6. Kapitel
Wert der Zuverlässigkeit / Gui Dang

[429] Daß der Name sehr berühmt wird, kann man nicht erzwingen, man muß ihn auf seine Weise erstreben. Beim Beherrschen der Dinge kommt es nicht auf die Dinge an, sondern auf den Menschen. Bei der Beherrschung der Menschen kommt es nicht auf die Taten an, sondern auf den Herrscher.

Bei der Beherrschung der Herrscher kommt es nicht auf die Herrscher an, sondern auf den Himmelssohn. Bei der Beherrschung des Himmelssohns kommt es nicht auf den Himmelssohn an, sondern auf seine Wünsche. Bei der Beherrschung der Wünsche kommt es nicht auf die Wünsche an, sondern auf das Wesen. Das Wesen ist die Wurzel aller Dinge. Es darf weder übertrieben noch unzureichend sein. Alles kommt auf das Natürliche an. Das ist das Gesetz von Himmel und Erde. Wo rotes Fleisch zu sehen ist, da sammeln sich die Raben. Wenn die Katze im Zimmer ist, so zerstreuen sich die Mäuse. Wenn die Trauerkleider ausgebreitet sind, so wissen die Leute, daß Trauer ist. Wenn Pfeifen und Zithern aufgestellt sind, so wissen die Leute, daß es Musik gibt. Tang und Wu brachten ihren Wandel in Ordnung, und alle Welt folgte ihnen. Giä und Dschou Sin ließen sich die Zügel schießen, und alle Welt empörte sich. Da bedurfte es nicht erst der Worte. Der Edle prüft sich selbst und damit ist es getan.

In Tschu lebte ein Mann, der die Physiognomien der Menschen zu beurteilen verstand. Was er sagte, traf stets ein. So wurde er in dem ganzen Staate berühmt. König Dschuang empfing ihn und befragte ihn. Jener erwiderte: »Ich verstehe mich nicht auf die Physiognomie der Menschen, sondern ich verstehe es, die Menschen nach ihren Freunden zu beurteilen. Wenn ich einen Mann aus dem Volk sehe, dessen Freunde alle ehrfurchtsvoll und brüderlich, ernst und vorsichtig sind und die Gesetze des Staates fürchten, so wird sein Haus von Tag zu Tag reicher werden und er selbst wird immer mehr geehrt: Das ist ein Mann des Heils![429]

Wenn ich einen Fürstendiener sehe, dessen Freunde alle treu und wahr, tugendhaft und dem Guten zugetan sind, so wird er dem Fürsten von Tag zu Tag besser dienen, und sein Amt wird immer höher werden. Das ist ein Beamter des Heils.

Wenn ich einen Herrscher sehe, dessen Hofbeamte meist tüchtig sind und dessen Umgebung meist gewissenhaft ist, und wenn der Herr Fehler hat, ihn um die Wette mahnen, so wird der Staat immer sicherer, der Fürst immer geehrter, die Welt immer mehr zur Unterwerfung geneigt, das ist ein Fürst des Heils!

Ich kenne nicht die Physiognomie, sondern ich verstehe es, die Freunde der Menschen zu beobachten.«

König Dschuang billigte das. Eilig sammelte er tüchtige Staatsmänner um sich. Unermüdlich war er bei Tag und bei Nacht. Darauf erlangte er die Vorherrschaft auf Erden.

Darum, wenn ein tüchtiger Herrscher dauernd tüchtige Männer sieht, so besitzt er an ihnen nicht nur einfach einen wertvollen Zuwachs seines Hofes, sondern sie bewirken, daß sein Streben auf Großes sich richtet.

Unter den Angelegenheiten gibt es keine großen und kleinen, alle hängen sie miteinander zusammen. Jagen und Rennen, Schießen und Hunderennen sind nicht Dinge, die ein Tüchtiger unterläßt; er tut sie, aber er nimmt dennoch täglich zu an Weisheit. Ein untüchtiger Fürst tut solche Dinge und seine Weisheit wird täglich mehr umnebelt. Ein altes Wort sagt: Wenn Hochmut und Betörung nicht den Untergang nach sich ziehen, worauf will man dann noch warten?

In Tsi gab es einen Mann, der die Jagd liebte. Er versäumte viel Zeit und wartete lange vergeblich, ohne ein Wild zu fangen. Daheim schämte er sich vor seinen Hausgenossen. Auswärts schämte er sich vor seinen Freunden und Nachbarn. Er überlegte, warum er nichts gefangen. Da zeigte es sich, daß der Hund schlecht war. Wollte er einen guten Hund kaufen, so war er zu arm dazu. Darauf kehrte er heim und wandte sich eifrig dem Landbau zu. Durch den eifrigen Landbau wurde die Familie reich. Nachdem die Familie reich war, konnte er einen guten Hund kaufen. Nachdem[430] er einen guten Hund hatte, fing er zahlreiche Tiere, und seine Jagdbeute war immer größer als die der andern. Nicht nur auf der Jagd, in allen Dingen geht es so.

Daß einer die Hegemonie an sich gebracht, der nicht zuvor dem Landbau sich gewidmet und dadurch die Hegemonie errungen, ist noch nie vorgekommen. In diesem Punkte unterscheiden sich tüchtige und untüchtige Menschen. Die Wünsche der Tüchtigen und Untüchtigen sind auf dasselbe gerichtet. Ein Yau war in diesem Stück ebenso wie die Könige Giä, Yu und Li, wie er es aber angefangen hat, sein Ziel zu erreichen, darin unterschied er sich von ihnen. Darum muß ein tüchtiger Herrscher alles erst prüfen. Wenn er der Meinung ist, daß etwas nicht anginge, so tut er es nicht. Wenn er etwas für angängig hält, dann tut er es. Was er tut, tut er sicher auf die rechte Weise, so daß ihm durch nichts ein Schaden erwachsen kann. Auf diese Weise vermehren sich die Werke ins Tausendfache.

Fußnoten

1 Ying war die Hauptstadt von Tschu.


2 Zwei Feldherrn und der Sohn des Königs Hui von Liang We. Vgl. Mong Dsï.


3 Fan, Beamter von Dsin.


4 Die Worte »gütig« bis »wieder andere« sind hinzugefügt aus Yü Lan 6, 23.


5 Der junge Herr von Tsin ist wohl der Herzog Tschu Dsï.


6 Der Herzog We von Dschou war der Fürst des westlichen Dschou.


7 Tsiu Gia Rennen ist eine besondere Art des Wagenfahrens.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 429-431.
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