III. Das System der Natur

[377] Wenn es in unserm Plane läge, den einzelnen Verzweigungen materialistischer Weltanschauung durch alle Windungen zu folgen, die größere oder geringere Konsequenz der Denker und Schriftsteller zu prüfen, die bald dem Materialismus nur gelegentlich huldigen, bald sich in langsamer Entwicklung ihm mehr und mehr nähern, bald endlich entschieden materialistische Gesinnungen nur gleichsam wider Willen verraten: so würde keine Epoche uns einen so reichen Stoff bieten, als die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, und kein Land würde in unsrer Darstellung einen breiteren Raum einnehmen, als Frankreich. Da ist vor allen Diderot, der Mann voll Geist und Feuer, der so oft als Haupt und Heerführer der Materialisten genannt wird, während er doch nicht nur einen langen Entwicklungsgang brauchte, bevor er zu einem Standpunkte gelangte, den man wirklich als Materialismus bezeichnen kann, sondern auch bis zum letzten Augenblick in einer Gärung blieb, die ihn nicht zur Abrundung und Klärung seiner Ansichten gelangen ließ. Diese edle Natur, welche alle Tugenden und Fehler des Idealisten in sich hegte, vor allen Dingen den Eifer für das Wohl des Menschen, aufopfernde Freundesliebe und einen unerschütterlichen Glauben an das Gute, Schöne und Wahre und an die Vervollkommnung der Welt, wurde, wie wir schon oben gezeigt haben, durch den Strom der Zeit gleichsam wider Willen dem Materialismus entgegengetrieben. Diderots Freund und Arbeitsgenosse, d'Alembert, war dagegen schon weit über den Materialismus hinaus, indem er sich »versucht fühlte zu meinen, daß alles, was wir sehen, nur Sinneserscheinung sei; daß es nichts außer uns gibt, was dem, was wir zu sehen glauben, entspricht.« Er hätte für Frankreich werden können, was Kant für die Weltgeschichte geworden ist, wenn er diesen Gedanken festgehalten und nur einigermaßen über das Niveau einer skeptischen Anwandlung erhoben hätte. So aber ist er nicht einmal der »Protagoras« geworden, zu dem ihn Voltaires Scherz zu machen suchte. Der rücksichtsvolle und zurückhaltende Buffon, der verschlossene und diplomatische Grimm, der eitle und oberflächliche Helvetius: sie alle stehen dem[377] Materialismus nahe, ohne uns jene festen Gesichtspunkte und jene folgerichtige Durchführung eines Grundgedankens darzubieten, durch welche Lamettrie bei aller Frivolität des Ausdrucks sich auszeichnete. Wir müßten Buffon als Naturforscher erwähnen, und vor allen Dingen auch auf Cabanis, den Vater der materialistischen Physiologie, hier näher eingehen, wenn es nicht unser Endzweck mit sich brächte, rasch den entscheidenden Boden zu betreten und der geschichtlichen Darlegung der Grundfragen, um die es sich handelt, erst später einen Blick in die speziellen Wissenschaften folgen zu lassen. So scheint es berechtigt, wenn wir gerade jene Periode zwischen dem Erscheinen des homme machine und des systéme de la nature, welche dem Literarhistoriker eine so reiche Ausbeute gewährt, nur beiläufig berühren und sofort zu dem Werke übergehen, welches man oft als den Kodex oder als die Bibel des gesamten Materialismus bezeichnet hat.

Das System der Natur mit seiner geraden, ehrlichen Sprache, seinem fast deutschen Gedankengang und seiner doktrinären Ausführlichkeit gab auf einmal das klare Resultat aller jener geistreich gärenden Zeitgedanken, und dies Resultat in seiner starren Geschlossenheit stieß selbst diejenigen zurück, welche zu seiner Erzielung am meisten beigetragen hatten. Lamettrie hatte hauptsächlich Deutschland erschreckt. Das System der Natur erschreckte Frankreich. Wirkte dort die Frivolität mit, die dem Deutschen in innerster Seele zuwider ist, so hatte hier der lehrhafte Ernst des Buches gewiß seinen Anteil an der Entrüstung, der es begegnete. Einen großen Unterschied aber machte die Zeit des Erscheinens im Verhältnis zu dem ganzen Stand der Geistestätigkeit beider Nationen. Frankreich näherte sich der Revolution, während man in Deutschland der Blütezeit der Literatur und Philosophie entgegenging. Im System der Natur finden wir schon den schneidenden Luftzug der Revolution.

Es war im Jahre 1770, als das Werk unter dem Titel: Système de la nature, ou des lois du monde physique et du monde moral, angeblich in London, in Wirklichkeit aber in Amsterdam erschien. Es trug den Namen des seit zehn Jahren verstorbenen Mirabaud, und zum Überflusse noch eine kurze Skizze über das Leben und die Schriften dieses Mannes, welcher Sekretär der Akademie gewesen war. Niemand glaubte an diese Autorschaft; aber merkwürdigerweise erriet auch niemand den wahren Ursprung des Buches, obwohl es aus dem eigentlichen Mittelpunkt des materialistischen[378] Heerlagers hervorgegangen war und im Grunde nur ein Glied in einer langen Kette schriftstellerischer Erzeugnisse eines ebenso originellen als bedeutenden Mannes bildete.

Paul Heinrich Dietrich von Holbach, ein reicher deutscher Baron, zu Heidelsheim in der Pfalz 1723 geboren, war schon in früher Jugend nach Paris gekommen und hatte gleich seinem Landsmanne Grimm, mit dem er eng befreundet war, sich ganz in die französische Nationalität hineingelebt. Betrachtet man den Einfluß, den diese beiden Männer auf ihre Umgebung ausübten, und vergleicht man die Charaktere des heiteren und geistreichen Kreises, der sich um Holbachs gastlichen Herd zu versammeln pflegte, so sieht man leicht, daß den beiden Deutschen in den philosophischen Fragen, die hier erörtert wurden, eine tonangebende Rolle von Haus aus zuzuschreiben ist. Still, zäh und unverwandt, wie selbstbewußte Steuerleute, sitzen sie in diesem Strudel aufbrausender Talente. Mit der Rolle der Beobachter verbinden sie, jeder in seiner Weise, einen tiefgreifenden Einfluß, der um so unwiderstehlicher ist, je unmerklicher er sich vollzieht. Holbach insbesondere schien fast nur der ewig gutmütige und freigebige maître d'hôtel der philosophischen Kreise, von dessen Humor und Herzensgüte jeder eingenommen wurde, dessen Wohltätigkeit, dessen häusliche und gesellschaftliche Tugenden, dessen bescheidenen, schlichten Sinn inmitten des Überflusses man um so freier bewunderte, je mehr jedes Talent in seiner Nähe die vollste Anerkennung fand, ohne daß Holbach selbst auf irgendeine andre Rolle als auf die des liebenswürdigen Wirtes Anspruch gemacht hätte. In dieser Bescheidenheit des Mannes liegt auch eigentlich der wesentlichste Grund der Tatsache, daß man sich so schwer entschließen konnte, Holbach selbst als den Verfasser des Buches, welches die gebildete Welt in Aufruhr versetzte, zu betrachten. Selbst als es längst feststand, daß das Werk aus seinem engern Kreise hervorgegangen sei, wollte man die eigentliche Autorschaft noch bald dem Mathematiker Lagrange zuschreiben, der als Hauslehrer in Holbachs Familie gewirkt hatte, bald Diderot, bald einer systematischen Vereinigung mehrerer Kräfte. Es ist jetzt keinem Zweifel mehr unterworfen, daß Holbach der wahre Verfasser ist, obwohl bei der Ausführung einzelner Abschnitte auch Lagrange, der Fachmann, Diderot, der Meister des Stils, und Naigeon, ein literarischer Gehilfe Diderots und Holbachs, beteiligt waren.309 Holbach war nicht nur der eigentliche Verfasser des Ganzen, sondern namentlich auch der systematische[379] Kopf, der die Arbeit beherrschte und die Richtung angab. Auch besaß Holbach keineswegs bloß seine Tendenz, sondern er beherrschte eine reiche Fülle naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Er hatte namentlich auch Chemie studiert, Artikel aus diesem Fach für die Enzyklopädie geliefert und mehrere chemische Werke aus dem Deutschen ins Französische übersetzt. »Es verhielt sich mit seiner Gelehrsamkeit,« schreibt Grimm, »wie mit seinem Vermögen. Nie hätte man es geahnt, hätte er es verbergen können, ohne seinem eignen Genuß und besonders dem Genuß seiner Freunde zu schaden.«

Holbachs übrige Schriften,310 deren eine große Reihe ist, behandeln größtenteils dieselben Fragen wie das System der Natur; zum Teil, wie in der Schrift: Le bon sens, ou Idées naturelles opposées aux Idées surnaturelles (1772), in populärer Form und mit der bestimmten Absicht, auf die Massen zu wirken. Auch die politische Richtung Holbachs war klarer und bestimmter als die der meisten seiner französischen Genossen, obwohl er sich nicht für eine bestimmte Staatsform entscheidet. Die unklare Schwärmerei für die auf so ganz unübertragbaren Verhältnissen ruhenden Einrichtungen Englands teilt er nicht. Mit ruhiger, leidenschaftsloser Gewalt entwickelt er das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, die Verpflichtung aller Obrigkeiten, sich diesem Recht zu beugen und dem Lebenszweck der Nationen zu dienen, das Verbrecherische jeder gegen die Volkssouveränität gerichteten Anmaßung und die Nichtigkeit aller Verträge, Gesetze und Rechtsformen, welche solche verbrecherischen Anmaßungen einzelner zu stützen suchen. Das Recht der Völker auf Revolution in entarteten Zuständen gilt ihm wie ein Axiom, und hierin traf er genau den Nagel auf den Kopf.

Holbachs Ethik ist ernst und rein, obwohl er nicht über den Begriff der Glückseligkeit hinausgeht. Es fehlt ihr die Innigkeit und der poetische Hauch, welcher Epikurs Lehre von der Harmonie des Gemütslebens beseelt: dagegen nimmt sie einen bedeutenden Anlauf dazu, den Standpunkt des Individuums zu überwinden und die Tugenden vom Standpunkte des Staates und der Gesellschaft zu begründen. Wo wir im System der Natur eine frivole Wendung zu finden meinen, da liegt nicht sowohl das oberflächliche und leichtfertige Spielen mit dem Sittlichen selbst zugrunde – und das wäre doch eigentlich das Frivole, – als vielmehr die völlige Verkennung des sittlichen und ideellen Gehaltes der überlieferten Institutionen,[380] insbesondere der Kirche und des Offenbarungsglaubens. Folgt diese Verkennung schon aus dem unhistorischen Sinn des achtzehnten Jahrhunderts, so ist sie doch doppelt begreiflich unter einer Nation, welche, wie die französische damals, keine eigentliche Poesie hat; denn aus diesem Lebensquell sprudelt alles hervor, was eine tief im Wesen des Menschen begründete Kraft des Daseins und des Schaffens hat, ohne auf die verstandesmäßige Rechtfertigung zu warten. So ist denn auch in Goethes berühmtem Urteil über das System der Natur die tiefste Kritik mit der größten Ungerechtigkeit in naiver Selbstgewißheit des eignen Tuns und Schaffens zu einer großartigen Opposition des jugendfrischen deutschen Geisteslebens gegen die scheinbare »Greisenheit« Frankreichs verschmolzen.

Das System der Natur zerfällt in zwei Teile, von denen der erste die allgemeinen Grundlagen und die Anthropologie enthält, der zweite – sofern dieser Ausdruck noch anwendbar ist – die Theologie. Gleich in der Vorrede zeigt sich, daß das Streben, für die Glückseligkeit der Menschheit zu wirken, der wahre Ausgangspunkt des Verfassers ist.

»Der Mensch ist unglücklich,« beginnt die Vorrede, »bloß weil er die Natur mißkennt. Sein Geist ist so von Vorurteilen angesteckt, daß man glauben sollte, er sei für immer zum Irrtum verdammt; die Fesseln des Wahns, mit denen man von der Kindheit an ihn umschlingt, sind so mit ihm verwachsen, daß man sie nur mit der größten Mühe ihm wieder nehmen kann.« Zu seinem Unglück strebt er sich über die sichtbare Welt zu erheben, und stets belehren ihn schmerzliche Erfahrungen über die Nichtigkeit seines Beginnens. Der Mensch verachtete das Studium der Natur, um Phantomen nachzujagen, die gleich Irrlichtern ihn blendeten und ihn ablenkten von dem einfachen Pfade der Wahrheit, ohne den er nicht zum Glücke gelangen kann. Es ist daher Zeit, in der Natur die Heilmittel gegen die Übel zu suchen, in welche die Schwärmerei uns gestürzt hatte. – Es gibt nur eine Wahrheit und sie kann niemals schaden. – Vom Irrtum stammen die schmählichen Fesseln mit denen Tyrannen und Priester allerwärts die Nationen zu fesseln vermochten; vom Irrtum stammte die Sklaverei, der die Nationen erlegen sind; vom Irrtum die Schrecken der Religion, die bewirkten, daß die Menschen in Furcht verdumpften oder in Fanatismus sich würgten für Chimären. Vom Irrtum stammt der eingewurzelte Haß und die grausamen Verfolgungen, das beständige[381] Blutvergießen und die empörenden Tragödien, deren Schauplatz die Erde werden mußte im Namen der Interessen des Himmels. Versuchen wir daher die Nebel der Vorurteile zu verscheuchen und dem Menschen Mut und Achtung vor seiner Vernunft einzuflößen! Wer auf jene Träumereien nicht verzichten kann, möge wenigstens andern verstatten, sich ihre Ansichten auf ihre Weise zu bilden und sich überzeugen, daß es für die Erdenbewohner hauptsächlich darauf ankomme, gerecht, wohltätig und friedsam zu sein. Fünf Kapitel behandeln die allgemeine Grundlage der Naturbetrachtung. Die Natur, die Bewegung, der Stoff, die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens und das Wesen der Ordnung und des Zufalls sind die Gegenstände, an deren Untersuchung Holbach seine Fundamentalsätze anknüpft. Unter diesen Kapiteln ist es besonders das letzte, welches durch seine schroffe Beseitigung jedes Restes von Theologie die Deisten von den Materialisten für immer trennte, und welches namentlich auch Voltaire zu heftigen Angriffen gegen das System der Natur veranlaßte. –

Die Natur ist das große Ganze, dessen Teil der Mensch ist, und unter dessen Einflüssen er steht. Wesen, die man jenseits der Natur setzt, sind jederzeit Geschöpfe der Einbildungskraft, von deren Wesen wir uns ebensowenig eine Vorstellung machen können, als von ihrem Aufenthaltsort und ihrer Handlungsweise. Es gibt nichts und kann nichts geben jenseits des Kreises, der alle Wesen einschließt. Der Mensch ist ein physisches Wesen und seine moralische Existenz ist nur eine besondere Seite der physischen, ein gewisser, aus seiner eigentümlichen Organisation abgeleiteter Modus des Handelns.

Alles, was der menschliche Geist zur Verbesserung unsrer Lage ersonnen hat, war nur eine Folge der Wechselwirkung zwischen den in ihn gelegten Trieben und der umgebenden Natur. Auch das Tier schreitet von einfachen Bedürfnissen und Formen zu immer zusammengesetzteren fort; ähnlich die Pflanze. Unmerklich wächst die Aloe durch eine Reihe von Jahren, bis sie endlich die Blüten treibt, welche ein Vorbote ihres nahen Todes sind. Der Mensch als physisches Wesen handelt nach wahrnehmbaren sinnlichen Einflüssen; als moralisches Wesen nach Einflüssen, welche unsre Vorurteile uns nicht erkennen lassen. Bildung ist Entwicklung; wie denn schon Cicero sagt: »Est autem virtus nihil aliud quam in se perfecta et ad summum perducta natura.« An all unsern ungenügenden Begriffen ist Mangel an Erfahrung schuld, und jeder Irrtum[382] ist mit Schaden verknüpft. Aus Mangel an Kenntnis der Natur hat der Mensch sich Gottheiten gebildet, die alleiniger Gegenstand seiner Hoffnungen und Befürchtungen wurden, ohne zu bedenken, daß die Natur weder Haß noch Liebe kennt und fort und fort, bald Wohl bald Wehe bereitend, nach unwandelbaren Gesetzen wirkt. Die Welt zeigt uns allenthalben nichts als Materie und Bewegung. Sie ist eine unendliche Kette von Ursachen und Wirkungen, die mannigfaltigsten Stoffe stehen in beständiger Wechselwirkung, und ihre verschiedenen Eigenschaften und Zusammensetzungen bilden für uns das Wesen der Einzeldinge. Die Natur im weiteren Sinne ist also die Zusammenfassung der verschiedenen Stoffe in allen Einzeldingen überhaupt; im engern Sinne ist die Natur eines Dinges die Zusammenfassung seiner Eigenschaften und Wirkungsformen. Wenn daher gesagt wird, die Natur bringe eine Wirkung hervor, so soll damit nicht die Natur als Abstraktum personifiziert werden, sondern es soll nur gesagt sein, daß die betreffende Wirkung ein notwendiges Resultat der Eigenschaften eines der Wesen ist, die das große Ganze bilden, welches wir sehen.

In der Lehre von der Bewegung stehe Holbach ganz auf der Basis, welche Toland in der Abhandlung, die wir oben erwähnten, gelegt hat. Er definiert die Bewegung zwar schlecht,311 aber er behandelt sie einseitig und gründlich, jedoch ohne jedes Eingehen auf die mathematischen Theorien, wie denn überhaupt in dem ganzen Werk gemäß seiner praktischen Absicht, das Positive und Spezielle vor Betrachtungen und Abstraktion zurücktritt. –

Jedes Ding ist vermöge seiner eigentümlichen Natur auch zu gewissen Bewegungen fähig. So sind unsre Sinne fähig, Eindrücke von gewissen Objekten zu empfangen. Von keinem Körper können wir etwas wissen, wenn er nicht direkt oder indirekt eine Veränderung in uns hervorbringt. Alle Bewegung, die wir wahrnehmen, versetzt entweder einen ganzen Körper an einen andern Ort, oder sie findet zwischen den kleinsten Teilchen desselben Körpers statt und bringt Störungen oder Veränderungen hervor, die wir erst an den veränderten Eigenschaften des Körpers bemerken. Bewegungen solcher Art liegen auch dem Wachsen der Pflanzen und Tiere und der intellektuellen Erregung des Menschen zugrunde. Übertragen heißen die Bewegungen, wenn sie von außen einem Körper aufgenötigt werden; selbständig, wenn die Ursache der Bewegung in dem Körper selbst ist. Hierher rechnet man beim Menschen Gehen, Sprechen, Denken, obwohl wir bei genauerer Betrachtung[383] finden können, daß es nach strengen Begriffen keine selbständigen Bewegungen gibt. – Der menschliche Wille wird durch äußere Ursachen bestimmt.

Die Mitteilung der Bewegung von einem Körper auf den andern ist nach notwendigen Gesetzen geregelt. Alles im Universum ist beständig in Bewegung, und jede Ruhe ist nur scheinbar.312 Selbst das, was die Physiker »nisus« genannt haben, ist nur durch Bewegung zu erklären. Wenn ein 500 Pfund schwerer Stein auf der Erde ruht, so drückt er jeden Augenblick mit seinem ganzen Gewicht und empfängt einen Gegendruck der Erde. Man dürfte nur die Hand dazwischen legen, um zu sehen, wie der Stein Kraft genug entwickelt, um sie zu zerquetschen, trotz seiner scheinbaren Ruhe. Aktion ist nie ohne Reaktion. Die sogenannten toten und die lebendigen Kräfte sind daher von derselben Art und entwickeln sich nur unter verschiedenen Umständen. Auch die dauerhaftesten Körper sind beständigen Veränderungen unterworfen. Die Materie und die Bewegung ist ewig, und die Schöpfung aus Nichts ist ein leeres Wort. Zu dem Ursprung der Dinge zurückgehen wollen, heißt nur die Schwierigkeiten hinausschieben und sie der Prüfung unsrer Sinne entziehen. –

Was die Materie betrifft, so ist Holbach kein strenger Atomist. Er nimmt zwar elementare Teilchen an, erklärt jedoch das Wesen der Stoffe für unbekannt. Wir kennen nur einige ihrer Eigenschaften. Alle Modifikationen der Materie sind Folge von Bewegung; diese verwandelt die Gestalt der Dinge, löst ihre Bestandteile auf und nötigt dieselben, zur Entstehung oder Erhaltung von Wesen ganz andrer Art beizutragen. Zwischen den sogenannten drei Reichen der Natur findet ein beständiger Austausch und Kreislauf der Teile der Materie statt. Das Tier erwirbt neue Kräfte durch Verzehrung von Pflanzen oder andern Tieren, Luft, Wasser, Erde und Feuer dienen zu seiner Erhaltung. Dieselben Elemente aber unter andern Formen der Verbindung werden die Ursache seiner Auflösung, und alsdann werden dieselben Bestandteile in neue Bildungen verarbeitet oder wirken zu neuen Zerstörungen.

»Das ist der unwandelbare Gang der Natur; das ist der ewige Kreislauf, den alles beschreiben muß, was existiert. In dieser Weise läßt die Bewegung die Teile des Universums entstehen, erhält sie eine Weile und zerstört sie allmählich, die einen durch die andern; während die Summe des Vorhandenen immer dieselbe bleibt. Die Natur erzeugt durch ihre verbindende Tätigkeit die Sonnen, welche[384] in den Mittelpunkt ebensovieler Systeme treten; sie erzeugt die Planeten, die durch ihr eignes Wesen gravitieren und ihre Bahnen um die Sonne beschreiben. Ganz allmählich verändert die Bewegung die einen wie die andern, und sie wird vielleicht eines Tages die Teilchen wieder zerstreuen, aus denen sie die wunderbaren Massen gebildet hat, welche der Mensch während der kurzen Spanne seines Daseins nur im Vorübergehen erblickt.«313

Während übrigens Holbach so in den allgemeinen Sätzen ganz mit dem heutigen Materialismus übereinstimmt, steht er – ein Beweis, wie fern diese Abstraktionen von der eigentlichen Bahn der Naturwissenschaft lagen – in seinen Ansichten vom Stoffwechsel noch ganz auf dem Boden der alten Zeit. Ihm ist noch das Feuer das Lebensprinzip der Dinge. Wie bei Epikur, wie bei Lucrez und Gassendi sind auch bei ihm die Teilchen feuriger Natur bei allen Vorgängen des Lebens im Spiel und bringen, bald sichtbar, bald unter der übrigen Materie verborgen, eine Fülle von Erscheinungen hervor. Vier Jahre nachdem das System der Natur erschien, entdeckte Priestley den Sauerstoff, und während Holbach noch schrieb oder mit seinen Freunden seine Grundsätze erörterte, arbeitete Lavoisier schon an jener großartigen Reihe von Versuchen, denen wir die wahre Lehre von der Verbrennung und damit eine ganz neue Grundlage jener Wissenschaft verdanken, welche auch Holbach studiert hatte. Dieser begnügte sich, wie Epikur, mit den logischen und sittlichen Resultaten der bisherigen Forschung; jener war von einer wissenschaftlichen Idee ergriffen, der er sein Leben widmete. In der Lehre von der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens geht Holbach auf die Grundkrähe der Natur zurück. Attraktion und Repulsion sind die Kräfte, von welchen alle Verbindung und Trennung der Teilchen in den Körpern herrührt; sie verhalten sich, wie schon Empedokles einsah, wie Liebe und Haß in der moralischen Welt. Auch diese Verbindung und Trennung ist nach strengsten Gesetzen geregelt. Manche Körper, die an und für sich keine Vereinigung zulassen, können durch vermittelnde Körper dazu gebracht werden. – Sein heißt nichts, als sich auf eine individuelle Art bewegen; sich erhalten heißt solche Bewegungen mitteilen oder empfangen, welche die Fortführung individueller Existenz bedingen. Der Stein leistet der Zerstörung Widerstand durch das bloße Zusammenhalten seiner Teile; die organisierten Wesen durch komplizierte Mittel. Den Trieb der Erhaltung nennt die Physik Beharrungsvermögen, die Moral Selbstliebe.[385]

Zwischen Ursache und Wirkung waltet die Notwendigkeit in der moralischen wie in der physischen Welt. Staub- und Wasserteilchen bei Sturm und Wirbelwind bewegen sich mit derselben Notwendigkeit, wie ein einzelnes Individuum in den stürmischen Bewegungen einer Revolution.

»In den schrecklichen Erschütterungen, welche bisweilen die politischen Gesellschaften ergreifen und nicht selten den Umsturz eines Reiches herbeiführen, gibt es keine einzige Handlung, kein Wort, keinen Gedanken, keine Willensregelung, keine Leidenschaft in den Handelnden, die als Zerstörer oder als Schlachtopfer an der Revolution beteiligt sind, welche nicht notwendig ist, welche nicht wirkt, wie sie wirken muß, welche nicht unfehlbar die Folgen zustande bringt, die sie nach der Stellung, welche die Handelnden in diesem moralischen Wirbelsturm einnehmen, zustande bringen muß. Dies würde einer Intelligenz offenbar sein, welche imstande wäre, jede Wirkung und Gegenwirkung aufzufassen und zu würdigen, welche in Geist und Körper der Beteiligten vorgeht.«314

Holbach starb den 21. Juni 1789; wenige Tage, nachdem sich die Abgeordneten des dritten Standes als Nationalversammlung konstituiert hatten. Die Revolution, welche seinen Freund Grimm wieder nach Deutschland verschlug und Lagrange oft genug in Lebensgefahr brachte, trat auf die Schwelle der Wirklichkeit, als der Mann verschied, der ihr so mächtig vorgearbeitet hatte, indem er sie als ein notwendiges Naturereignis betrachten lehrte.

Von besonderer Wichtigkeit ist endlich das Kapitel von der Ordnung, gegen welches Voltaire seinen ersten erbitterten Angriff richtete.315 Voltaire ist hier, wie so oft, der Vertreter des gemeinen Menschenverstandes, der mit seinen verschwommenen Gefühlsurteilen und Verstandsdeklamationen gegenüber einer philosophischen Betrachtungsweise, und wäre es die niedrigste, ganz und gar bedeutungslos ist. Dennoch wird es dem Zweck unsrer Schrift entsprechend sein, hier einmal Gründe und Gegengründe gegeneinander abzuwägen, um zu sehen, daß es ganz andrer Mittel bedarf, um über den Materialismus hinaus zu gelangen, als sie selbst dem gewandten und scharfsinnigen Voltaire zu Gebote standen.

Ursprünglich, sagt das System der Natur, bedeutete das Wort Ordnung nur die Art und Weise, ein Ganzes, dessen Seins- und Wirkungsformen mit den unsrigen eine gewisse Übereinstimmung darbieten, in seinen einzelnen Beziehungen mit Leichtigkeit aufzufassen.[386] (Man bemerkt den bekannten Zeitfehler, wonach der strengere Begriff als der ursprüngliche angenommen wird, während erin Wahrheit sich erst sehr spät entwickelt.) Dann hat der Mensch seine eigentümliche Anschauungsweise auf die Außenwelt übertragen. Da aber in der Welt alles gleich notwendig ist, so kann es auch in der Natur nirgendwo einen Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung geben. Beide Begriffe gehören nur unserm Verstande an; es entspricht ihnen, wie allen metaphysischen Begriffen, nichts außer uns. Will man jene Begriffe doch auf die Natur anwenden, so kann man unter Ordnung nichts andres verstehen als die regelmäßige Folge von Erscheinungen, welche von unabänderlichen Naturgesetzen herbeigeführt wird; die Unordnung dagegen bleibt ein relativer Begriff, welcher nur diejenigen Erscheinungen befaßt, durch die ein einzelnes Wesen in der Form seines Daseins gestört wird, während doch eine Störung, vom Standpunkte des großen Ganzen betrachtet, gar nicht vorhanden ist. Ordnung und Unordnung der Natur gibt es nicht. Wir finden Ordnung in allem, was unserm Wesen konform ist; Unordnung in allem, was ihm zuwider ist. Es ergibt sich aus dieser Anschauung unmittelbar, daß es auch in der Natur keinerlei Wunder geben kann. Ebenso schöpfen wir auch den Begriff einer nach Zwecken verfahrenden Intelligenz und seinen Gegensatz, den Begriff des Zufalls, lediglich aus uns. Das Ganze kann keinen Zweck haben, weil es außer ihm nichts gibt, wonach es streben könnte. Wir fassen solche Ursachen als intelligente auf, welche nach unsrer Art wirken, und sehen die Wirkungsweise andrer als ein Spiel des blinden Zufalls an. Und doch hat das Wort Zufall nur einen Sinn im Gegensatz gegen jene Intelligenz, deren Begriff wir nur aus uns geschöpft haben. Es gibt aber keine blind wirkenden Ursachen, sondern wir selbst sind blind, indem wir die Kräfte und Gesetze der Natur verkennen, deren Wirkung wir dem Zufall beimessen.

Hier finden wir das System der Natur ganz in den Bahnen, welche Hobbes durch seinen energischen Nominalismus gebrochen hat. Es ist selbstverständlich, daß auch die Begriffe von gut und böse, obwohl Holbach dies auszuführen vermieden hat, in derselben Weise als bloß relative und menschlich subjektive gelten müssen, wie die der Ordnung und Unordnung, der Intelligenz und des Zufalls. Von diesem Standpunkte aus ist ein Rückweg nicht mehr möglich, da der Nachweis der Relativität dieser Begriffe und ihrer Begründung in der menschlichen Natur nun einmal der unerläßliche[387] erste Schritt zur geläuterten und vertieften Erkenntnis bleibt; vorwärts hinaus ist freilich die Bahn noch frei. Mitten hindurch durch die Lehre vom Ursprung dieser Begriffe aus der Organisation des Menschen führt der Weg, welcher über die Schranken des Materialismus hinausleitet; gegen jede auf dem Boden des gewöhnlichen Vorurteils wurzelnde Opposition stehen dagegen die Sätze des Systems der Natur unerschütterlich fest! Wir schreiben dem Zufall die Wirkungen zu, deren Verknüpfung mit den Ursachen wir nicht sehen. – Ordnung und Unordnung sind nicht in der Natur. –

Was sagt nun Voltaire dazu? Hören wir seine Worte! Wir werden uns erlauben, im Namen Holbachs zu antworten. –

»Wie? Im Gebiete des Physischen, ist da ein blindgebornes Kind, ein Kind ohne Beine, eine Mißgeburt nicht gegen die Natur des Geschlechtes? Ist es nicht die gewöhnliche Regelmäßigkeit der Natur, welche die Ordnung bildet und die Unregelmäßigkeit, welche die Unordnung ist? Ist nicht ein Kind, dem die Natur den Hunger gegeben und die Speiseröhre verschlossen hat, eine gewaltige Störung und eine tödliche Unordnung? Die Entleerungen aller Art sind notwendig, und doch entbehren die Ausführungswege oft der Öffnung, so daß man die Heilkunst anwenden muß. Diese Unordnung hat ohne Zweifel ihre Ursache: keine Wirkung ohne Ursache; aber diese Wirkung ist doch eine große Störung der Ordnung.«

Allerdings ist nicht zu leugnen, daß nach unsrer unwissenschaftlichen Denkweise des täglichen Lebens die Mißgeburt ein großer Verstoß gegen die Natur des Geschlechts ist; aber was ist denn diese »Natur des Geschlechts« anders als ein vom Menschen empirisch gebildeter Begriff, der für die objektive Natur gar keine Verbindlichkeit und gar keine Bedeutung hat? Es ist nicht genug, zuzugeben, daß diese Wirkung, welche uns durch ihre naheliegende Beziehung auf unsre eignen Empfindungen als Störung erscheint, eine Ursache hat; man muß auch zugeben, daß diese Ursache mit allen andern Ursachen des Universums in einem notwendigen und unabänderlichen Zusammenhang steht; und daß also dasselbe große Ganze, in derselben Weise und nach denselben Gesetzen in der Mehrzahl der Fälle die vollständige Organisation erzeugt und in einigen Fällen die unvollständige. Vom Standpunkt des großen Ganzen betrachtet – und auf den hätte sich eben Voltaire versetzen sollen, wenn er nicht ungerecht sein wollte – kann doch unmöglich dasjenige Unordnung sein, was ein Ausfluß seiner ewigen Ordnung,[388] d.h. seines gesetzmäßigen Laufes ist; daß aber den empfindenden mitleidvollen Menschen dergleichen Erscheinungen den Eindruck der Unordnung, der entsetzlichen Störung machen, hat das System der Natur gar nicht geleugnet. Voltaire hat also nichts bewiesen, was von vornherein zugegeben war und hat den Kern der Frage mit keiner Silbe berührt. Doch sehen wir, ob er für die moralische Welt mehr beweist!

»Der Mord eines Freundes, eines Bruders, ist das nicht eine entsetzliche Störung im moralischen Gebiet? Die Verleumdungen eines Garasse, eines Tellier, eines Doucin gegen die Jansenisten, und die der Jansenisten gegen die Jesuiten, die Betrügereien eines Patouillet und Paulian, sind das nicht kleine Unordnungen? Die Bartholomäusnacht, die Metzeleien in Irland usw. usw., sind das nicht verfluchte Unordnungen? Diese Verbrechen haben ihre Ursachen in den Leidenschaften, aber ihre Wirkung ist verabscheuungswürdig; die Ursache ist verhängnisvoll; diese Ursache macht uns schaudern.«

Allerdings ist der Mord ein Gegenstand, vor welchem der Mensch schaudert, und den er als eine entsetzliche Störung der sittlichen Weltordnung betrachtet. Allein dessenungeachtet können wir zu der Einsicht gelangen, daß jene Verwirrungen und Leidenschaften, welchen die Verbrechen entspringen, nur notwendige Seiten des menschlichen Tuns und Treibens sind, wie der Schatten neben dem Licht. Wir werden aber diese Notwendigkeit unbedingt zugeben müssen, sobald wir nicht nur mit dem Begriff der Ursache spielen sondern vielmehr ernsthaft annehmen, daß auch die Handlungen des Menschen untereinander und mit der gesamten Natur der Dinge in einem vollständigen und determinierenden Kausalzusammenhange stehen. Denn dann ist in gleicher Weise auch hier, wie im physischen Gebiet, ein gemeinsames, durch den Kausalzusammenhang in allen seinen Teilen unauflöslich verbundenes Grundwesen da – die Natur selbst, – welches nach ewigen Gesetzen handelt und nach gleicher Ordnung sowohl die Tugend als das Verbrechen hervorbringt, und sowohl das Entsetzen über das Verbrechen, als auch die Einsicht daß die mit diesem Entsetzen verbundene Vorstellung einer Störung der Weltordnung eine einseitige und unzulängliche menschliche Vorstellung ist.

»Es bleibt nur übrig, den Ursprung dieser Unordnung nachzuweisen, aber sie ist einmal vorhanden.«

Der Ursprung liegt eben in der menschlichen Vorstellung; da ist sie[389] allerdings vorhanden; und weiter hat Voltaire auch nichts bewiesen. Der ungenaue und unmethodische Menschenverstand aber, und wenn er dem geistreichsten Manne angehört, hat zu allen Zeiten seine empirischen Vorstellungen mit der Natur der Dinge an sich verwechselt und wird es vermutlich auch ferner tun.

Ohne nun hier schon auf eine tiefere Kritik des Holbachschen Standpunktes einzugehen, die sich im Verlaufe unsrer Arbeit von selbst findet, wollen wir nun darauf hinweisen, daß die Materialisten gar zu leicht, indem sie die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens siegreich verfechten, in diesem Vorstellungskreise mit einer Einseitigkeit verharren, welche die richtige Würdigung des geistigen Lebens, sofern eben bloß menschliche Vorstellungen eine berechtigte Rolle darin spielen, sehr beeinträchtigt. Indem durch den kritischen Verstand den Vorstellungen der Theologie, der Intelligenz in der Natur, der Ordnung und Störung usw. die vermeintliche Objektivität abgesprochen wird, tritt gar zu leicht die Wirkung ein, daß diese Vorstellungen in ihrem Wert für den Menschen viel zu gering angeschlagen, wo nicht gar wie taube Nüsse weggeworfen werden. Holbach erkennt zwar jenen Vorstellungen als solchen eine gewisse Berechtigung zu: der Mensch mag sich ihrer bedienen, wenn er nur von ihnen frei ist und weiß, daß er es nicht mit äußeren Dingen, sondern mit unzutreffenden Vorstellungen von denselben zu tun hat. Daß aber solche, den Dingen an sich keineswegs entsprechende Vorstellungen in weiten Lebensgebieten nicht nur als bequeme und unschädliche Angewöhnungen der Kindheit zu dulden, sondern daß sie trotz – und vielleicht sogar wegen – ihrer Geburt aus dem Menschengeist zu den edelsten Gütern des Menschen gehören und ihm ein Glück verleihen können, das in dieser Weise durch nichts andres zu ersetzen ist – das sind Gedanken, welche dem Materialisten fern liegen; und zwar liegen sie ihm nicht etwa deshalb fern, weil sie seinem System widersprechen, sondern weil seine durch den Kampf und die Arbeit sich bildende Gedankenrichtung ihn von dieser Seite des menschlichen Lebens ablenkt.

Daher kommt es denn auch, daß der Materialismus nicht nur im Kampf gegen die Religion gefährlicher wird als andre Waffen, sondern daß er sich auch der Poesie und der Kunst mehr oder weniger feindlich zeigt, die doch den Vorteil haben, daß in ihnen das freie Schaffen des menschlichen Geistes im Gegensatz gegen die Wirklichkeit offen eingeräumt wird, während er in den Dogmen der Religionen und in den Architekturstücken der Metaphysik mit dem[390] falschen Anspruch an Objektivität durch und durch verschmolzen ist.

Die Stellung der Religion und der Metaphysik zum Materialismus hat denn auch noch tiefere Seiten, die sich später finden werden. Für einstweilen möchten wir uns aber bei Gelegenheit des Kapitels von der Ordnung und Unordnung einen Seitenblick auf die Kunst gestatten.

Sind Ordnung und Unordnung nicht in der Natur, so wird auch der Gegensatz des Schönen und des Häßlichen nur in der menschlichen Vorstellung beruhen. Der Materialist wird dadurch allein schon, daß ihm dieser Gedanke beständig gegenwärtig ist, dem Gebiete des Schönen leicht einigermaßen entfremdet; das Gute steht ihm schon näher; das Wahre am nächsten. Soll nun ein Materialist als Kunstrichter auftreten, so wird er notwendig eher als ein Kritiker andrer Richtung dazu neigen, in der Kunst die Naturwahrheit zu betonen, das Ideale aber und das eigentlich Schöne, namentlich da, wo es mit der Naturwahrheit in Konflikt tritt, zu verkennen und gering zu schätzen. So finden wir denn auch Holbach fast ohne Sinn für Poesie und Kunst; wenigstens verrät sich in seinen Schriften nichts davon. Diderot aber, der anfangs wider Willen, später mit außerordentlichem Eifer das Fach der Kunstkritik ergriff, zeigt uns in überraschender Weise die Einwirkung des Materialismus auf die Verurteilung des Schönen.

Sein Versuch über die Malerei ist mit Goethes meisterhaften Anmerkungen in jedermanns Händen. Wie zäh hält da Goethefest an der idealen Aufgabe der Kunst, während Diderot hartnäckig bemüht ist, den Gedanken der Konsequenz der Natur zum Prinzip der bildenden Künste zu erheben! Ordnung und Unordnung gibt es nicht in der Natur. Ist nicht also vom Standpunkte der Natur (wenn unser Auge nur die feinen Züge konsequenter Durchbildung zu erspähen wüßte!) die Gestalt des Buckligen so gut wie die der Venus? Ist nicht unser Begriff von Schönheit im Grunde nur menschliche Beschränktheit? Indem der Materialismus diese Gedanken breiter und immer breiter ausspinnt, beeinträchtigt er die reine Freude an der Schönheit und die erhabene Wirkung des Ideals.

Der Umstand, daß Diderot durch seine Naturanlage eigentlich Idealist war und daß wir daher bei ihm auch Äußerungen des entschiedensten Idealismus finden, macht den Einfluß der materialistischen Denkweise, die ihn gleichsam wider Willen mit fortreißt,[391] nur um so klarer. Diderot geht so weit, zu bestreiten, daß das Ideal, »die wahre Linie«, durch empirische Zusammensetzung der schönsten Teilformen, welche die Natur bietet, gefunden werden könne. Es entspringt aus dem Geiste des großen Künstlers als ein Vorbild des wahrhaft Schönen, von welchem sich die Natur stets und in allen Teilen im Drange der Notwendigkeit entfernt. Dieser Satz ist so wahr wie die Behauptung, daß die Natur in der Gestalt eines Buckligen oder einer blinden Frau die Konsequenzen des einmal gegebenen Bildungsfehlers bis in die äußerste Fußspitze durchführe, mit einer Feinheit, welcher auch der größte Künstler nicht zu folgen vermag. Unwahr aber ist die Verbindung beider Sätze durch die Bemerkung, daß wir keines Ideals mehr bedürften, daß wir in der unmittelbaren Nachbildung der Natur die höchste Befriedigung finden würden, sobald wir imstande wären, das ganze System jener Konsequenzen zu durchschauen.316 Treibt man freilich die Sache auf die Spitze, so läßt sich fragen, ob es für eine absolute Erkenntnis, welche in einem Bruchstück die Beziehungen zum Ganzen erfaßt und für welche also jede Anschauung eine Anschauung des Universums ist – ob es für eine solche Erkenntnis überhaupt noch eine von der Wirklichkeit trennbare Schönheit geben könne. Aber so versteht Diderot die Sache nicht. Sein Satz soll eine praktische Anwendung für den Künstler und Kunstkritiker zulassen. Es soll also auch gesagt werden, daß die Abweichungen von der »wahren Linie« des Ideals in dem Grade zulässig sind, ja sogar gegenüber den bloßen Normalverhältnissen das eigentliche Ideal bilden, in welchem es gelingt, sie in ihrer Einheit und Konsequenz wenigstens für das Gefühl zur Geltung zu bringen. Damit aber verliert das Ideal seine Selbständigkeit. Das Schöne wird dem Wahren untergeordnet und büßt dadurch seine eigentliche Bedeutung ein.

Wollen wir diesen Fehler vermeiden, so müssen wir vor allen Dingen die ethischen und ästhetischen Ideen selbst als notwendige, nach ewigen Gesetzen entstandene Gebilde der allgemeinen Naturkraft auf dem besonderen Gebiete des Menschengeistes erfassen. Das menschliche Dichten und Trachten erzeugt die Idee der Ordnung, wie es die Idee des Schönen erzeugt. Nun tritt die naturphilosophische Erkenntnis ein und zerstört sie; aber aus den verborgenen Tiefen des Gemütes sprießt sie stets aufs neue hervor. In diesem Kampf der schaffenden Seele mit der erkennenden ist nichts Unnatürlicheres, als in irgendeinem Ringen der Elemente der Natur[392] oder in dem Vernichtungskampfe lebender Wesen, die sich ihrer Existenz wegen gegenseitig befehden. Muß doch, vom abstraktesten Standpunkte aus, auch der Irrtum geleugnet werden, so gut wie die Unordnung. Auch der Irrtum entsteht aus der nach Gesetzen geregelten Wechselwirkung zwischen der Person mit ihren Organen und den Eindrücken der Außenwelt. Der Irrtum ist so gut wie die bessere Erkenntnis eine Art und Weise, in der sich die Dinge der Außenwelt im Bewußtsein des Menschen gleichsam projizieren. Gibt es eine absolute Erkenntnis der Dinge an sich? Der Mensch scheint sie jedenfalls nicht zu haben. Wenn es aber für ihn eine seinem Wesen zusagende höhere Erkenntnisweise gibt, der gegenüber der gewöhnliche Irrtum, obwohl er auch eine gesetzmäßige Erkenntnisweise ist, doch lediglich als Irrtum, d.h. als verwerfliche Abweichung von jener höheren Weise zu bezeichnen ist: soll es dann nicht auch eine im Wesen des Menschen begründete Ordnung geben, die etwas Besseres verdient, als daß man sie mit ihrem Gegensatz, der Unordnung, d.h. eben den abweichenden und der menschlichen Natur schlechthin widerstrebenden Ordnungen, ohne weiteres auf eine und dieselbe Stufe setzt?

So breit und wiederholungsreich auch das System der Natur geschrieben ist, so enthält es doch manche Ausführungen, die teils ihrer Energie und Gesundheit wegen bemerkenswert, teils aber auch besonders geeignet sind, uns die engen Grenzen, in welchen die materialistische Weltanschauung sich bewegt, in ein helles Licht zu setzen.

Während Lamettrie eine boshafte Freude daran hatte, sich für einen Cartesianer auszugeben, und, vielleicht im guten Glauben, die Behauptung aufzustellen, Descartes hatte den Menschen mechanisch erklärt und ihm nur der Pfaffen wegen eine überflüssige Seele angehängt, schiebt Holbach umgekehrt die Verantwortung für das Dogma von der Spiritualität der Seele hauptsächlich auf Descartes. »Obgleich man sich schon vor ihm die Seele spiritualistisch vorstellte, so ist er doch der erste, der den Satz aufgestellt hat, daß das Denkende von der Materie verschieden sein muß, woraus er denn ferner schließt, daß das Denkende in uns ein Geist sei, d.h. eine einfache und unteilbare Substanz. Wäre es nicht natürlicher gewesen zu schließen: weil der Mensch, ein stoffliches Wesen, tatsächlich denkt, genießt also auch die Materie die Fähigkeit zu denken?« Nicht besser kommt Leibniz weg mit seiner prästabilierten Harmonie oder gar Malebranche, der Erfinder des Okkasionalismus.[393] Holbach nimmt sich nicht die Mühe, diese Männer eingehend zu widerlegen; er kommt nur immer wieder auf die Abgeschmacktheit ihrer ersten Grundsätze zurück. Von seinem Standpunkte aus nicht ganz mit Unrecht; denn wenn man das Ringen dieser Männer nach einer Gestaltung der in ihnen lebenden Idee nicht zu schätzen weiß, wenn man ihre Systeme rein verstandesmäßig prüft, so kann allerdings kaum ein Ausdruck der Geringschätzung stark genug sein, um die Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit zu bezeichnen, mit welcher jene viel bewunderten Philosophen die Grundlage ihrer Systeme in das reine Nichts hineinstellten. Holbach sieht überall nur den Einfluß der Theologie und verkennt den metaphysischen Produktionstrieb völlig, der doch ebenso tief in unsrer Natur zu liegen scheint, als beispielsweise der Sinn für Architektur. »Es darf uns nicht überraschen,« meint Holbach, »die ebenso scharfsinnigen als unbefriedigenden Hypothesen zu sehen, zu denen die tiefsten Denker der Neuzeit, durch theologische Vorurteile gezwungen, ihre Zuflucht nehmen müssen, so oft sie es versucht haben, die spirituelle Natur der Seele mit der physischen Einwirkung stofflicher Wesen auf diese immaterielle Substanz zu vereinigen und die Rückwirkung der Seele auf diese Wesen, sowie überhaupt ihre Vereinigung mit dem Körper, zu erklären.« Nur ein einziger Spiritualist macht ihm zu schaffen, und wir erkennen darin wieder die Fundamentalfrage, welcher unsre ganze Betrachtung uns immer näher führt. Es ist Berkeley, der als Bischof der englischen Kirche gewiß mehr als Descartes und Leibniz von theologischen Vorurteilen geleitet war, der aber gleichwohl auf eine konsequentere und im Prinzip vom Kirchenglauben weiter entfernte Weltanschauung geriet, als diese beiden.

»Was sollen wir von einem Berkeley sagen, der sich Mühe gibt, uns zu beweisen, daß alles in der Welt nur eine chimärische Täuschung ist, und daß das Universum nur in uns selbst und in unsrer Phantasie existiert; der das Dasein aller Dinge zweifelhaft macht mit Hilfe von Sophismen, welche unlösbar sind für alle, die an der Spiritualität der Seele festhalten?« Wie diejenigen, welche nicht gerade auf das Festhalten der immateriellen Seele erpicht sind, mit Berkeley fertig werden sollen, hat Holbach vergessen darzutun, und in einer Anmerkung gesteht er, daß dies extravaganteste System auch am schwersten zu bekämpfen sei.317 Der Materialismus nimmt hartnäckig die Welt des Sinnenscheins für die Welt der wirklichen Dinge. Was hat er für Waffen gegen den, der diesen naiven Standpunkt[394] anficht? Sind die Dinge so wie sie scheinen? Sind sie überhaupt? Das sind Fragen, die in der Geschichte der Philosophie ewig wiederkehren, und auf die erst die Gegenwart eine halbwegs genügende Antwort geben kann, die sich denn freilich für keines von beiden Extremen entscheidet.

Vorzügliche und gewiß aufrichtige Sorgfalt wandte Holbach auf die Grundlagen der Ethik. Es wird hier zwar schwerlich ein Gedanke zu finden sein, welcher nicht bei Lamettrie schon anklingt, aber was bei diesem zerstreut, nachlässig hingeworfen und mit frivolen Bemerkungen durchzogen erscheint, das tritt uns hier gereinigt, geordnet und in systematischer Ausführung entgegen, mit strenger Fernhaltung alles Niedrigen und Gemeinen. Wie Epikur setzte auch Holbach den Zweck des menschlichen Strebens in die dauernde Glückseligkeit; nicht in die vergängliche Lust. Das System der Natur enthält aber zugleich den Versuch einer physiologischen Begründung der Sittenlehre und in Verbindung damit eine energische Hervorhebung der bürgerlichen Tugenden.

»Wenn man die Erfahrung statt des Vorurteils befragen würde, so könnte die Medizin der Moral das Rätsel des menschlichen Herzens lösen, und man könnte versichert sein, daß sie durch die Pflege des Körpers bisweilen den Geist heilen würde.« Erst zwanzig Jahre später begründete der edle Pinel, ein Arzt aus Condillacs Schule, die neuere Psychiatrie, welche uns mehr und mehr dahin brachte, zu großer Erleichterung der schrecklichsten Leiden des Menschengeschlechtes, die Irren wohlwollend zu pflegen und in einem großen Teil der Verbrecher Geisteskranke zu erkennen. – »Das Dogma von der Immaterialität der Seele hat aus der Moral eine Wissenschaft der Vermutungen gemacht, welche uns gar nichts lehrt von den wahren Mitteln, durch die man auf die Menschen wirken kann. Wenn wir, gestützt auf die Erfahrung, die Elemente kennten, welche die Grundlage des Temperamentes eines Menschen oder der Mehrzahl der Individuen eines Volkes bildeten, so wüßten wir, was für ihre Natur paßt, die Gesetze, welche ihnen notwendig sind und die Einrichtungen, welche ihnen nützlich sind. Mit einem Wort, die Moral und die Politik könnten aus dem Materialismus Vorteile ziehen, die das Dogma von der Immaterialität der Seele ihnen niemals geben kann und an die es sogar zu denken verhindert.«318 Der Gedanke Holbachs hat noch jetzt Zukunft; nur daß vermutlich fürs erste die Moralstatistik mehr für die Physik der Sitten leisten wird als die Physiologie.[395]

Alle moralischen und intellektuellen Fähigkeiten leitet Holbach ab aus der Erregbarkeit für die Eindrücke der Außenwelt. »Ein empfindsames Gemüt ist nichts als ein menschliches Gehirn, welches so beschaffen ist, daß es mit Leichtigkeit die ihm mitgeteilten Bewegungen aufnimmt. So nennen wir den empfindsam, welchen der Anblick eines Unglücklichen oder die Erzählung eines schrecklichen Vorfalls oder der bloße Gedanke an eine betrübende Szene zu Tränen rühren.« Hier stand Holbach unmittelbar vor den Anfängen einer materialistischen Moralphilosophie, welche uns bis jetzt noch fehlt, und deren Ausbildung wir wünschen müssen, auch wenn wir nicht beabsichtigen, auf dem Standpunkte des Materialismus stehen zu bleiben. Es handelt sich darum, das Prinzip zu finden, welches über den Egoismus hinausführt. Allerdings reicht das Mitleid hierzu nicht aus, nimmt man aber die Mitfreude hinzu, erweitert man seinen Gesichtskreis so weit, daß man die ganze natürliche Teilnahme in Betracht zieht, welche der feiner organisierte Mensch für die Wesen empfindet, deren Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit mit sich selbst er erkennt: dann ist schon eine Grundlage da, auf welcher sich allenfalls annähernd beweisen ließe, daß auch die Tugenden allmählich durch die Augen und Ohren in den Menschen hineinkommen. Ohne mit Kant den großen Schritt zu wagen, welcher das ganze Verhältnis der Erfahrung zum Menschen und seinen Begriffen umkehrt, könnte man doch auch jener Ethik eine tiefe Begründung leihen, indem man ausführte, wie durch den Rapport der Sinne sich allmählich im Lauf der Jahrtausende eine Gemeinsamkeit des Menschengeschlechtes in allen Interessen herstellt, welche darauf beruht, daß jeder einzelne die Schicksale des Ganzen in der Harmonie oder Disharmonie seiner eignen Empfindungen und Vorstellungen mit durchlebt.

Statt diesen natürlichen Gedankengang zu verfolgen, geht Holbach vielmehr nach einigen stark an Helvetius erinnernden Ausführungen über das Wesen des Geistes (esprit) und der Phantasie (imagination) dazu über, die Moral aus dem rein verstandesmäßigen Erkennen der Mittel zur Glückseligkeit abzuleiten – ein Verfahren, in dem sich wieder der ganze unhistorische und Abstraktionen zugewandte Sinn des vorigen Jahrhunderts spiegelt.

Die politischen Stellen des Werkes, das uns beschäftigt, sind ohne Zweifel bedeutender, als man gewöhnlich annehmen mag. Sie tragen einen so entschiedenen Charakter einer festen, in sich geschlossenen und durchaus radikalen Doktrin, sie bergen, oft unter[396] dem Schein großartiger Objektivität oder philosophischer Resignation, einen so verbissenen Groll gegen das Bestehende, daß sie gewiß tiefer wirken mußten, als lange Tiraden einer geistreichen und aufgeregten Rhetorik. Man würde sie ohne Zweifel mehr beachtet haben, wenn sie nicht kurz und vereinzelt wären.

»Da die Regierung ihre Gewalt nur von der Gesellschaft hat und nur zu ihrem Wohle errichtet ist, so versteht es sich von selbst, daß diese, wenn es ihr Interesse fordert, ihre Vollmacht zurücknehmen, die Regierungsform ändern und die Gewalt erweitern oder beschränken kann, welche sie den Häuptern anvertraut, über die sie eine ewige Oberhoheit bewahrt, nach dem unabänderlichen Gesetz der Natur, welches den Teil dem Ganzen unterordnet.« Diese Stelle aus dem Kapitel (IX) über die Grundlagen der Moral und der Politik gibt die allgemeine Regel; enthält nicht die folgende aus dem Kapitel über die Willensfreiheit (IX) einen deutlichen Wink über die Anwendbarkeit derselben auf die Gegenwart? »Nur deshalb sehen wir eine solche Menge von Verbrechern auf der Erde, weil alles sich verschwört, die Menschen verbrecherisch und lasterhaft zu machen. Ihre Religionen, ihre Regierungen, ihre Erziehung, die Beispiele, welche sie vor Augen haben, treiben sie unwiderstehlich zum Bösen. Vergebens predigt dann die Moral der Tugend, die nur ein schmerzliches Opfer des Glücks sein würde in Gesellschaften, wo das Laster und die Verbrechen beständig gekrönt, gepriesen und belohnt werden, und wo die scheußlichsten Frevel nur an denen bestraft werden, welche zu schwach sind, um das Recht zu haben, sie ungestraft zu begehen. Die Gesellschaft straft an den Geringen die Vergehungen, welche sie an den Großen ehrt, und oft begeht sie die Ungerechtigkeit, den Tod über Leute zu verhängen, welche nur durch die vom Staate selbst aufrechtgehaltenen Vorurteile ins Verbrechen gestürzt worden sind.«

Was das System der Natur vor den meisten materialistischen Schriften auszeichnet, ist die Unumwundenheit, mit welcher der ganze zweite Teil des Werkes, der noch stärker ist als der erste, in vierzehn weitläufigen Kapiteln den Gottesbegriff in jeder möglichen Form bekämpft. Fast die ganze materialistische Literatur des Altertums und der Neuzeit hatte diese Konsequenz nur schüchtern oder gar nicht zu ziehen gewagt. Selbst Lucrez, der die Befreiung des Menschen von den Fesseln der Religion für die wichtigste Grundlage sittlicher Wiedergeburt hält, läßt wenigstens gewisse Phantome von Gottheiten in den Zwischenräumen der Welten ein[397] rätselhaftes Dasein führen. Hobbes, der dem offnen Atheismus theoretisch gewiß am nächsten stand, hätte in einem atheistischen Staate jeden Bürger hängen lassen, welcher das Dasein Gottes lehrte; aber in England anerkannte er die sämtlichen Glaubensartikel der anglikanischen Kirche. Lamettrie, der zwar mit der Sprache herausrückte, aber doch nicht ohne Umschweife und Zweideutigkeiten, widmete sein ganzes Streben nur dem anthropologischen Materialismus; erst für Holbach scheinen gerade die kosmologischen Sätze die wichtigsten zu sein. Sieht man freilich genauer zu, so bemerkt man leicht, daß es hier, wie bei Epikur, wesentlich praktische Gesichtspunkte sind, welche ihn leiten. Indem er die Religion für den Hauptquell aller menschlichen Verderbtheit ansieht, sucht er diesem krankhaften Hang der Menschheit auch die letzten Grundlagen zu entziehen und verfolgt daher die deistischen und pantheistischen Vorstellungen von Gott, welche sein Zeitalter doch so sehr liebte, mit nicht geringerem Eifer als die Ideen der Kirche. Dieser Umstand ist es ohne Zweifel, welcher dem System der Natur auch unter den Freigeistern so heftige Feinde machte.

Zugleich sind nun aber auch die gegen das Daseins Gottes gerichteten Kapitel größtenteils überaus langweilig. Die logischen Gebilde, welche Beweise für das Dasein Gottes darstellen sollen, sind durchweg so haltlos und nebelhaft, daß es sich bei der Annahme oder Verwerfung derselben nur um eine größere oder geringere Neigung zu Selbsttäuschung handeln kann. Wer sich an solche Beweise hält, gibt damit nur seiner Neigung, einen Gott anzunehmen, einen scholastischen Ausdruck. Diese Neigung selbst war, längst bevor Kant diesen Weg einschlug, um die Gottesidee zu begründen, stets nur ein Ausfluß der praktischen Geistestätigkeit oder des Gemütslebens; nicht aber der theoretischen Philosophie. Der scholastische Hang zu nutzlosem Disputieren kann freilich Befriedigung finden, wenn um Sätze gestritten wird, wie: »Das durch sich selbstexistierende Wesen muß unendlich und allgegenwärtig sein,« oder »das notwendig existierende Wesen ist notwendig das einzige;« aber an irgendeinen Anhaltspunkt für eine ernsthafte, des Menschen würdige Geistesarbeit ist bei so vagen Begriffen gar nicht zu denken. Was soll man nun dazu sagen, wenn ein Mann wie Holbach fast fünfzig Seiten seines Werkes allein dem Beweise Clarkes für das Dasein Gottes widmete, einem Beweise, der sich durchaus in solchen Sätzen bewegt, die von vornherein jedes bestimmten Sinnes ermangeln? Mit rührender Sorgfalt schöpft das[398] System der Natur in das Faß der Danaiden. Satz für Satz wird unerbittlich vorgenommen und zergliedert, um immer wieder auf dieselben einfachen Sätze zurückzukehren, daß zur Annahme eines Gottes kein Grund vorliege, und daß die Materie von Ewigkeit her gewesen sei.

Holbach wußte übrigens recht gut, daß er gar nicht gegen einen Beweis, sondern kaum gegen den Schatten eines Beweises kämpfe. Er zeigt an einer Stelle, daß Clarkes eigne Definition des Nichts vollkommen mit seiner Begriffsbestimmung Gottes, die nur negative Prädikate enthält, zusammenfalle. Er macht an einer andern Stelle die Bemerkung, man sage zwar immer, daß uns unsre Sinne nur die Schale der Dinge zeigten; was aber Gott betreffe, so zeigten sie uns nicht einmal die Schale. Besonders treffend ist aber folgende Bemerkung:

»Dr. Clarke sagt uns, es sei genug, daß die Attribute Gottes möglich seien, und so, daß man das Gegenteil nicht beweisen kann. Sonderbare Logik! Die Theologie wäre also die einzige Wissenschaft, in welcher man schließen kann, daß ein Ding wirklich ist, weil es möglich ist?«

Hätte Holbach hier nicht das Bedenken einfallen können, wie es doch möglich sei, daß Leute von leidlich gesundem Gehirn, die sich auch nicht eben durch Schlechtigkeit auszeichnen, sich mit so vollständig in die Luft gebauten Sätzen begnügen können? Hätte ihn dies nicht darauf führen können, daß die Selbsttäuschung des Menschen in religiösen Sätzen doch andrer Natur ist als die alltägliche Selbsttäuschung? In der äußeren Natur sah Holbach nicht einmal die Schale eines Gottes. Wenn nun aber diese bodenlosen Beweise gerade eine gebrechliche Schale wären, unter der sich eine tiefere Begründung der Gottesidee auf die Eigenschaften des menschlichen Gemütes birgt? Doch dazu hätte denn gleichzeitig eine gerechtere Beurteilung der Religion in Beziehung auf ihren moralischen und kulturhistorischen Wert gehört; und das vor allen Dingen war von dem Boden, aus welchem das System der Natur erwuchs, nicht zu erwarten.

Wie schroff der Standpunkt ist, den das System der Natur der Gottesidee gegenüber einnimmt, zeigt am besten das Kapitel (IV im 2. Teil), welches den Pantheismus behandelt. Wenn man bedenkt, daß lange Zeit Spinozist und Materialist als dasselbe galt, und daß man unter der Bezeichnung des Naturalismus beide Richtungen häufig zusammenfaßte, ja, daß man sogar bei Männern, die als[399] Stimmführer des Materialismus gezählt werden, oft ganz pantheistische Wendungen findet, so kann man sich über den Eifer verwundern, den Holbach entwickelt, um auch den bloßen Namen eines Gottes, wenn man ihn selbst mit der Natur identisch setzt, gänzlich aus dem Bereich menschlichen Denkens zu verbannen. Und doch geht Holbach, wenn man sich auf seinen Standpunkt versetzt, hierin keineswegs zu weit. Ist es doch gerade der mystische Zug im Wesen des Menschen, den er als krankhaft ansieht, und dem er die größten Übel zuschreibt, welche die Menschheit niederdrücken! Und in der Tat, sobald ein Gottesbegriff, wie immer begründet, wie immer näher bestimmt, überhaupt nur gegeben ist, so wird das menschliche Gemüt ihn ergreifen, poetisch gestalten, personifizieren und ihm irgendeinen Kultus, irgendeine Verehrung widmen, bei deren Wirkung im Leben die logische und metaphysische Ableitung des Begriffs sehr wenig mehr in Betracht kommt. Ist dieser Zug zur Religion, welcher immer wieder durch die Schranken der Logik bricht, nicht einmal so viel wert als die Poesie; ist er vielmehr unbedingt nachteilig, dann ist allerdings auch der bloße Name eines Gottes zu beseitigen, und hierin liegt dann erst der wahre Schlußstein einer naturgemäßen Weltanschauung. Wir müßten dann aber auch Holbach noch eine kleine rhetorische Schwäche zuschreiben, die vielleicht gefährliche Folgen haben könnte, wenn er von dem wahren Kultus der Natur und von ihren Altären spricht.

Wie nah stehen sich doch oft die Extreme! Dasselbe Kapitel, in welchem Holbach seine Leser aufruft, die Menschheit auf immer von dem Phantome der Gottheit zu befreien und selbst den Namen desselben zu beseitigen, enthält eine Stelle, welche den Hang des Menschen zum Wunderbaren als so allgemein, so tief gewurzelt, so übergewaltig darstellt, daß man dabei an eine vorübergehende Entwicklungskrankheit der Menschheit gar nicht mehr denken kann; daß man förmlich einen umgekehrten Sündenfall annehmen muß um der Konsequenz zu entgehen, daß dieser Hang zum Wunderbaren dem Menschen gerade so natürlich ist wie die Liebe zur Musik und zu schönen Farben und Formen, und daß gegen das Naturgesetz, wonach dies so ist, ein Kampf gar nicht denkbar ist.

»So ziehen die Menschen ewig das Wunderbare dem Einfachen vor; das, was sie nicht verstehen, dem, was sie verstehen können. Sie verachten die Dinge, mit denen sie vertraut sind und schätzen nur diejenigen, welche sie gar nicht zu beurteilen vermögen. Wenn[400] sie von diesen nur unklare Vorstellungen haben, so schließen sie eben daraus, daß sie irgend etwas Wichtiges, Übernatürliches, Göttliches enthalten. Mit einem Wort, sie brauchen den Reiz des Geheimnisvollen, um ihre Phantasie anzuregen, ihren Geist zu beschäftigen und ihre Neugier zu sättigen, die sich niemals stärker rührt, als gerade wenn sie sich mit Rätseln befaßt, deren Lösung überhaupt unmöglich ist.«

In einer Anmerkung zu dieser Stelle wird aufgeführt, daß mehrere Völker von einer begreiflichen Gottheit, der Sonne, zu einer unbegreiflichen übergegangen seien. Warum? Weil der verborgenste, geheimnisvollste, unbekannte Gott stets der Einbildung mehr zusagt als ein sichtbares Wesen. Alle Religionen brauchen deshalb Mysterien, und – hierin liegt das Geheimnis der Priester. – Auf einmal sollen es wieder die Priester getan haben, während doch eher geschlossen werden könnte, daß diese Klasse ursprünglich aus dem Mysterien-Bedürfnis des Volkes naturgemäß hervorgegangen ist, und daß sie, bei zunehmender Einsicht, nur deshalb das Volk nicht zu reineren Anschauungen erheben kann, weil jener rohe Naturtrieb zum Geheimnisvollen gar zu mächtig bleibt. So zeigt sich, wie in dieser radikalsten Bekämpfung aller Vorurteile doch auch wieder das Vorurteil eine höchst bedeutende Rolle spielt.

Die gleiche Erscheinung tritt denn auch namentlich in denjenigen Kapiteln hervor, welche dem Verhältnisse zwischen Religion und Moral gewidmet sind. Weit entfernt, hier etwa nur kritisch zu verfahren und das Vorurteil zu bekämpfen, als sei die Religion die alleinige Basis des sittlichen Handelns, geht das System der Natur vielmehr dazu über, die moralische Schädlichkeit der positiven Religionen und besonders des Christentums darzutun. Hier bieten sich denn allerdings in den Dogmen wie in der Geschichte zahlreiche Anhaltspunkte; allein im wesentlichen bleibt die Untersuchung bei der Oberfläche stehen. So wird beispielsweise ein moralischer Nachteil daraus hergeleitet, daß die Religion dem Schlechten Verzeihung verheißt, während sie den Guten durch das Übermaß ihrer Forderungen erdrückt. Es wird also jener ermutigt, dieser abgeschreckt. Wie aber im Laufe der Jahrtausende eben diese Abschwächung des uralten Gegensatzes der »Guten« und der »Bösen« auf die Humanität zurückwirken mußte, hat das System der Natur nicht in Betracht gezogen. Und doch sollte uns gerade ein echtes System der Natur zeigen, wie jener scharfe Gegensatz erlogen ist, und wie er zur immer tieferen Erdrückung der Armut, zur[401] Entwürdigung der Schwachheit, zur Mißhandlung der Krankheit führt, während die Ausgleichung der Schuld im Bewußtsein der Menschheit, wie das Christentum sie angebahnt hat, genau mit den Sätzen übereinstimmt, auf welche die exakte Naturbetrachtung und insbesondere die Beseitigung des Begriffes der Willensfreiheit uns führen muß. Die »Guten«, d.h. die Glücklichen, haben von jeher die Unglücklichen tyrannisiert. Allerdings stellt sich in diesem Punkte das christliche Mittelalter ebenbürtig neben das Heidentum, und erst die aufgeklärte Neuzeit hat eine entschiedene Besserung gebracht. Der Geschichtsforscher wird sich die ernste Frage vorlegen müssen, ob nicht gerade die christlichen Grundsätze, nachdem sie Jahrtausende hindurch unter mythischer Form mit der Roheit der Menschen gerungen haben, endlich ihre größte Wirkung in dem Augenblicke tun, wo die Form zerfallen kann, weil die Auffassung der Menschheit für den reinen Gedanken gereift ist. Was aber die religiöse Form an sich betrifft, was namentlich die so vielfach mit der Religion verwechselte Neigung des Gemütes zu Kultus und Zeremonien oder zu erschütternden und auflösenden Prozessen des Gemütslebens betrifft: so ist hier sehr die Frage, ob nicht die dadurch bewirkte Weichlichkeit und Sinnlichkeit, verbunden mit der Unterdrückung des richtenden Verstandes und mit der Verfälschung des natürlichen Gewissens, oft für Individuen wie für ganze Völkerschaften höchst verderblich ist. Wenigstens liefern die Geschichten der Irrenanstalten, die Annalen der Kriminalrechtspflege und die Moralstatistik Tatsachen, die sich vielleicht einmal zu einem empirischen Beweise gruppieren ließen. Holbach weiß hiervon wenig. Er geht überhaupt nicht empirisch, sondern deduktiv zu Werke, und alle seine Annahmen über die Wirkungsweise des religiösen Standpunktes setzen eine Vermittlung der Dogmen durch den bloßen Verstand voraus. Dabei kann denn freilich das Resultat der Betrachtung nur ein höchst ungenügendes bleiben.

Weit treffender und gedankenreicher sind die Kapitel, in welchen der Beweis geführt wird, daß es Atheisten gebe, und daß der Atheismus mit der Moral vereinbar sei. Hier stützt sich Holbach auf Bayle, der zuerst nachdrücklich darauf hinwies, daß die Handlungen der Menschen überhaupt nicht aus ihren allgemeinen Vorstellungen, sondern aus ihren Leidenschaften und Trieben hervorgehen.

Nicht ohne Interesse ist endlich die Behandlung der Frage, ob ein[402] ganzes Volk dem Atheismus huldigen könne. Wiederholt haben wir die demokratische Tendenz des französischen Materialismus im Gegensatz zu der Wirkung dieser Weltanschauung auf England hervorgehoben. Holbach ist gewiß nicht weniger revolutionär als Lamettrie und Diderot; wie kommt es nun, daß er, der sich so viele Mühe gab, populär zu werden, der den Atheismus in einem Auszuge seines Hauptwerkes »für Zofen und Haarkräusler zurechtmachte«, wie Grimm sich ausdrückte, doch ganz unumwunden ausspricht, daß diese Denkweise für die Masse des Volkes nicht geeignet sei? Holbach, der seines Radikalismus wegen von den geistreichen Kreisen der Pariser Aristokratie so gut wie ausgeschlossen war, teilt nicht die Unklarheit mancher andrer Schriftsteller jener Epoche, die mit aller Macht auf den Umsturz des Bestehenden hinarbeiten und sich doch dabei als Aristokraten gerieren, die dummen Bauern verachten und ihnen im Notfall einen Gott erfinden wollen, damit doch ja der Popanz nicht fehle, der sie in der Furcht hält. Holbach geht von dem Grundsatze aus, daß die Wahrheit niemals schaden kann. Er schließt dies aus dem Obersatze, daß überhaupt die theoretische Erkenntnis, selbst wenn sie irrt, niemals gefährlich werden kann. Selbst die Irrtümer der Religion erhalten ihren Stachel nur durch die Leidenschaften, die sich mit ihnen verbinden, und durch die Staatsgewalt, welche sie tyrannisch aufrecht erhält. Die extremsten Meinungen können nebeneinander bestehen, wenn man nur keine derselben durch gewaltsame Mittel zur auschließlichen Herrschaft zu bringen versucht. Der Atheismus aber, der sich auf die Erkenntnis der Naturgesetze gründet, kann einfach deshalb nicht allgemein werden, weil der großen Masse der Menschen Zeit und Neigung fehlt, um durch jenes ernste Studium hindurch zu einer völlig neuen Denkungsweise vorzudringen. Das System der Natur ist aber weit entfernt davon, deshalb der großen Masse die Religion als Surrogat für die Philosophie zu überlassen. Indem es eine unbedingte Denkfreiheit und völlige Indifferenz des Staates verlangt, will es vielmehr die Gemüter der Menschen einer natürlichen Entwicklung anheimgeben. Mögen sie glauben, was sie wollen, und lernen was sie können! Die Früchte der philosophischen Forschung werden früher oder später allen zugute kommen, genau wie es mit den Ergebnissen der Naturwissenschaften schon der Fall ist. Zwar werden die neuen Ideen heftigen Widerspruch erfahren, aber man wird durch die Erfahrung lernen, daß sie nur Segen bringen. Man darf aber bei ihrer Verbreitung seinen Blick nicht[403] auf die Gegenwart beschränken; man muß die Zukunft, die ganze Menschheit ins Auge fassen. Die Zeit und der Fortschritt der Jahrhunderte werden einst auch jene Fürsten aufklären, die sich jetzt so hartnäckig der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Freiheit des Menschen entgegenstellen.

Von demselben Geiste ist das Schlußkapitel des ganzen Werkes durchdrungen, in welchem die begeisterte Feder Diderots bemerkbar scheint. Dieser »Abriß des Gesetzbuches der Natur« ist kein trockner und dürrer Katechismus, wie die französische Revolution sie nach Holbachs Grundsätzen schuf, sondern vielmehr ein rhetorisches Prachtstück, und in mancher Beziehung kann man auch sagen: ein Meisterstück. In einem längeren Abschnitte tritt, wie bei Lucrez, die Natur redend auf. Sie fordert die Menschheit auf, ihren Gesetzen zu folgen, das Glück zu genießen, das ihr beschieden sei, der Tugend zu dienen, das Laster zu verachten, die Lasterhaften aber nicht zu hassen, sondern als Unglückliche zu bemitleiden. Die Natur hat ihre Apostel, welche das Glück des Menschengeschlechtes herbeizuführen unablässig bemüht sind. Wenn ihr Streben nicht gelingt, werden sie wenigstens die Genugtuung haben, einen Versuch gewagt zu haben.

Die Natur und ihre Töchter, die Tugend, Vernunft und Wahrheit, werden zum Schluß als die einzigen Gottheiten angerufen, denen allein Weihrauch und Anbetung gebührt. So wird das System der Natur in poetischem Schwunge nach Zerstörung aller Religionen selbst wieder zur Religion. Ob auch diese Religion einst eine herrschsüchtige Priesterschaft erzeugen könnte? Ob die Neigung des Menschen zum Mystischen so groß ist, daß die Sätze des Werkes, welches sogar den Pantheismus verwirft, um selbst den Namen der Gottheit auszurotten, zu Dogmen einer neuen Kirche werden könnten, welche das Verständliche mit Unverständlichem klug zu mengen und Zeremonien und Kultusformen hervorzubringen wüßte?

Wo wird die Natur zur Unnatur? Wie zeugt die ewige Notwendigkeit aller Entwicklung das Verkehrte und Verwerfliche? Worauf beruht unsre Hoffnung einer besseren Zeit? Was soll die Natur in ihre Rechte einsetzen, wenn es überall nichts gibt als Natur? – Das sind Fragen, auf welche das System der Natur uns keine genügende Antwort gibt. Wir sind bei der Vollendung des Materialismus angelangt, aber auch bei seinen Grenzen. Was das System der Natur in geschlossenem Zusammenhang gibt, das hat die neuere Zeit wieder[404] mannigfach zerstreut und zersplittert. Neue Motive, neue Gesichtspunkte sind in großer Zahl gewonnen worden; aber der Kreis der Grundfragen ist unabänderlich derselbe geblieben, wie er in Wahrheit schon bei Epikur und Lucrez derselbe war.[405]

309

Vgl. Hettner, II. S. 364. – Über Naigeon, den »Pfaffen des Atheismus« vgl. Rosenkranz, Diderot, II. S. 288 u. f.

310

Vgl. Rosenkranz, Diderot, II. S. 78 u. f.

311

Die Definition, im Anfang des 2. Kapitels, lautet: »Le mouvement est un effort par lequel un corps change ou tend à changer de place.« In dieser Definition wird die Identität der Bewegung mit dem »nisus« oder »conatus« der damaligen Theoretiker, welche Holbach im Verlaufe des Kapitels nachzuweisen suche, schon vorausgesetzt, was zur Aufstellung eines Oberbegriffs (»effort«, »Anstrengung« in der deutschen Übersetzung, Leipzig 1841) führe, welcher im Grunde den Begriff der Bewegung schon einschließe und welcher außerdem eine anthropomorphe Färbung enthält, von welcher der einfachere Begriff der Bewegung frei ist. – Vgl. auch die folgende Anm.

312

An dieser Stelle (p. 17 u. f. der Ausgabe, Londres 1780, S. 23 u. f. der Übersetzung) zitiert der Verf. Tolands letters to Serena, allein gleichwohl wendet er nicht die volle Schärfe der Lehre Tolands von der Bewegung an. Dieser zeigt, daß »Ruhe« nicht nur stets relativ zu verstehen, sondern auch im Grunde nur ein Spezialfall der Bewegung sei, da genau gleich viel Aktivität und Passivität darin ist, wenn ein Körper im Konflikt der Kräfte seine Stelle eine Zeitlang behauptet, als wenn er den Ort wechsele. Holbach komme diesem Ziele nur auf einem Umwege nahe und trifft den entscheidenden Punkt nirgends genau; sei es, daß er Tolands Ansicht nicht in ihrer ganzen Schärfe erfaßt hatte, sei es, daß er seine eigne Behandlungsweise der Sache für populärer hält.

313

I, Kap. 3, p. 39 der Ausg. v. 1780.

314

I, Kap. 4, p. 52 der Ausg. v. 1780.

315

Vgl. den Artikel Dieu, Dieux im Dictionn. phil. abgedruckt in den Gesamtausgaben der Werke Voltaires, und unter dem Titel: »Sentiment de Voltaire sur le système de la nature« mit veränderter Reihenfolge der Abschnitte in der Ausgabe des Systeme de la nature von 1780.

316

Essai sur la peinture, I.: »Si les causes ee les effets nous étaient evidens, nous n'aurions rien de mieux a faire que de représenter les êtres tels qu'ils sont. Plus l'imitation serait parfaite ee analogue aux causes, plus nous en serions satisfaits.« Oeuvres compl. de Denis Diderot IV. 1. part., Paris 1818 p. 479. – Rosenkranz, dem wir den energischen Hinweis auf Diderots Idealismus verdanken (vgl. namentlich Diderot II, S. 132 u. f., die Stellen, welche aus dem Briefe an Grimm, zum Salon von 1767, oeuvres IV., 1. p. 170 u. ff. entnommen sind), hat in seinem Bericht über den Gedankengang des »essai sur la peinture« (Diderot, II, S. 137) diese wichtige Stelle wohl nicht hinlänglich beachtet. Es bleibt hier nichts übrig, als entweder schlechthin einen Widerspruch Diderots mit sich selbst anzunehmen, oder die hier gelehrte Überordnung der Naturwahrheit über die Schönheit in der im Text angenommenen Weise mit der Theorie »der wahren Linie« zu verbinden.

317

Syst. de la nat. I., c. 10, p. 158 u. f. der Ausg. von 1780. – Übrigens sei hier mit Rücksicht auf eine neuerdings sehr anspruchsvoll auftretende Überschätzung Berkeleys ausdrücklich bemerke, daß die »Unwiderlegbarkeit« seines Systems sich lediglich auf die Leugnung einer von unsern Vorstellungen verschiedenen Körperwelt beziehe. Der Schluß auf eine geistige, unkörperliche und tätige Substanz als Ursache unsrer Ideen ist so reich an den plattesten und handgreiflichsten Absurditäten, wie nur irgendein andres metaphysisches System.

318

I, ch. 9; in der Ausg. v. 1780: I., p. 124.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 377-406.
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