3. Kapitel
Kenntnis der Veränderungen / Dschï Hua

[407] Wer durch Tapferkeit einem andern dient, der muß zum Sterben bereit sein. Wer aber, ehe er ans Sterben geht, vom Sterben spricht, der kommt nicht in Betracht; denn obwohl ihn der Fürst kennt, ist es doch gerade so, als kennte er ihn nicht.

Was an der Weisheit das Wertvolle ist, ist, daß man die Veränderungen kennt. Die Betörten unter den Fürsten sind nicht also. Wenn die Änderungen noch nicht da sind, so wissen sie nichts davon, wenn sie da sind, so nützt es nichts mehr, wenn sie sie kennen. Unter den Dingen gibt es solche, die man vernachlässigen darf, und solche, die man nicht vernachlässigen darf. Der Tod der eigenen Person und der Untergang des Staates ist aber nichts, das man vernachlässigen darf. Das ist etwas, das die guten Fürsten wichtig nehmen und die betörten Fürsten leicht nehmen. Wenn man das leicht nimmt, wie wäre es möglich, daß das Reich nicht in Gefahr[407] geriete und das eigene Leben nicht in Bedrängnis käme. Gefahr und Bedrängnis führt zum Tod der eigenen Person und der Vernichtung des Staates. Das kommt davon her, daß man nicht zum voraus die Veränderungen weiß.

So ging es dem König Fu Tschai von Wu. Wu Dsï Sü war nicht unwissend über die kommenden Veränderungen. Er ermahnte den König, aber der hörte nicht auf ihn. Darum sank Wu in Trümmer, und das Unglück dehnte sich selbst auf den Ahnentempel aus.

König Fu Tschai von Wu war im Begriff mit seinem Heere auszuziehen, um Tsi zu bekämpfen. Wu Dsï Sü sprach: »Es geht nicht. Tsi und Wu unterscheiden sich durch Sitten und Gewohnheiten, und ihre Sprachen sind gegenseitig unverständlich. Wenn wir ihr Land erobern, so können wir es nicht bewohnen, wenn wir ihre Bürger unterwerfen, so können wir sie nicht gebrauchen. Wu und Yüo dagegen sind angrenzende Nachbarstaaten. Ihre Gebiete greifen ineinander über und sind zueinander gehörig. Die Sitten sind dieselben, die Sprachen sind verständlich. Wenn wir ihr Land erobern, können wir es bewohnen, wenn wir ihre Bürger unterwerfen, können wir sie gebrauchen. Yüo verhält sich zu uns ebenso. Die Macht von Wu und Yüo können nicht nebeneinander bestehen. Yüo ist für Wu wie eine Krankheit des Herzens und der Eingeweide. Obwohl sich diese Krankheit noch nicht äußert, so ist ihr Schaden tief und innerlich. Tsi ist für Wu nur wie eine Erkrankung an Krätze oder Flechten. Es ist nicht so wichtig sie zu heilen, denn sie tut keinen Schaden. Wenn man nun Yüo sich überläßt und Tsi bekämpft, so ist es, als fürchte man sich vor einem Tiger und wollte deshalb einen jungen Eber töten. Wenn man auch damit fertig wird, so ist damit doch nicht das Unglück der Folgezeit behoben.«

Tai Dsai Pi sprach: »Nein. Es gibt nur die zwei Staaten Tsi und Dsin, die noch nicht auf die Befehle des Königs hören. Wenn nun der König Tsi angreift und besiegt, so braucht er mit seinem Heer sich nur dem Staate Dsin zu nähern und es wird sich sicher unterwerfen. So bedarf es nur einer Expedition, um die zwei Staaten zur Unterwerfung zu bringen. Dann werden sicher alle Großstaaten[408] den Befehlen des Königs gehorchen.« Fu Tschai war einverstanden. Er hörte nicht auf die Worte des Wu Dsï Sü, sondern befolgte den Rat von Tai Dsai Pi. Wu Dsï Sü sprach: »Wenn der Himmel den Staat Wu zugrunde richten will, so macht er, daß Ihr im Kampfe siegt, wenn der Himmel unsern Staat Wu nicht zugrunde richten will, so macht er, daß Ihr nicht im Kampfe siegt.« Fu Tschai hörte dennoch nicht auf ihn.

Da hob Wu Dsï Sü sein Gewand auf beiden Seiten in die Höhe und ging mit hohen Schritten zum Hof hinaus. Er sprach: »Wehe, auf dem Hof des Schlosses von Wu werden sicher noch Dornen und Disteln wachsen.« Fu Tschai zog mit seinem Heere aus und griff Tsi an. Es kam zur Schlacht bei Ai Ling, in der Tsi völlig besiegt wurde. Als das Heer zurückkehrte, wollte er den Wu Dsï Sü hinrichten lassen. Wu Dsï Sü sprach vor seinem Tode: »Ach, daß ich doch ein Auge hätte, daß ich sehen könnte, wie die Leute von Yüo in Wu einmarschieren.« Darauf tötete er sich selbst. Fu Tschai nahm seinen Leichnam und ließ ihn den Giang hinuntertreiben1. Er ließ auch seine Augen ausstechen und über das Osttor von Wu heften, indem er sprach: »Wie solltest du es zu sehen bekommen, daß die Leute von Yüo in unser Land eindringen.«

Nach einigen Jahren rächte sich Yüo an Wu, die Hauptstadt wurde geplündert, die Dynastie vernichtet, die Erdaltäre zerstört, der Ahnentempel dem Erdboden gleichgemacht, und Fu Tschai geriet persönlich in Gefangenschaft.

Als Fu Tschai vor dem Tode stand sprach er: »Wenn die Toten noch Bewußtsein haben, mit welchem Gesicht soll ich dann dem Wu Dsï Sü entgegentreten.« Dann nahm er ein Tuch, bedeckte sein Gesicht damit und starb.

Als das Unglück noch nicht da war, ließ er sich nicht warnen. Als das Unheil da war, da half es ihm auch nichts mehr, daß er zur Einsicht kam. Darum war die Erkenntnis des Fu Tschai, daß er sich vor Wu Dsï Sü zu schämen habe, noch schlimmer als gar keine Erkenntnis.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 407-409.
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