Wu hatte einen Dsï Sü, Tsi hat Hu Yüan. Aber man hört nicht auf seine Worte, sondern hackt ihm die Füße ab vor dem Osttor. Während man mir die Füße abhackt, trete ich ein in die Gemeinschaft jener beiden.«

Hu Yüan hatte nicht den Wunsch, sich die Füße abhacken zu lassen, sondern weil das Land in Unordnung war, die Regierung auf Abwegen war, jammerte ihn der Erdaltäre und des Volkes, darum stieß er solche Worte aus. Indem er solche Worte ausstieß, tat er es nicht, um zu kritisieren, sondern um das Verfallene zu retten. Darum setzte er sich der Gefahr aus. Die Zustände waren so, daß Dschu Dsï Tsi verließ und Da Dsï (als Feldherr) in den Tod gehen mußte.

Dschau Giän Dsï griff We an. Bei der Belagerung führte er selbst den Oberbefehl. Als die Schlacht begann, stand er von ferne, und zwar weilte er unter einem mit Rhinozeroshaut überdeckten Kriegswagen. Als er die Trommel als Zeichen zum Vorrücken schlug, gingen die Truppen nicht voran. Da warf Giän Dsï die Schlegel weg und seufzte: »Ach, was haben die Truppen sich so bald verschlechtert.«

Da trat der Offizier Dschu Go ein, nahm den Helm ab, präsentierte den Speer und sprach: »Ihr seid nicht fähig. Wieso sind die Truppen verschlechtert?« Da stieg dem Giän Dsï der Ärger zu Gesicht, und er sprach: »Ich habe niemand zum Feldherrn gemacht, sondern führe selbst die Truppen an, und du machst mir ins Gesicht den Vorwurf der Unfähigkeit. Wenn du dich dafür rechtfertigen kannst, mag es angehen, wenn nicht, mußt du sterben.« Jener erwiderte: »Früher hatte unser verewigter Herzog Hiän, nachdem er fünf Jahre den Thron bestiegen, neunzehn Staaten annektiert eben mit solchen Truppen. Als aber Herzog Hui zwei Jahre auf dem Thron war, zeigte es sich, daß er ausschweifend und grausam und nur schönen Mädchen zugetan war, so überfiel uns Tsin, und sie drangen bis 70 Meilen von unserer Hauptstadt Giang vor. Es waren eben dieselben Truppen. Als Herzog Wen zwei Jahre den Thron bestiegen hatte, flößte er ihnen wieder Mut ein, so daß nach drei Jahren das Heer wieder voll Mut und Selbstvertrauen[404] war. So schlug er in den Schlachten um Tschong Pu fünfmal die Truppen von Tschu. Er belagerte We und eroberte Tsau und legte seine steinernen Erdaltäre nieder und festigte den Thron des Himmelssohns und machte sich einen geehrten Namen auf der ganzen Welt. Das tat er mit eben denselben Truppen. So könnt auch Ihr, o Herr, nicht führen. Wie sollten die Truppen sich verschlechtert haben?«

Darauf verließ Dschau Giän Dsï seinen mit Rhinozeroshaut gepanzerten Kriegswagen und stellte sich an einen Platz, den Steine und Pfeile erreichen konnten. Sowie er nun die Trommel rührte, da folgten sämtliche Truppen seinem Zeichen.

Dschau Giän Dsï sprach: »Noch mehr als wenn ich tausend mit Leder bezogene Kriegswagen gewonnen hätte, hat es mir genützt, daß ich dies eine Wort des Offiziers Dschu Go gehört.«

Dem Offizier Dschu Go kann man das Zeugnis geben, daß er verstand, seinen Feldherrn zu mahnen. Mitten im Kampf, als Trommel und Schlegel gebraucht wurden, erreichte er es ohne Verschärfung der Strafe oder Erhöhung des Lohnes, nur durch ein einziges Wort, daß die ganzen Truppen mutig für ihren Fürsten in den Tod gingen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 402-405.
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