1. Kapitel
Abhandlung über das Äussere der Staatsmänner / Schï Yung Lun

[447] Der rechte Staatsmann ist nicht einseitig und parteiisch. Er ist milde, aber fest, er ist bescheiden, aber gründlich. Sein Äußeres ist großartig, und er ist nicht kleinlich darauf bedacht, in jedem Fall seine Prinzipien durchzusetzen. Er nimmt Kleinigkeiten unwichtig, aber seine Absichten halten am Großen fest. Er scheint nicht tapfer, aber nichts kann ihm Furcht einflößen. Er ist wie ein Wolf so fest im Zufassen und Wagemut, aber er läßt sich nicht beschämen und beschädigen. Angesichts der Not und in schwierigen Lagen ist er unerschütterlich bei seiner Pflicht, ohne von ihr abzulassen. Wenn er an hoher Stelle weilt und als Fürst begrüßt wird, so wird er nicht übermütig und verschwenderisch. Vom ersten Tage an, da er ein Volk beherrscht, sind seine Wünsche darauf gerichtet, die ganze Welt zur Anerkennung zu bringen. Er ist in seinen Geschäften großartig und nicht auf kleinen Gewinn aus. Seine Augen und Ohren verschmähen das Gemeine, und doch kann man mit ihm ein ganzes Zeitalter in Ordnung bringen. Reichtum und Ehre sucht er nicht, Armut und Niedrigkeit meidet er nicht. Er schätzt charaktervollen Wandel und hält die Vernunft hoch und schämt sich der List, um sich zu schützen. Er ist weitherzig und verurteilt die andern nicht, aber im Herzen ist er äußerst streng. Er läßt sich von Äußerem schwer beeinflussen und wird sich nie zu etwas Unwürdigem herablassen. Das ist das Äußere eines Staatsmannes.

In Tsi lebte ein Hundekenner. Sein Nachbar beauftragte ihn, einen Rattenfänger zu kaufen. Nach Verlauf eines Jahres hatte er einen gefunden, von dem er sagte: Das ist ein guter Hund. Der Nachbar fütterte ihn mehrere Jahre lang, aber er fing keine Ratten. Da sagte er es dem Hundekenner. Der sprach: »Das ist ein guter Hund, seine Neigung geht auf Hirsche, Wildschweine und Rehe,[447] nicht auf Ratten. Wenn du willst, daß er Ratten fängt, so mußt du ihn am Hinterbein fesseln.« Der Nachbar fesselte ihn am Hinterbein, und richtig fing er Ratten.

Die Kraft eines Streitrosses, das Streben einer Wildgans kann von Menschen erkannt werden, weil sie wahr sind. Mit den Menschen verhält es sich ebenso. Wenn einer wahrhaft etwas ist, so wird er geistig von den andern verstanden. Wie sollten dazu Worte ausreichen, es einem andern zu erklären. Das ist das Reden ohne Worte.

Ein Fremder trat vor den Weisen Tiän Piän (von Tsi). Er war genau nach der Sitte gekleidet, alle seine Bewegungen waren in Übereinstimmung mit den Regeln, sein Benehmen war gesetzt und elegant, seine Worte bescheiden und klug. Nachdem Tiän Piän ihn angehört hatte, verabschiedete er ihn. Der Fremde ging hinaus, Tiän Piän folgte ihm mit den Augen. Da sprach einer seiner Schüler zu Tiän Piän: »Ist dieser Fremde ein Staatsmann?« Tiän Piän sprach: »Ich fürchte, er ist kein Staatsmann. Denn was der Fremde verbarg und unterließ, ist gerade das, was ein Staatsmann tut und übt. Was dagegen ein Staatsmann verbirgt und unterläßt, das tat und übte der Fremde. Ich fürchte, der Fremde ist kein Staatsmann.«

Wenn das Feuer einen Winkel erleuchtet, ist die größere Hälfte des Zimmers im Dunkel. Wenn die Knochen und Gelenke früh verwachsen, so bekommt man Triefaugen und wächst sicher nicht groß.

Wenn einer vieles plant, so kann er es nicht überlegen. Wer sich anstrengt, alles zu sehen, der sieht viel, aber nicht deutlich. Seine Gesinnung wird nicht unparteiisch sein, und darum bringt er nichts zustande. Wer nur empfangen will und dem Geben abgeneigt ist, der wird, auch wenn sein Reich groß ist, nicht die Weltherrschaft erlangen. Und das Unheil naht sich schnell.

Darum ist das Benehmen des Edlen schön wie der Nephrit des Dschungschanberges und hoch wie ein Baum auf dem Berge, vorsichtig und sorgfältig und in Achtung vor den Schöpfungskräften, und er wagt es nicht, selbst zufrieden zu sein. Eifrig ist er; ob er Erfolg hat oder Mißerfolg, zeigt er keine Ausgelassenheit, sondern sein Herz ist einfältig und bescheiden.[448]

Tang Schang war einst Geschichtsschreiber. Ein guter Bekannter war der Meinung, daß Tang Schang sich über dieses Amt freute und fragte den Tang Schang darüber. Tang Schang sprach: »Es ist nicht so, daß ich nicht Geschichtsschreiber bleiben könnte, aber ich schäme mich dessen und will es nicht bleiben.« Sein Bekannter glaubte es nicht.

Als nun Liang We Han Dan belagerte, da beriet Tang Schang den König Hui von We, die Belagerung aufzugeben. Dafür bekam er (vom Staate Dschau) zum Danke den Kreis Bo Yang. Da erst glaubte sein Bekannter, daß ihm das Amt eines Geschichtsschreibers zu gering gewesen war. Nach einer Weile bat der Bekannte den Tang Schang für seinen Bruder um eine Anstellung. Tang Schang sprach: »Wenn der Fürst von We gestorben ist, dann soll dein Bruder an seiner Stelle König werden.« Da wandte sich der Bekannte, verneigte sich zweimal und glaubte ihm diesen Scherz. Glaubhafte Dinge nicht zu glauben und unglaubhafte Dinge zu glauben, das ist das Übel der Toren. Wenn man die menschlichen Leidenschaften kennt, aber sie nicht selbst abtun kann, was hilft es einem dann, wenn man die ganze Welt gewinnt?

Es gibt kein größeres Unglück als die Dummheit. Das Übel der Dummheit besteht darin, daß man unter allen Umständen es selber machen will. Wenn man es selber machen will, so laufen einem die Toren und gemeinen Menschen nach und loben einen. Wenn man unter solchen Umständen ein Land hat, so wäre es besser, man hätte keines. Der Brauch der Alten, ihren Thron dem Weisesten zu hinterlassen, ist auf diese Weise entstanden. Nicht daß sie ihre Nachkommen gehaßt hätten, nicht daß sie sich einen großen Namen hätten machen wollen, sondern es kam ihnen auf die Sache an.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 447-449.
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