5. Kapitel
Abgeschlossenheit / Yung Se

[411] Mit den Fürsten, die im Begriff sind, ihr Reich zu verlieren, kann man nicht geradeheraus reden. Wenn man nicht geradeheraus mit ihnen reden kann, so gibt es keine Möglichkeit für sie, auf ihre Fehler aufmerksam gemacht zu werden, und das Gute hat keine Möglichkeit, an sie heranzukommen. Wenn es nicht an sie heran kann, so sind sie abgeschlossen.

Zur Zeit des Herzogs Mu von Tsin waren die Jung groß und mächtig. Der Herzog Mu von Tsin schenkte ihrem Fürsten zwei Kapellen von weiblichen Musikanten und einen guten Koch. Der Häuptling der Jung war hoch erfreut. Aus diesem Anlaß hielt er fortdauernd Festgelage ab und hörte Tag und Nacht nicht auf. Von den Leuten seiner Umgebung sagten einige, Tsin werde einen Überfall machen, da schoß er sie mit dem Bogen tot. Aber Tsin machte wirklich einen Überfall, da war der Häuptling der Jung betrunken und schlief beim Weinfaß. Schließlich banden sie ihn lebendig und schleppten ihn fort. Ehe er gefangen war, konnte man ihn nicht zur Einsicht bringen, und selbst als er gefangen war, merkte er es noch immer nicht. Da wäre selbst der beste Ratgeber in Verlegenheit gekommen.

Tsi3 griff Sung an. Der König von Sung schickte jemand an die Stelle, wo Tsi einfiel. Der Bote kam zurück und sprach: »Die Soldaten von Tsi sind schon in der Nähe, die Leute unseres Landes sind in Furcht.« Die Umgebung des Königs sprach zu ihm: »Das ist, wie man zu sagen pflegt, daß das Fleisch von selber Maden entstehen läßt. Wenn man bedenkt, wie stark Sung und wie schwach Tsi ist, wie sollte so etwas möglich sein?« Der König von Sung wurde zornig und tötete den Boten ungerechterweise. Dann sandte er wieder jemand, der den Einfall der Truppen von Tsi beobachten sollte. Der Bote meldete dasselbe wie der vorige. Der König wurde abermals zornig und ließ auch ihn ungerechterweise töten. So ging es dreimal. Darauf schickte er wieder einen, der den Einfall der Truppen von Tsi beobachten sollte. Die Truppen von Tsi waren tatsächlich schon nahe, und die Bürger des Landes waren tatsächlich in Angst. Der Bote begegnete seinem Bruder, der sprach:[412] »Das Reich ist in großer Gefahr, wo willst Du hin?« Der Bote sprach: »Ich soll im Auftrag des Königs den Einfall der Truppen von Tsi beobachten. Unerwarteterweise sind sie schon ganz nahe, und die Leute des Landes sind in Angst. Nun habe ich dazu noch ein persönliches Unglück; die vor mir den Einfall der Truppen von Tsi beobachtet haben, sind getötet worden, weil sie berichtet haben, daß der Feind nahe sei. Wenn ich ihm nun den wahren Sachverhalt berichte, bin ich des Todes, wenn ich ihm nicht die Wahrheit berichte, so fürchte ich, daß ich auch getötet werde. Was soll ich tun?« Sein Bruder sprach zu ihm: »Wenn du der Wahrheit gemäß berichtest, so mußt du noch eher sterben als die andern und noch eher als sie zugrunde gehen.« Darauf berichtete er dem König: »Ich weiß gar nicht, wo der Feind ist, die Bürger des Landes sind ganz im Frieden.« Der König war hocherfreut. Die Leute der Umgebung sprachen alle: »Denen, die vorher hingerichtet wurden, geschah recht.« Der König schenkte ihm viel Gold. Da kam der Feind. Der König stürzte sich auf einen Wagen und entfloh. Jener Mann aber wurde reich in einem andern Staate.

Wenn man auf einen Berg steigt, so sieht man einen Ochsen wie ein Schaf, ein Schaf wie ein Ferkel. Und doch ist die Gestalt eines Ochsen anders als die eines Schafes und die Gestalt eines Schafes anders als die eines Ferkels. Das ist der Fehler des Standpunkts des Beobachters. Und wenn einer böse wird, daß Rinder und Schafe so klein sind, das ist ein ganz verrückter Mensch. Daß jener Fürst nun diese Verrücktheit zeigte im Lohnen und Strafen, das war der Grund, warum die Dynastie Dai von Sung zugrunde ging.

Der König von Tsi wollte, daß Schun Yü Kun den Kronprinzen unterrichte. Schun Yü Kun lehnte ab und sprach: »Ich bin untüchtig und nicht würdig, diese große Verantwortung zu übernehmen. Es wäre besser, wenn Ihr den Angesehensten im Lande wähltet.« Der König von Tsi sprach: »Ich verlange nicht von dir, daß du den Kronprinzen zu dem erziehst, was ich bin. Ich habe alles von Natur. Will ich denn von dir, daß du einen Yau aus dem Kronprinzen machst? Mach nur einen Schun aus ihm. Lehne nur nicht ab.«[413]

Alles erfolgreiche Reden hat bestimmte Gesetze, daß nämlich der Unweise auf den Weisen hört, der der unrecht hat sich nach dem richtet, der recht hat. Wenn jener sich aber selbst für weiser als Yau und Schun hielt, wie konnte dieser es anfangen, mit ihm zu reden. Hätte er geredet, so hätte jener sicher nicht darauf gehört. Aber man hat noch nie von einem solchen Fürsten gehört, der am Leben geblieben wäre.

Der König Süan von Tsi liebte das Bogenschießen. Er hatte es gerne, wenn die Leute ihn wegen seiner Kraft beim Bogenschießen rühmten. Der Bogen, den er gewöhnlich brauchte, war nur drei Dan stark. Er zeigte ihn seiner Umgebung. Die Leute seiner Umgebung versuchten alle den Bogen zu spannen und hielten inne, als sie ihn zur Hälfte gespannt hatten. Alle sagten: »Dieser Bogen ist mindestens neun Dan stark. Wer außer dem König könnte ihn spannen?«

Der König Süan hatte nur so viel Kraft, daß er höchstens einen drei Dan starken Bogen spannen konnte, und doch war er sein Lebtag der Meinung, daß er einen neun Dan starken Bogen benütze: ist das nicht bedauernswert?

Außer einem aufrichtigen Staatsmann bringt es niemand über sich, seinem Fürsten nicht zu schmeicheln. Aber es ist vom Schicksal so bestimmt, daß die aufrichtigen Staatsmänner auf Erden immer wenig sind und gegen die Mehrzahl nicht aufkommen. Darum beruht das Unheil der Fürsten, die ihr Reich in Verwirrung stürzen, immer darauf, daß sie drei Dan für neun Dan halten.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 411-414.
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