IV. Die Reaktion gegen den Materialismus in Deutschland

[406] Wir haben gesehen, wie früh der Materialismus in Deutschland Boden faßte. Gerade in Deutschland erhob sich aber auch mit bedeutender Kraft eine Reaktion gegen diese Geistesrichtung, welche sich durch einen großen Teil des achtzehnten Jahrhunderts hinzieht, und deren Betrachtung wir nicht unterlassen dürfen. Gleich zu Anfang des Jahrhunderts verbreitete sich die Leibnizsche Philosophie, deren wesentliche Grundzüge auf einen großartigen Versuch hinauslaufen, dem Materialismus mit einem Schlage zu entrinnen. Niemand kann die Verwandtschaft der Monaden mit den Atomen der Physiker verkennen.319 Der Ausdruck »principia rerum« oder »elementa rerum«, den Lucrez für die Atome anwendet, könnte ebensogut einen gemeinsamen Oberbegriff für Monaden und Atome bezeichnen. Leibnizens Monaden sind allerdings die Urwesen, die wahren Elemente der Dinge in seiner metaphysischen Welt, und man hat längst erkannt, daß der Gott, den er als den »zureichenden Grund der Monaden« in sein System aufgenommen hat, eine mindestens ebenso überflüssige Rolle spielt, als die Götter Epikurs, die sich schattenhaft in den Zwischenräumen der Welten herumtreiben.320 Leibniz, der ein Diplomat und ein Universalgenie war, der aber, wie Lichtenberg321 scharftreffend sagt, »wenig Festes hatte...«, vermochte es mit gleicher Leichtigkeit, sich in die Abgründe der tiefsten Spekulation zu versenken und im seichten Fahrwasser alltäglicher Erörterung die Klippen zu umschiffen, mit denen das praktische Leben den standhaften Denker bedroht. Es wird vergeblich sein, die Widersprüche seines Systems bloß aus der abgerissenen Form seiner gelegentlichen Produktion zu erklären; als ob jener reiche Geist in sich selbst eine vollkommen klare Weltanschauung gehegt hätte, als ob er irgendeinen Übergang, eine Erläuterung nur zufällig verschwiegen hätte, die uns mit einem Schlage den Schlüssel zu allen Rätseln seiner Schriften geben würde. Jene Widersprüche sind da; sie sind auch wohl Zeugen von Charakterschwächen; allein wir dürfen nicht vergessen, daß wir es hier nur mit dem Schatten im Bilde eines wahrhaft großen Mannes zu tun haben.322[406]

Leibniz, der einen Toland bei seiner königlichen Freundin Sophie Charlotte einführte, mußte selbst wissen, daß die verschwommenen und zweideutigen Gründe seiner Theodizee nur einen schwachen und für den eigentlichen Denker überhaupt gar keinen Damm gegen den Materialismus bilden konnten. Serena wird auch aus diesem Werke ebensowenig viel Beruhigung gefunden haben, als aus Bayles Lexikon und Tolands Briefen ernsthafte Beunruhigung. – Für uns ist einzig die Lehre von den Monaden und der prästabilierten Harmonie von Bedeutung. Diese zwei Begriffe haben mehr philosophischen Gehalt als manches breit ausgesponnene System. Es genügt, sie zu erklären, um ihre Bedeutung zu gewahren.

Wiederholt haben wir gesehen, wie schwierig, ja unmöglich es für den Materialismus, sofern er Atome annimmt, bleiben muß, von dem Ort der Empfindungen und überhaupt der bewußten Vorgänge Rechenschaft zu geben (vgl. S. 313). Sind sie in der Verbindung der Atome? Dann sind sie in einem Abstraktum, d.h. objektiv nirgends. Sind sie in der Bewegung? Das wäre dasselbe. Man kann nur das bewegte Atom selbst als Sitz der Empfindung annehmen. Wie setzt sich nun Empfindung zusammen zu einem Bewußtsein? Wo ist letzteres? In einem einzelnen Atom oder wieder in Abstraktionen, oder gar im leeren Raum, der dann eben nicht leer wäre, sondern mit einer eigentlichen immateriellen Substanz erfüllt?

Für die Einwirkung der Atome aufeinander gibt es kein anschauliches Prinzip, als das des Stoßes. Eine zahllose, bald so bald anders aufeinanderfolgende Menge von Stößen sollte also in dem erschütterten Atom die Empfindung hervorbringen. Dies scheint noch ebenso denkbar, als etwa, daß die Erschütterung einer Saite oder eines Teiles der Luft eine Schall hervorbringt. Aber wo ist der Schall? Schließlich, sofern wir uns seiner bewußt werden, im hypothetischen Zentral-Atome; d.h. unser Bild hilft nichts. Wir sind nicht weiter als zuvor. Es fehlt uns im Atom das zusammenfassende, eine Vielheit von Stößen in die Einheit der Empfindungsqualität umsetzende Prinzip. Es ist immer dieselbe Schwierigkeit, vor der wir stehen. Man denke sich das Atom wie man wolle – mit starren oder beweglichen Teilchen, mit Unteratomen, »innerer Zustände« fähig oder nicht: auf die Frage, wo und wie die Stöße aus ihrer Mannigfaltigkeit in die Einheit der Empfindung übergehen, ist nicht nur keine Antwort da, sondern es fehlt auch, sobald man der Sache auf den Grund geht, jede Denkbarkeit, geschweige denn[407] Anschaulichkeit eines solchen Vorganges. Erst wenn wir gleichsam das Auge unsres Verstandes entfernen, wird uns ein solches Zusammenwirken der Stöße zur Erzeugung der Empfindung natürlich vorkommen, wie uns mehrere Punkte, wenn wir das physische Auge entfernen, in einen einzigen zusammenfließen. Liegt etwa die Begreiflichkeit der Dinge darin, daß man von seinem Verstand, wie die schottischen Philosophen des »gesunden Menschenverstandes« grundsätzlich nur einen mittelmäßigen Gebrauch macht? Das war keine Rolle für einen Leibniz! Wir sehen ihn der Schwierigkeit gegenüber: Stoß, wie Epikur schon wollte, oder Wirkung in die Ferne, wie die Nachfolger Newtons wollten, – oder – – vielleicht gar keine Wirkung.

Das ist der Salto mortale zur prästabilierten Harmonie. Ob Leibniz durch ähnliche Betrachtungen oder sprungweise, oder wie immer auf seine Lehre gekommen ist, fragen wir nicht. Hier liegt aber der Punkt, der dieser Lehre überhaupt Bedeutung gibt, und es ist genau dieser Punkt, der sie auch für die Geschichte des Materialismus so wichtig macht. Die Einwirkungen der Atome aufeinander, so daß dadurch in einem oder mehreren derselben Empfindungen erzeugt werden, sind undenkbar; also sind sie auch nicht anzunehmen. Das Atom bringt seine Empfindungen aus sich hervor: es ist eine nach seinen eignen inneren Lebensgesetzen sich entfaltende Monade. Die Monade hat keine Fenster. Es geht nichts aus ihr hinaus, es kommt nichts in sie hinein. Die Außenwelt ist ihre Vorstellung, und diese Vorstellung entsteht in ihrem Innern. Jede Monade ist so eine Welt für sich; keine gleicht der andern. Die eine ist reich an Vorstellungen, die andre arm. Der Vorstellungsinhalt aller Monaden steht aber in einem ewigen Zusammenhang, in einer vollkommenen Harmonie, die vor Anbeginn der Zeiten festgestellt (prästabiliert) ist, und die sich im beständigen Wechsel aller Zustände aller Monaden beständig erhält. Jede Monade stellt sich, verworren oder deutlich, das ganze Universum, die ganze Summe alles Geschehens vor, und die Summe aller Monaden ist das Universum. Die Monaden der unorganischen Natur haben nur Vorstellungen, die sich ganz neutralisieren, wie die des Menschen im traumlosen Schlafe. Höher stehen die Monaden der organischen Welt; die niedere Tierwelt besteht aus träumenden Monaden; in der höheren stellt sich Empfindung und Gedächtnis ein; beim Menschen das Denken.

So gelangt man von einem verstandesmäßig begründeten Ausgangspunkt[408] durch eine geniale Erfindung mitten in die Poesie der Begriffe. Woher wußte Leibniz, wenn die Monade alle Vorstellungen aus sich hervorbringt, daß außer seinem Ich noch andre Monaden da seien? Hier liegt für ihn dieselbe Schwierigkeit vor wie für Berkeley, der durch den Sensualismus hindurch zu demselben Punkte gelangte, den wir hier durch den Atomismus erreichen. Auch Berkeley nahm die ganze Welt als Vorstellung, ein Standpunkt, den Holbach nicht recht zu widerlegen wußte. Schon der Cartesianismus hat einzelne Nachfolger dazu geführt, wirklich zu bezweifeln, daß außer ihrem eignen Wesen, welches Tun und Leiden, Lust und Weh, Kraft und Schwäche als seine eignen Vorstellungen aus sich hervorbringt, irgend etwas auf der weiten Welt existiert.323 Manche werden glauben, eine solche Weltanschauung sei leicht durch eine Dusche oder Brause bei angemessener Diät zu widerlegen; aber nichts wird den auf diesem Punkte angelangten Denker hindern, Brause, Arzt, seinen eignen Körper und eben kurzweg das ganze Universum für seine Vorstellung zu halten, außerhalb welcher nichts existiert. Auch wenn man bei diesem Standpunkt andre Wesen – was immerhin als denkbar wird zugegeben werden – annehmen will, so folgt daraus noch lange nicht die Notwendigkeit der prästabilierten Harmonie. Es könnten die Vorstellungswelten dieser Wesen in dem schreiendsten Widerspruch zueinander stehen; niemand würde etwas davon merken. Aber großartig, edel und schön ist freilich der Gedanke, den Leibniz zum Fundament seiner Philosophie machte, wie wenige andre. Sollte vielleicht überhaupt das Ästhetische, das Praktische auch in der erkennenden Philosophie eine durchgreifendere Bedeutung haben, als man gemeiniglich annimmt?

Die Monaden mit der prästabilierten Harmonie enthüllen uns das wahre Wesen der Dinge so wenig wie die Atome und die Naturgesetze. Sie geben aber eine reine, in sich abgeschlossene Weltanschauung wie der Materialismus und bergen nicht mehr innere Widersprüche in sich als dieser. Was aber vor allen Dingen dem Leibnizschen System seine Beliebtheit sicherte, ist die geschmeidige Vieldeutigkeit seiner Begriffe und der Umstand, daß ihre radikalen Konsequenzen weit verborgener liegen als diejenigen des Materialismus. Es geht in dieser Beziehung nichts über eine tüchtige Abstraktion. Der Schulfuchs, welcher sich vor dem Gedanken entsetzt, daß die Ahnherren des Menschengeschlechtes einst unsern heutigen Affen möchten geglichen haben, schluckt die Monadenlehre[409] gemütlich herunter, welche die menschliche Seele für wesentlich gleichartig erklärt mit allen Wesen des Universums bis zum verachtetsten Stäubchen herab, die alle in sich das Universum spiegeln, alle für sich kleine Götter sind und denselben Vorstellungsinhalt nur in verschiedener Ordnung und Entwicklung in sich tragen. Man merkt dabei nicht gleich, daß auch die Affenmonaden mit in der Reihe sind, daß sie so unsterblich sind wie die Menschenmonaden, und daß sie in fernerer Entwicklung vielleicht noch zu einem ganz schön geordneten Vorstellungsinhalt gelangen könnten. Wenn dagegen der Materialist mit plumper Hand den Affen neben den Menschen setzt, ihn dem Taubstummen vergleicht und ihn gleich einem Christenmenschen erziehen und bilden will, da hört man die Bestie die Zähne fletschen, man sieht ihre wilden Grimassen und geilen Gebärden, man fühlt mit unendlichem Abscheu die Gemeinheit und Widerlichkeit dieses Wesens in Körperform und Charakter, und – die bündigsten Vernunftschlüsse, von denen aber jeder ein Loch hat, strömen in reicher Fülle hervor, um das Widersinnige, Undenkbare. Vernunftwidrige einer solchen Annahme ganz klar und für jedermann faßlich darzutun.

Wie in diesem Falle die Abstraktion ihre Dienste tut, so auch in allen übrigen Punkten. Der Theologe kann die Vorstellung einer ewigen, großartigen, göttlichen Harmonie alles Geschehens gelegentlich vortrefflich brauchen. Daß die Naturgesetze bloßer Schein, nur niedre Erkenntnisweise des empirischen Verstandes sind, dient ihm vorzüglich, während ihm die Konsequenzen dieser Weltanschauung, sobald sie sich gegen den Kreis seiner Lehren wenden, durchaus nicht lästig fallen. Sie sind ja gleichsam nur im Keim des Begriffs vorhanden, und den Menschen, der Widersprüche aller Art zu seiner täglichen Speise zählt, stört nichts als was ihm sinnlich greifbar gegenübertritt. So war denn auch die Herstellung der Immaterialität und Einfachheit der Seele vor allen Dingen ein herrlicher Fund für die philosophischen Totengräber, deren eigentlicher Beruf darin liegt, eine bedeutende Idee mit dem Trümmerwerk und Schutt der Alltagsvorstellungen zu überdecken und unschädlich zu machen. Daß diese Immaterialität eine solche war, welche mit kühnem Ruck den alten Gegensatz von Geist und Materie für immer, und gründlicher als es der Materialismus konnte, beseitigte, darum kümmerte man sich nicht im mindesten. Man hatte die Immaterialität, diesen herrlichen, erhabenen Gedanken be wiesen durch den großen Leibniz! Wie verachtend konnte man[410] auf die Torheit derjenigen hinabblicken, welche die Seele für materiell hielten und ihr Bewußtsein mit einer so niedrigen Vorstellungsweise befleckten!

Eine ähnliche Bewandtnis hatte es mit dem vielgepriesenen und vielbekämpften Optimismus des Leibnizschen Systems. Im Lichte des Verstandes betrachtet und nach seinen wahren Voraussetzungen und Konsequenzen geprüft, ist dieser Optimismus nichts als die Anwendung eines Prinzips der Mechanik auf die Begründung der Weltwirklichkeit. Gott tut in der Wahl der besten unter den möglichen Weltennichts, was sich nicht auch mechanisch herstellen würde, wenn man die »Essenzen« der Dinge als Kräfte aufeinander wirken ließe. Gott verfährt dabei wie ein Mathematiker, der eine Minimumaufgabe löst,324 und der muß so verfahren, weil seine vollkommene Intelligenz an das Prinzip des zureichenden Grundes gebunden ist. Was für ein System sich bewegender Körper das »Prinzip des kleinsten Zwanges« ist, das ist für die göttliche Weltschöpfung das Prinzip des kleinsten Übels. Im Resultate kommt alles auf dasselbe heraus, wie wenn man die Entstehung der Welt aus den mechanischen Voraussetzungen eines Laplace und Darwin ableitet. Die Welt kann dabei noch herzlich schlecht sein, so ist sie doch immer die beste der möglichen Welten. Alles dies hindert aber die populäre Anwendung des Optimismus durchaus nicht, die Weisheit und Güte des Schöpfers in einem Tone zu preisen, als ob eigentlich gar kein Übel in der Welt existierte, welches wir nicht durch unsre Bosheit und unsern Unverstand hineinbringen. Gott ist im System ohnmächtig; in der populären Anwendung der gewonnenen Begriffe läßt sich seine Allmacht in das herrlichste Licht stellen.

Ähnlich steht es mit der Lehre von den angebornen Vorstellungen. Locke hat diese Lehre erschüttert; Leibniz stellte sie wieder her, und die Materialisten, Lamettrie an der Spitze, verhöhnen Leibniz deswegen. Wer hat in diesem Punkte recht? – – Leibniz lehrt, daß alle Gedanken aus dem Geist selbst hervorgehen, daß eine äußere Einwirkung auf den Geist überhaupt nicht stattfinde. Hiergegen läßt sich kaum etwas Sicheres einwenden. Man sieht aber auch gleich, daß die angebornen Ideen der Scholastiker und der Cartesianer ganz andrer Art sind. Bei diesen gilt es, gewisse allgemeine Begriffe, denen man denn auch die Vorstellung eines vollkommensten Wesens beizugesellen pflegt, vor allen andern Vorstellungen durch ihr Ursprungsattest zu bevorzugen und ihnen eine höhere[411] Glaubwürdigkeit zu sichern. Da nun aber bei Leibniz alle Vorstellungen angeboren sind, schwindet der Unterschied zwischen empirischer und angeblich ursprünglicher Erkenntnis völlig dahin. Für Locke ist der Geist anfänglich ganz leer; nach Leibniz enthält er das Universum. Locke läßt alle und jede Erkenntnis von außen kommen, Leibniz gar keine. Das Resultat dieser Extreme ist, wie so häufig, ziemlich dasselbe. Gesetzt, man gibt Leibniz zu, daß dasjenige, was wir äußere Erfahrung nennen, in der Tat innere Entwicklung ist: dann muß Leibniz hinwiederum zugeben, daß es außer den Erfahrungserkenntnissen keine spezifisch andern gibt. Sonach hat Leibniz von den angebornen Ideen im Grunde nur den Schein gerettet. Sein ganzes System ist immer wieder zurückzuführen auf einen einzigen großen Gedanken – einen Gedanken, der nicht zu beweisen, der aber auch vom Standpunkt des Materialismus nicht zu widerlegen ist, und der von einer offenbaren Unzulänglichkeit des Materialismus seinen Ausgangspunkt nimmt.

Wenn in Leibniz deutscher Tiefsinn gegen den Materialismus reagierte, so war es bei seinen Nachbetern die deutsche Pedanterei. Die Unart, endlose Begriffsbestimmungen aufzustellen, mit denen zuletzt gar nichts Sachliches ausgemacht wird, war unsrer Nation tief eingewurzelt. Sie überwuchert noch das ganze System Kants, und erst der frischere Geist, den der Aufschwung unsrer Poesie, der positiven Wissenschaften und der praktischen Bestrebungen mit sich gebracht hat, befreit uns allmählich – noch ist der Prozeß nicht vollendet – von den Formelnetzen der metaphysischen Wegelagerer. Der einflußreichste Nachfolger von Leibniz war ein wackrer, freidenkender Mann, aber ein höchst mittelmäßiger Philosoph, der Professor Christian Wolff, der eine neue Scholastik erfand, die von der alten erstaunlich viel sich zu assimilieren wußte. Während Leibniz seine tiefen Gedanken zerstreut und gleichsam beiläufig ans Licht brachte, wurde bei Wolff alles System und Formel. Die Schärfe der Gedanken verschwand, während der Ausdruck immer präziser wurde. Wolff brachte die Lehre von der prästabilierten Harmonie nur in einem Winkel seines Systems an und reduzierte die Monadenlehre in der Hauptsache auf den altscholastischen Satz, daß die Seele eine einfache und unkörperliche Substanz sei.

Diese Einfachheit der Seele, welche zum metaphysischen Glaubensartikel erhoben wurde, spielt nun im Kampf gegen den Materialismus die wichtigste Rolle. Der ganze große Parallelismus zwischen[412] Monaden und Atomen, Harmonie und Naturgesetz, in welchem die Extreme so schroff und doch so nah verwandt einander gegenüberstehen, schrumpft zusammen in einige Lehrsätze der sogenannten »rationellen Psychologie«, einer von Wolff erfundenen scholastischen Disziplin. Wolff hatte recht, sich dagegen zu sträuben, als sein ungleich schärfer denkender Schüler Bilfinger den Namen der Leibniz-Wolffschen Philosophie aufbrachte. Bilfinger, ein Mann, den Holbach im System der Natur mehrmals mit Achtung zitiert, verstand jedenfalls Leibniz ganz anders. Er verlangte in der Psychologie das Aufgeben der bisherigen Weise der Selbstbeobachtung und die Einführung einer naturwissenschaftlichen Methode. Den Worten nachstrebte übrigens auch Wolff in seiner empirischen Psychologie, die er neben der rationalen bestehen ließ, diesem Ziele zu. Der Sache nach war es freilich mit dieser Empirie noch sehr dürftig bestellt; allein die Tendenz ist doch vorhanden, und es ergab sich überhaupt aus den ermüdenden Kämpfen um das Wesen der Seele als natürlicher Rückschlag die Neigung, welche sich durch das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurchzieht, über das Seelenleben möglichst viel positive Tatsachen zusammenzutragen.

Fehlte es auch diesen Unternehmungen meist sehr an scharfer Kritik und fester Methode, so ist doch ein förderlicher methodischer Grundzug darin zu erkennen, daß man vor allen Dingen die Tierpsychologie anbaute. Der alte Streit zwischen den Anhängern von Rorarius und Descartes hatte nie geruht, und nun kam Leibniz, der durch die Monadenlehre auf einmal den Unterschied aller Seelen zu einem bloß graduellen machte. Anlaß genug zu erneuter Vergleichung! Man verglich, prüfte, sammelte Anekdoten, und unter dem Einfluß der wohlwollenden, sympathischen Geistesrichtung, welche die Bildung des vorigen Jahrhunderts, und namentlich die rationalistische Richtung auszeichnet, kam man immer mehr dazu, in den höheren Tieren sehr nah verwandte Wesen zu finden.

Diese Richtung auf eine allgemeine und vergleichende, Mensch und Tier umfassende Psychologie hätte an sich dem Materialismus ganz gelegen kommen können; allein die ehrliche Konsequenz der Deutschen hielt so lange als irgend möglich an den religiösen Vorstellungen fest, und man konnte sich an die Weise der Engländer und Franzosen, welche den Zusammenhang von Glauben und Wissen einfach ignorierten, durchaus nicht gewöhnen. Es blieb kein andrer Weg als der, die Seelen der Tiere nicht nur gleich denen[413] der Menschen für immateriell, sondern auch für unsterblich zu erklären. Leibniz hatte für die Lehre von der Unsterblichkeit der Tierseelen den Ton angegeben. Ihm folgte schon 1713 der Engländer Jenkin Thomasius in einer dem deutschen Reichstage gewidmeten Abhandlung über die Seele der Tiere, und der Nürnberger Professor Beier schrieb zu diesem Werkchen eine Vorrede, welche sich jedoch über diese Unsterblichkeitsfrage etwas zweideutig ausdrückt.325 Im Jahre 1742 trat eine ganze Gesellschaft von Tierfreunden auf, die eine Reihe von Jahren hindurch gesammelte Abhandlungen aus der Tierpsychologie veröffentlichten; wesentlich alle im Leibnizschen Sinne.326 Am berühmtesten wurde das Werk des Professors G. F. Meier, Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Tiere, welches 1749 zu Halle erschien. Meier begnügte sich nicht mit der Behauptung, daß Tiere Seelen hätten, sondern er ging sogar so weit, die Hypothese aufzustellen, das diese Seelen verschiedene Stufen durchmachen und endlich zur Staffel der Geister gelangen, d.h. mit dem Menschen gleichstehen werden.

Der Verfasser dieses Werkes hatte sich aber auch bereits durch die Bekämpfung des Materialismus einen Namen gemacht. Schon im Jahre 1743 erschien von ihm der »Beweis, daß keine Materie denken könne«, der 1751 in neuer Bearbeitung herauskam. Dies Schriftchen hat aber bei weitem nicht so viel Originelles, als die Tierpsychologie. Es dreht sich lediglich im Kreise Wolffscher Begriffsbestimmungen umher. Um dieselbe Zeit ungefähr versuchte sich der Königsberger Professor Martin Knutzen an der großen Zeitfrage, ob die Materie denken könne. Knutzen, zu dessen eifrigsten Schülern Immanuel Kant gehörte, lehnt sich in freier Weise an Wolff an und gibt nicht nur ein metaphysisches Gerippe, sondern auch eingehende Beispiele und historisches Material, das von vieler Belesenheit zeugt. Dennoch fehlt auch hier dem eigentlichen Beweis jegliche Schärfe, und es ist kein Zweifel, daß solche Schriften der gelehrtesten Professoren gegen eine als ganz unhaltbar, frivol, paradox und unsinnig verschriene Lehre sehr dazu beitragen mußten, das Ansehen der Metaphysik in den Grundfesten zu erschüttern.327

Durch solche und ähnliche Schriften, bei denen wir noch Reimanns historia atheismi (1725) und ähnliche Werke eines allgemeineren Charakters ganz beiseite lassen, war in Deutschland die materialistische Frage mächtig angeregt worden, als plötzlich der homme machine wie eine von unbekannter Hand geschleuderte[414] Bombe auf die literarische Bühne fuhr. Natürlich säumte die selbstgewisse Schulphilosophie nicht lange, ihre Überlegenheit an diesem Gegenstande des Ärgernisses zu erproben. Während man sich noch darüber herumstritt, ob der Marquis d'Argens, ob Maupertuis oder irgendein persönlicher Feind des Herrn von Haller das Werk verfaßt habe, erschien bereits eine Flut von Kritiken und Streitschriften.

Von den deutschen Gegenschriften wollen wir nur einige hier berühren. Ein Magister Frantzen suchte dem homme machine gegenüber die Göttlichkeit der ganzen Bibel und die Glaubwürdigkeit der sämtlichen Erzählungen des Alten und Neuen Testamentes mit den üblichen Gründen darzutun. Er hätte sich an eine bessere Adresse wenden können, allein er bewies wenigstens so viel, daß in damaliger Zeit selbst ein orthodoxer Theologe einen Lamettrie leidenschaftslos angreifen konnte.328

Interessanter ist die Schrift eines berühmten Breslauer Arztes, des Herrn Tralles. Dieser, ein überschwenglicher Bewunderer des Herrn von Haller, den er den doppelten Apollo (in Medizin und Dichtkunst) nennt, ist zwar wohl zu unterscheiden von dem bekannten Physiker Tralles, der beträchtlich später lebte, dagegen dürfte er ein und dieselbe Person sein mit dem Nachahmer Hallers, welchen Gervinus gelegentlich als den Verfasser eines »unglaublich elenden« Lehrgedichtes über das Riesengebirge erwähnt. Er schrieb ein dickes Buch in lateinischer Sprache gegen den homme machine und widmete es Herrn von Haller, vermutlich, um ihn wegen Lamettries perfider Dedikation zu trösten.329

Tralles geht davon aus, daß der homme machine die Welt überreden will, alle Ärzte seien notwendig Materialisten. Er streitet für die Ehre der Religion und die Unschuld der Arzneiwissenschaft. Für die Naivität seines Standpunktes ist es bezeichnend, daß er die Gründe seiner Widerlegung aus allen vier Hauptwissenschaften hernimmt, deren Beweiskraft ihm koordiniert scheint, wo nicht gar nach der Rangordnung der Fakultäten abgestuft. In allen Hauptpunkten sind es freilich die landläufigen, der Wolffschen Philosophie entlehnten Beweise, die auch hier überall wiederkehren.

Was Lamettrie aus dem Einfluß der Temperamente aus den Wirkungen von Schlaf, Opiumgenuß, Fieber, Hunger, Trunkenheit Schwangerschaft, Aderlaß, Klima usw. schließen will, wird einfach damit abgefertigt, daß aus all jenen Beobachtungen nur eine[415] gewisse Übereinstimmung zwischen Leib und Seele folge. Die Sätze von der Bildungsfähigkeit der Tiere veranlassen zu der naheliegenden Bemerkung, daß gewiß niemand dem Maschinenmenschen das Zepter in dem neu zu begründenden Affenstaate streitig machen werde. Redende Tiere gehören nicht zur besten Welt, sonst würden sie schon längst da sein.330 Könnten aber die Tiere auch reden, so könnten sie doch gewiß keine Geometrie lernen. – Eine äußere Bewegung kann niemals zur inneren Empfindung werden. Unsre Gedanken, die mit den Veränderungen in den Nerven verknüpft sind, kommen bloß vom göttlichen Willen her. Der homme machine sollte lieber Wolffs Psychologie studieren, um seine Begriffe von der Einbildungskraft zu verbessern.

Feiner und gewandter, aber keineswegs gründlicher als Tralles geht der Professor Hollmann zu Werke, der den Anonymen anonym, den Satiriker satirisch, den Franzosen in fließender französischer Sprache bekämpfte; wobei denn freilich für die Vertiefung der Erkenntnis keine Frucht gewonnen wurde.331 Die »lettre d'un anonyme« fand besonders viel Beifall durch die humoristische Fiktion, daß es wirklich einen Maschinenmenschen gebe, der nicht anders denken kann und das Höhere zu begreifen unfähig ist Diese Annahme gibt Veranlassung zu einer Reihe von witzigen Wendungen und erspart dem Briefsteller alle Beweise. Was jedoch Lamettrie mehr als aller Spott ärgerte, war die Äußerung der Vermutung, daß der homme machine ein Plagiat an dem Vertrauten Briefwechsel enthalte.

Gegen Schluß des anonymen Briefes tritt mehr und mehr ein prosaischer Fanatismus hervor. Besonders muß der Spinozismus herhalten. »Ein Spinozist ist in meinen Augen ein elender und verworrener Mensch, mit dem man Mitleid haben und, wenn ihm noch zu helfen ist, mit ein paar nicht gar tiefsinnigen Anmerkungen aus der Vernunftlehre und einer deutlichen Erklärung, was ›eins‹, was ›viel‹, heiße, und was eine Substanz sei, zu Hilfe zu kommen suchen muß. Wer hiervon deutliche und von allen Vorurteilen gereinigte Begriffe hat, der wird sich schämen, wenn ihn die verworrenen Einfälle der Spinozisten nur eine Viertelstunde beunruhigt haben.«

Kaum ein Menschenalter später hatte Lessing das hen kai pan gesprochen, und Jakobi erklärte der Vernunft selbst den Krieg, weil er annahm, daß sie jeden, der ihr allein folgt, mit unbedingter Notwendigkeit zum Spinozismus führen müsse.[416]

Ging in diesem unmittelbaren Sturm gegen den Maschinenmann der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Psychologie und der Reaktion gegen den Materialismus einstweilen verloren, so trat er doch später wieder deutlich hervor. Reimarus, der bekannte Verfasser der Wolfenbütteler Fragmente, war entschiedener Deist und ein eifriger Freund der Theologie, also ein Gegner des Materialismus von Haus aus. Seine Betrachtungen über die Kunsttriebe der Tiere, die seit 1760 eine Reihe von Auflagen erlebten, benutzt er, die Zweckmäßigkeit der Schöpfung und die Spuren eines Schöpfers allenthalben nachzuweisen. So sind es gerade die beiden Stimmführer des deutschen Rationalismus, Wolff, den der König von Preußen wegen seiner Lehre mit dem Strang bedrohte, und Reimarus, dessen Fragmente ihren Herausgeber Lessing in so schlimme Streitigkeiten verwickelten, in denen wir die Reaktion gegen den Materialismus am kräftigsten hervortreten sehen. – Hennings Geschichte von den Seelen der Menschen und Tiere (1774), ein Werk von geringem Scharfsinn, aber großer Belesenheit, welches durch seine reichlichen Zitate einen trefflichen Blick in die Kämpfe jener Zeit eröffnet, kann fast von Anfang bis zu Ende als ein Versuch zur Widerlegung des Materialismus betrachtet werden.

Der Sohn des Fragmentisten Reimarus, der die Untersuchungen seines Vaters zur Tierpsychologie fortsetzte, ein tüchtiger Mediziner und ein freidenkender Mann, veröffentlichte später im Göttingischen Magazin für Wissenschaften und Literatur eine Reihe von »Betrachtungen über die Unmöglichkeit körperlicher Gedächtnis-Eindrücke und eines materiellen Vorstellungs-Vermögens«, Aufsätze, die man wohl als das Gediegenste betrachten darf, was die Reaktion des achtzehnten Jahrhunderts gegen den Materialismus hervorgebracht hat. Allein schon ein Jahr nach diesen Aufsätzen erschien von Königsberg her ein Werk, welches nicht mehr unter dem beschränkten Gesichtspunkte jener Reaktion betrachtet werden darf, und dessen durchgreifender Einfluß gleichwohl für einstweilen dem Materialismus mitsamt der alten Metaphysik für alle, die auf der Höhe der Wissenschaft standen, ein Ende machte.

Ein Umstand aber, der eine so tiefgehende Reform der Philosophie ermöglichen half, war vor allen Dingen die Niederlage, welche der Materialismus der alten Metaphysik beigebracht hatte. Trotz aller fachmäßigen Widerlegung lebte der Materialismus fort[417] und gewann vielleicht nur um so viel mehr Boden, je weniger er sich systematisch abschloß. Männer wie Forster, wie Lichtenberg neigten sich stark zu dieser Weltanschauung, und selbst religiöse Gemüter und schwärmerische Naturen, wie Herder und Lavater, nahmen bedeutende Elemente derselben in ihren Vorstellungskreis auf. Am meisten Boden gewann die materialistische Auffassungsweise ganz in der Stille in den positiven Wissenschaften, so daß der Doktor Reimarus nicht mit Unrecht seine »Betrachtungen« mit der Bemerkung beginnen konnte, daß in der letzten Zeit die Verrichtungen der Denkkraft in verschiedenen, ja in fast allen dahin gehörigen Schriften körperlich vorgestellt würden. Dies schrieb, nachdem die Philosophen so manche Lanze vergeblich gebrochen, ein einsichtsvoller Gegner des Materialismus im Jahre 1780. Die Wahrheit war, daß die gesamte damalige Schulphilosophie kein genügendes Gegengewicht gegen den Materialismus abgeben konnte. Der Punkt, auf welchem Leibniz wirklich den Materialismus an Konsequenz überboten hatte, war zwar nicht vergessen, aber er hatte seine Kraft verloren. Die Unmöglichkeit des Übergangs äußerer, vielfacher Bewegung in ein einheitliches Inneres, in Empfindung und Vorstellung, wird zwar von fast allen Gegnern des Materialismus gelegentlich hervorgehoben, allein diese Hervorhebung verschwindet in einem Wust andrer, ganz wertloser Gründe, oder steht in abstrakter Blöße der Farbenfülle der materialistischen Beweisführung gegenüber. Indem man vollends den positiven Satz der Einfachheit der Seele rein dogmatisch behandelte und damit den lebhaftesten Widerspruch hervorrief, machte man gerade das stärkste Argument zu dem schwächsten. Nur als Fortbildung des Atomismus hat die Monadenlehre Grund, nur als notwendige Umbildung der Naturnotwendigkeit ist die prästabilierte Harmonie gerechtfertigt. Aus bloßen Begriffen abgeleitet und so dem Materialismus schlechthin entgegengesetzt, verlieren die bedeutenden Gedanken jede Beweiskraft.

Anderseits war aber auch der Materialismus durchaus nicht imstande, die Lücke auszufüllen und sich zum herrschenden Systeme zu erheben. Man würde weit fehlen, wenn man darin nur den Einfluß der Fakultätsüberlieferungen und der Gewalten in Staat und Kirche sähe. Dieser Einfluß hätte einer lebendigen und allgemeinen Überzeugung nicht lange standhalten können. Man war vielmehr auch das ewige Einerlei der materialistischen Dogmatik gründlich müde und verlangte nach Erquickung durch das[418] Leben, durch die Poesie, und durch die positiven Wissenschaften. Die ganze aufstrebende Geistesströmung des achtzehnten Jahrhunderts war dem Materialismus nicht günstig. Sie enthielt einen idealen Zug, der zwar erst seit der Mitte des Jahrhunderts deutlich hervortrat, der aber schon in den ersten Anfängen der großen Bewegung enthalten war. Geht man freilich vom Ende des Jahrhunderts aus, so kann es scheinen, als habe sich erst in der glänzenden Epoche eines Schiller und Goethe das ideale Streben der Nation über die dürre Nüchternheit der Aufklärungsperiode und über die prosaische Jagd nach dem Nützlichen erhoben; allein verfolgt man die verschiedenen, hier zusammentreffenden Strömungen bis an ihren Ursprung, so stellt sich uns ein ganz andres Bild dar. Seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts gewahrten heller blickende Männer in Deutschland, wie weit man hinter andern Nationen zurückgeblieben sei. Ein Ringen nach Freiheit, geistigem Fortschritt und nationaler Selbständigkeit begann auf den verschiedensten Gebieten, in verschiedenen Formen, bald hier, bald da scheinbar isoliert auftauchend, bis eine allgemeine und tiefe Bewegung der Geister entstanden war. Die Männer der Aufklärung zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts waren größtenteils sehr verschieden von jener nüchternen Berliner Gesellschaft, mit welcher Goethe und Schiller im Streite lagen. Mystik und Rationalismus vereinigten sich im Kampfe gegen die verknöcherte Orthodoxie, in welcher man die Fessel des Geistes und den Hemmschuh des Fortschrittes zu erkennen begann. Seit Arnolds bedeutungsvoller Kirchen- und Ketzerhistorie (1699) war in Deutschland die Anerkennung des Rechtes der unterlegenen Personen und Parteien in der Geschichte eine mächtige Stütze der Denkfreiheit geworden.332 Dieser ideale Ausgangspunkt ist sehr bezeichnend für die Eigentümlichkeit der deutschen Aufklärung. Während Hobbes dem Fürsten das Recht zusprach, einen allgemeinen Aberglauben durch sein Machtgebot zur Religion zu erheben, während Voltaire den Glauben an Gott erhalten wollte, damit die Bauern ihre Pacht bezahlen und ihren Gebietern gehorchen, beginnt man hier mit der Bemerkung, daß die Wahrheit bei den Verfolgten Unterdrückten und Verleumdeten wohnt, und daß jede im Besitz der Macht, der Würden, der Pfründen befindliche Kirche schon als solche die Tendenz hat, die Wahrheit zu verfolgen und zu unterdrücken.

Selbst die Richtung des Geistes auf das Nützliche gewann in[419] Deutschland einen idealen Zug. Hier wurde nicht wie in England eine große industrielle Bewegung hervorgerufen; keine Städte wuchsen aus dem Boden, keine Reichtümer häuften sich im Besitz großer Unternehmer: arme Prediger und Lehrer fragten sich, was dem Volke nützen kann und legten Hand an, um durch Gründung neuer Schulen, durch Aufnahme neuer Lehrfächer in die vorhandenen Schulen, die gewerbliche Bildung des schlichten Bürgerstandes und auf dem Lande den Ackerbau zu befördern, mit der Tätigkeit für den Beruf zugleich die Geistestätigkeit zu heben und die Arbeit in den Dienst der Tugend zu stellen. Aber auch die entgegengesetzte Richtung, diejenige auf das Schöne und Erhabene, wurde längst vor dem Beginn der klassischen Literaturperiode angebahnt und vorbereitet, und auch hier sind es die Schulen, welche die Anfänge dieser aufsteigenden Bewegung in ihrem Kreise hegen und ausbilden. Die gleiche Zeit, in welcher die Alleinherrschaft des Lateinischen an den höheren Schulen gebrochen wurde, brachte die ersten Anfänge einer Herstellung des altklassischen Unterrichtes. Dieser stand in jener öden Periode, da man Latein um der Theologie willen und Theologie um des Lateinischen willen trieb,333 in fast ganz Deutschland auf einer erstaunlich niedrigen Stufe. Die klassischen Schriftsteller waren durch neulateinische von christlichem Inhalt ersetzt. Griechisch trieb man gar nicht, oder man beschränkte sich auf das Neue Testament und eine Sammlung von Sittensprüchen; die Dichter, welche von den großen Humanisten mit Recht vorangestellt wurden und die sich in England zum großen Vorteil der nationalen Bildung ein unerschütterliches Ansehen erworben hatten, waren in Deutschland fast spurlos von den Lehrplänen verschwunden. Selbst an den Universitäten war von humanistischer Bildung wenig zu finden, und die griechische Literatur wurde völlig vernachlässigt. Von hier bis zu der glänzenden Epoche der deutschen Philologie seit Friedrich August Wolff gelangte man weder durch einen plötzliche Sprung noch durch eine von außen kommende Offenbarung, sondern in mühsamem Emporringen von Stufe zu Stufe und im Zuge jener großen Bewegung, die man als die zweite Renaissance in Deutschland bezeichnen kann. – Gervinus spottet über »die antiquarischen Gelehrten, die materialistischen Sammler, die prosaischsten Menschen«, die gegen Ende des siebzehnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts überall anfingen, »in Nebenstunden zu[420] poetisieren, statt spazieren zu gehn«; aber er übersieht, daß diese nämlichen gelehrten Verfasser schlechter Verse in aller Stille einen andern Geist in die Schulen brachten. Was ihnen an Schwung fehlte, mußte einstweilen die Tendenz und der Eifer ersetzen, bis ein Geschlecht aufkam, das unter anregenden Jugendeindrücken aufgewachsen war. Fast bei allen namhaften Dichtern der vorklassischen Periode, wie Uz, Gleim, Hagedorn u. a. vermag man den Einfluß der Schule nachzuweisen.334 Hier wurden deutsche Verse gemacht, dort griechische Schriftsteller gelesen, aber der Geist, aus dem beides hervorging, war derselbe, und der einflußreichste Erneuerer der altklassischen Gymnasialbildung, Johann Matthias Gesner, war zugleich ein Freund der Realien und ein eifriger Förderer der deutschen Sprache. Nicht umsonst hatten Leibniz und Thomasius auf den Vorteil hingewiesen, welchen andre Nationen aus der Pflege ihrer Muttersprache zogen.335 Was Thomasius noch in gewaltigen Kämpfen hatte durchsetzen müssen: der Gebrauch des Deutschen im akademischen Lehrvortrage und in der Behandlung der Wissenschaften, das wurde im achtzehnten Jahrhundert allmählich herrschend, und selbst der nüchterne Wolff leistete durch seine Anwendung des Deutschen in philosophischen Werken der erwachenden Begeisterung für nationales Leben Vorschub.

In seltsamer Weise mußten Männer ohne alle dichterische Begabung dem Aufschwung der Dichtkunst vorarbeiten, Gelehrte von pedantischem Charakter und verdorbenem Geschmack zu den Mustern edler Einfachheit und freier Menschlichkeit hinleiten.336 Die verschollene Kunde von der Herrlichkeit der altklassischen Literatur leitete die Gemüter einem Ideal der Schönheit entgegen, von welchem weder die Suchenden noch die Führer eine klare Vorstellung hatten, bis mit den Taten Winckelmanns und Lessings ein heller Tag aufging. Der Gedanke, durch Erziehung und Wissenschaft sich den Griechen zu nähern, taucht schon früh im achtzehnten Jahrhundert vereinzelt auf und gewinnt mit jedem Dezennium an Kraft, bis endlich durch die tiefsinnigen Untersuchungen Schillers die Kreise des Antiken und Modernen prinzipiell geschieden wurden, während die Mustergültigkeit der griechischen Kunst innerhalb gewisser Schranken nur um so fester begründet wurde.

Das Suchen nach dem Ideal durchzieht das ganze Jahrhundert. Während man noch nicht daran denken konnte, mit den fortgeschrittensten[421] Nationen an Macht und Reichtum, an Würde des politischen Daseins und an Großartigkeit äußerer Unternehmungen zu wetteifern, sucht man ihnen im Höchsten und Edelsten den Rang abzulaufen. In diesem Sinne verkündete Klopstock den Wettlauf der deutschen mit der britannischen Muße, als noch wenig Beweis für die Ebenbürtigkeit der ersteren vorhanden war, und Lessing zerbrach mit seiner gewaltigen Kritik die Fesseln aller falschen Autoritäten und ungenügenden Vorbilder, um den Weg zu den höchsten Leistungen zu ebnen, unbekümmert darum, wer ihn wandeln würde.

In diesem Sinne wurden auch die Einflüsse des Auslandes nicht passiv aufgenommen, sondern umgebildet. Wir haben gesehen, wie früh der englische Materialismus in Deutschland Boden faßte, aber die Oberhand konnte er nicht gewinnen. Statt der heuchlerischen Gotteslehre bei Hobbes verlangte man einen wirklichen Gott und einen Gedanken als Grundlage des Weltalls. Die Art, wie Newton und Boyle neben einer herrlichen, großen Weltordnung das Flickwerk der Wunder fortbestehen ließen, konnte den Führern der deutschen Aufklärung ebensowenig behagen. Besser stimmte man mit den Deisten überein; vor allem aber gewann Shaftesbury einen großen Einfluß, der mit der abstrakten Verständigkeit der Weltanschauung eine dichterische Kraft der Phantasie und eine Liebe zum Ideal verbindet, durch welche dem Verstandesmäßigen die Waage gehalten wird, so daß ohne allen Kritizismus gleichsam die Errungenschaften der Kantschen Philosophie für den Frieden zwischen Herz und Verstand vorweggenommen werden. In Shaftesburys Sinne verstand man denn auch meistens die Lehre von der Vollkommenheit der Welt, wenn man sich dabei auch äußerlich an Leibniz anlehnte; von Leibniz wird der Text genommen, von Shaftesbury die Interpretation, und an Stelle der Mechanik der unerschaffenen Essentien trat, wie in Schillers Jungendphilosophie, der Hymnus auf die Schönheit des Alls, in welchem alles Übel nur der Harmonie des Ganzen dient, wie der Schatten im Gemälde, wie die Dissonanz in der Musik.

In diesen Kreis der Gedanken und Empfindungen paßt denn auch der Spinozismus weit besser als der Materialismus; ja, man könnte den Unterschied dieser beiden Richtungen vielleicht durch nichts so klarmachen, als durch den Einfluß, welchen Spinoza auf die leitenden Geister des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland geübt hat. Dabei darf man freilich nicht vergessen, daß wohl kein[422] einziger dieser Männer im eigentlichen Sinne des Wortes Spinozist war. Man hielt sich an wenige große Grundgedanken: an die Einheit alles Seienden, die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens, die Identität von Geist und Natur. Am wenigsten kümmerte man sich um die Form des Systems und den Zusammenhang der einzelnen Sätze, und wenn die Behauptung laut wird, daß der Spinozismus das notwendige Resultat des natürlichen Denkens sei, so liegt darin nicht eine Anerkennung der Richtigkeit seiner Demonstrationen in mathematischer Beweisform, sondern die Totalität dieser Weltanschauung, im Gegensatze zu der überlieferten christlich-scholastischen, wird als das Ziel alles Denkens anerkannt. So äußerte der scharfsinnige Lichtenberg: »Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universalreligion geläuterter Spinozismus sein. Sich selbst überlassene Vernunft führt auf nichts andres hinaus, und es ist unmöglich, daß sie auf etwas andres hinausführe.«337 Hier wird der Spinozismus, zu dessen Läuterung gewiß auch die Abstreifung der mathematischen Formeln gehört, in denen sich so mancher Trugschluß versteckt, nicht als ein endgültiges System der theoretischen Philosophie gepriesen, sondern als Religion, und damit war es Lichtenberg, der bei aller Hinneigung zum theoretischen Materialismus einen tiefreligiösen Zug hatte, vollkommener Ernst. Niemand würde in dem theoretisch konsequenteren und im einzelnen korrekteren System eines Hobbes die Religion der Zukunft finden. In dem »deus sive natura« Spinozas verschwindet der Gott nicht hinter der Materie. Er ist vorhanden und lebt, als die innere Seite desselben großen Ganzen, welches unsern Sinnen als die Natur erscheint.

Auch Goethe verwahrte sich dagegen, daß man den Gott Spinozas als einen abstrakten Begriff, das heißt: als eine Null auffasse, während er doch vielmehr das allerreellste, tätige Eins sei das zu sich spricht: »Ich bin, der ich bin, und werde in allen Veränderungen meiner Erscheinung sein, was ich sein werde.«338 So entschieden Goethe sich von dem Newtonschen Gott abwandte, der die Welt nur »von außen stieße«, so entschieden hielt er fest an der Göttlichkeit des innern, einheitlichen Wesens, welche seinen Erscheinungen, den Menschen nur als Welt erscheint, während er seinem wahren Wesen nach über jede Vorstellungsweise eines seiner Geschöpfe erhaben ist. – Noch in späteren Jahren flüchtete Goethe zu Spinozas Ethik, wenn ihn eine fremdartige Anschauung unangenehm[423] berührt hatte, und er nennt es seine reine, tiefe, angeborne und geübte Anschauungsweise, die ihn »Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte.«339

Bekanntlich hat Goethe auch dafür gesorgt, daß wir den Eindruck kennen, den das System der Natur auf den jugendlichen Dichter geübt hat. Das Urteil, welches er fällte, weit entfernt Holbach gerecht zu werden, zeichnet den Gegensatz zwischen zwei völlig verschiedenen geistigen Strömungen so schlagend, daß wir hier in der Tat wohl Goethe als Vertreter der aufstrebenden deutschen Jugend jener Zeiten dürfen reden lassen: »Wir begriffen nicht, wie ein solches Buch gefährlich sein könnte. Es kam uns so grau, so kimmerisch, so totenhaft vor, daß wir Mühe hatten, seine Gegenwart auszuhalten.«340

Die weiteren Betrachtungen, welche Goethe dann im Sinne seines jugendlichen Gedankenkreises folgen läßt, sind nicht eben von Bedeutung; außer insofern sie ebenfalls zeigen, daß ihm und seinen jungen Geistesgenossen das Buch »als die rechte Quintessenz der Greisenheit, unschmackhaft, ja abgeschmackt« vorkam. Man verlangte nach dem vollen, ganzen Leben, wie es ein theoretisches und polemisches Werk weder geben konnte noch sollte; man wollte die Befriedigung des Gemütes, wie sie im Grunde nur auf dem Boden der Dichtung zu finden ist, bei der Arbeit der Aufklärung nicht missen. Man bedachte nicht, daß, wenn das Weltganze auch das höchste Kunstwerk wäre, eine Analyse seiner Elemente stets etwas andres sein müßte, als der Genuß des Ganzen in der Anschauung seiner Herrlichkeit. Wo bleibt die Schönheit der Ilias, wenn sie buchstabiert wird? Und das Buchstabieren der notwendigsten Erkenntnis, nach seinen Begriffen, hatte sich gerade Holbach zur Aufgabe gemacht. Kein Wunder, daß Goethe mit folgender Bemerkung sein Urteil abschließt: »Wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zumute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. Eine Materie sollte sein, von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor unsern Augen aufgebaut hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen wie wir, denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verläßt er sie[424] sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben.«

Diese Jugend konnte freilich auch von den Beweisen der Schulphilosophie, »daß keine Materie denken könne«, keinen Gebrauch machen. »Wenn uns jedoch«, bemerkte Goethe, »dieses Buch einigen Schaden gebracht hat, so war es der, daß wir aller Philosophie, besonders aber der Metaphysik recht herzlich gram wurden und blieben, dagegen aber aufs lebendige Wissen, Erfahren, Tun und Dichten uns nur desto lebhafter und leidenschaftlicher hinwarfen.«[425]

319

Zeller, Gesch. d. deutschen Phil. (München 1873) erörtert S. 99 u. f. den Einfluß der Atomistik auf Leibniz und bemerke sodann: »Er kehrte von den Atomen jetzt wieder zu den substantiellen Formen des Aristoteles zurück, um aus beiden seine Monaden hervorgehen zu lassen«; und ebendas. S. 107: »An die Stelle der materiellen Atome treten so geistige Individuen, an die Stelle der physischen ›metaphysische Punkte‹.« – Leibniz selbst nenne die Monaden auch »formelle Atome«; vgl. Kuno Fischer, Gesch. d. n. Phil. II., 2. Aufl. S. 319 u. ff.

320

Daß die Ansicht von der Unvereinbarkeit der Leibnizschen Theologie mit den philosophischen Grundlagen seines Systems eine weit verbreitete war (also nicht nur Erdmann »so etwas geäußert hat«; vgl. Schilling, Beitr. zur Gesch. d. Mat. S. 23) wird von Kuno Fischer (Gesch. d. neueren Phil. II., 2. Aufl. S. 627 u. ff.) ausdrücklich bestätige, während derselbe die Ansicht selbst nachdrücklich bekämpfe. Fischers Beweis des Gegenteils stütze sich auf die Notwendigkeit einer höchsten Monade, welche alsdann als die »absolute« oder »Gott« bezeichnet wird. Zugegeben ist, daß das System eine höchste Monade voraussetzt, aber nicht, daß eine solche, sofern sie wirklich nach den Grundsätzen der Monadenlehre gedacht wird, die Stelle eines die Welt erhaltenden und regierenden Gottes einnehmen könne. Die Monaden entwickeln sich nach den in ihnen liegenden Kräften mit strenger Notwendigkeit. Keine derselben kann, weder im Sinne der gewöhnlichen Kausalität, noch im Sinne der »prästabilierten Harmonie«, hervorbringende Ursache der übrigen sein. Die prästabilierte Harmonie selbst bringt ebenfalls nicht die Monaden hervor, sondern sie bestimmt nur ihren Zustand, und zwar in durchaus gleicher Weise, wie im System des Materialismus die allgemeinen Bewegungsgesetze den Zustand (bez. das räumliche Verhalten) der Atome bestimmen. Es ist nun aber leicht zu sehen, daß es eine einfache logische Konsequenz des Leibnizschen Determinismus ist, die Kausalreihe hier abzubrechen, statt noch einen »zureichenden Grund« der Monaden und der prästabilierten Harmonie aufzustellen, welcher weiter nichts zu tun hat, als eben dieser zureichende Grund zu sein. Newton gab seinem Gott doch noch etwas zu stoßen und zu flicken; ein Gott, der nichts zu tun hat, als Grund des letzten Grundes der Welt zu sein, ist so überflüssig wie die Schildkröte, welche die Erde trägt, und veranlaßt unmittelbar die weitere Frage, was denn der zureichende Grund diese Gottes sei. Kuno Fischer sucht dieser zwingenden Folgerung zu entgehen, indem er nicht sowohl den Zustand der Monaden aus der prästabilierten Harmonie ableitet, als vielmehr diese aus den Monaden. »Sie folge notwendig aus den Monaden, weil sie ursprünglich darin liegt« (a. a. O. S. 629). Dies ist eine bloße Umkehrung des identischen Satzes: die prästabilierte Harmonie ist die vorausbestimmte Ordnung im Zustande der Monaden. Es folgt daraus nicht das mindeste für das notwendige Hervorgehen aller übrigen Monaden aus der vollkommensten. Der Umstand, daß diese den Erklärungsgrund für den Zustand der übrigen abgibt (ein Gedanke, der übrigens auch nicht ohne Widerspruch durchzuführen ist), macht sie noch nicht zum Realgrund, und selbst wenn sie dieses wäre, so käme dadurch zwar in gewissem Sinne ein »überweltlicher« Gott zustande, aber gleichwohl kein Gott, welchen der religiöse Theismus brauchen kann. Zeller hat (Gesch. d. deutschen Phil., S. 176 u. f.) sehr richtig bemerkt: »Es wäre an sich nicht allzuschwer, dem Leibnizschen wie jedem theologischen Determinismus nachzuweisen, daß er bei folgerichtiger Entwicklung über den theistischen Standpunkt seines Urhebers hinausführe und uns nötige in Gott nicht bloß den Schöpfer, sondern auch die Substanz aller endlichen Wesen zu erkennen.« Dieser nicht allzuschwierige Beweis gehört aber zur notwendigen Kritik des Leibnizschen Systems, um so mehr, da ein Geist wie Leibniz dies auch wohl nach Descartes, Hobbes und Spinoza selbst entdecken mußte. – Der einzige Punkt, welcher Gott auf eine notwendige Weise mit der Welt zu verknüpfen scheine, ist die Lehre von der Wahl der »besten« Welt aus unendlich vielen möglichen Welten. Hier aber können wir auf die gründliche, überall auf die Quellen gestützte Behandlung bei Baumann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik, Berlin 1869, II. S. 280 u. ff. verweisen, wo gezeigt wird, daß man die ewigen Essentien der Dinge, an deren Wesen Gott nichts zu ändern vermag, ebensogut als ewige Kräfte fassen kann, durch deren wirklichen Kampf jenes Minimum wechselseitiger Hemmung erziele wird, welches Leibniz durch die (notwendige!) Wahl Gottes zustande kommen läßt. Die logischen Konsequenzen seiner auf die Mathematik gestützten Weltanschauung führen zur ewigen Vorherbestimmung aller Dinge »durch einfache Tatsache«, »alles endet in bloßer, nackter Tatsächlichkeit; die Anknüpfung der Dinge an Gott ist ein leerer Schatten.« (S. 285.)

321

Aus der in der vorhergehenden Anmerkung nachgewiesenen logischen Überflüssigkeit des Gottesbegriffs in der Leibnizschen Metaphysik folgt freilich noch nicht, daß auch die Annahme desselben für Leibniz subjektiv entbehrlich war, und es läßt sich der Natur der Sache nach hierfür kein gleich zwingender Beweis beibringen. Auch ist es nicht immer leicht, zwischen religiösem Bedürfnis (welches Zeller, S. 103 in Leibniz annimmt) und dem Bedürfnis, sich mit dem religiösen Sinn seiner Umgebung in Frieden zu halten, zu unterscheiden. Gleichwohl möchten wir in dieser Beziehung Leibniz nicht schlechthin mit Descartes gleich setzen. Nicht nur erscheint uns bei letzterem manches einfach als kluge Berechnung, was bei Leibniz mehr den Eindruck sympathischer Anschmiegung eines weichen Gemütes mache; es kann auch bei dem letzteren ein gewisser Zug zum Mystischen gefunden werden, welcher Descartes gänzlich abgehe (vgl. Zeller, S. 103). Darin liege weder ein psychologischer Widerspruch mit dem klaren und strengen Determinismus seines Systems, noch auch ein Beweis für die Aufrichtigkeit seiner theologischen Kunststücke. – Die im Text berührte Äußerung Lichtenbergs (unter den »Beobachtungen über den Menschen« im 1. Teil der »vermischten Schriften«) lautet vollständig: »Leibniz hat die christliche Religion verteidigt. Daraus geradeweg zu schließen, wie die Theologen tun, er sei ein guter Christ gewesen, verrät sehr wenig Weltkenntnis. Eitelkeit, etwas Besseres zu sagen als die Leute von Profession, ist eine weit wahrscheinlichere Triebfeder, so etwas zu tun, als Religion. Man greife doch mehr in seinen eignen Busen und man wird finden, wie wenig sich von andern behaupten läßt. Ja ich getraue mir zu beweisen, daß man zuweilen glaubt, man glaube etwas, und glaubt es doch nicht. Nichts ist unergründlicher als das System von Triebfedern unsrer Handlungen.«

322

Eine gute Charakteristik von Leibniz mit besondrer Rücksicht auf die Einflüsse, welche seine Theologie bestimmten, gibt Biedermann. Deutschland im 18. Jahrhundert, 11. Bd., 5. Abschnitt; vgl. insbes. S. 242 u. ff. – Mit vollem Recht erklärt Biedermann namentlich auch die bekannte Lessingsche Verteidigung der von Leibniz eingenommenen Stellung für unzulänglich. Lessing wendet dabei den Begriff der exoterischen und esoterischen Lehre an, jedoch in einer Weise, die uns ebenfalls etwas exoterisch erscheinen will.

323

Vgl. I. 2. Abschn. S. 268 f. und die Anmerkung 63 auf S. 298. – Hennings in der »Gesch. von d. Seelen der Menschen und Tiere«, Halle 1774, S. 145 macht aus den Anhängern dieser Meinung eine besondere Klasse der Idealisten, welche er als die der »Egoisten« im Gegensatze zu den »Pluralisten« bezeichnet.

324

Sehr treffend sagt Du Bois-Reymond, Leibnizsche Gedanken in der modernen Naturwissenschaft (zwei Festreden, Berlin 1871) S. 17: »Bekanntlich verdankte ihm die Theorie der Maxima und Minima der Funktionen durch die Auffindung der Methode der Tangenten den größten Fortschritt. Nun stellt er sich Gott bei Erschaffung der Welt wie einen Mathematiker vor, der eine Minimum-Aufgabe, oder vielmehr, nach jetziger Redeweise, eine Aufgabe der Variations-Rechnung löst: die Aufgabe, unter unendlich vielen möglichen Welten, die ihm unerschaffen vorschweben, die zu bestimmen, für welche die Summe des notwendigen Übels ein Minimum ist.« Daß aber Gott dabei mit gegebenen Faktoren zu rechnen hat (den Möglichkeiten oder den »Essentien«), hat am schärfsten Baumann hervorgehoben (Lehren von Raum, Zeit und Mathematik, II., S. 127-129). – Dabei gilt es als selbstverständlich, daß Gottes vollkommene Intelligenz ohne Schwanken denselben Regeln folge, welche wir mit unserm Verstande als die richtigsten erkennen (vgl. Baumann a. a. O. S. 115); d.h. die Tätigkeit Gottes bewirkt gerade dies, daß sich alles nach den Gesetzen der Mathematik und der Mechanik vollzieht. – Vgl. oben Anm. 93.

325

In der ersten Auflage werden Baier und Thomasius mit Unrecht »Mediziner der Universität Nürnberg« genannt. Jenkin Thomasius ist ein englischer Arzt, welcher sich damals in Deutschland aufhielt und wahrscheinlich auch mit der Universität zu Altdorf in Verbindung getreten war; wenigstens schließt Prof. Baier seine Vorrede mit den Worten: »cuius proinde laborem et studia. Academiæ nostræ quam maxime probata, conctis bonarum literarum fautoribus meliorem in modum commendo.« Baier aber, welcher dies Vorwort schrieb, ist nicht der damals in Nürnberg lebende Mediziner Johann Jakob Baier, sondern der Theologe Johann Wilhelm. – Einen kurzen Auszug des Schriftchens, welches in der Universitäts-Buchdruckerei von Kohlesius 1713 erschien, findet man in Scheitlins Tierseelenkunde, Stuttg. u. Tüb. 1840, I. S. 184 u. ff.

326

Näheres über diese Gesellschaft habe ich unter meinen Vorarbeiten zur 1. Aufl. nicht finden können und verweise daher als Beleg auf Grässes Bibl. psychologica, Leipzig 1845, wo unter dem Namen Winkler die Titel der betr. Abhandlungen mitgeteilt sind. Eine derselben (aus dem Jahre 1743) behandelt die Frage: »ob die Seelen der Tiere mit ihren Leibern sterben?« – In Hennings Gesch. v. d. Seelen der Menschen u. Tiere, Halle 1774, findet sich der Titel der gesammelten Abhandlungen etwas vollständiger als bei Grässe angegeben. Derselbe lautet: Philosophische Untersuchungen von dem Seyn und Wesen der Seelen der Thiere, von einigen Liebhabern der Weltweisheit in sechs verschiedenen Abhandlungen ausgeführt, und mit einer Vorrede von der Einrichtung der Gesellschaft dieser Personen ans Licht gestellt von Johann Heinrich Winkler, der griech. und lateinischen Sprache Professorn zu Leipzig 1745.

327

Näheres über das hier berührte Werk Knutzens findet man bei Jürgen Bona Meyer, Kants Psychologie, Berlin 1870, S. 225 u. ff. – Meyer stellte sich die Aufgabe, zu untersuchen, woher Kant seine Vorstellung von der »rationalen Psychologie« gewonnen habe, wie sie der in der Kritik d. r. Vern. enthaltenen Widerlegung zugrunde liegt. Das Resultat ist, daß aller Wahrscheinlichkeit nach drei Werke die Hauptrolle spielen: Knutzens »Philos. Abhandl. von der immater. Natur der Seele, darinnen teils überhaupt erwiesen wird, daß die Materie nicht denken könne, und daß die Seele unkörperlich sei, teils die vornehmsten Einwürfe der Materialisten deutlich beantwortet werden« (1774) und Mendelssohns Phädon (1767). – Knutzen deduziert die Natur der Seele aus der Einheit des Selbstbewußtseins: gerade der Punkt, gegen welchen Kant später die Schärfe seiner Kritik richtete.

328

Frantzen, Widerlegung des »l'homme machine«. Leipzig 1749. Das Buch umfaßt 320 Seiten.

329

Der Titel seines Werkes lautet: De machina et Anima humana prorsus a se invicem distinctis, commentatio, libello latere amantis autoris Gallico »hommo machina« inscripto opposita et ad illustrissimum virum Albertum Haller, Phil. et Med. Doct. exarata a D. Balthas. Ludovico Tralles, Medico Vratisl. – Lipsiae et Vratislaviae apud Michael Hubertum 1749.

330

Es bedarf wohl kaum der Erinnerung, daß Leibniz' Lehre von der wirklichen Welt als der besten, richtig verstanden, keine Art der Entwicklung und des Werdens ausschließt.

331

Hollmann, ein Dozent von ausgedehntem aber ephemerem Rufe, war damals (seit 1737) Professor in Göttingen. Nach Zimmermann, Leben des Herrn von Haller, ist Hollmann der Verfasser des Briefes (»Lettre d'un Anonyme pour servir de Critique ou de refutation au livre intitulé l'homme machine«), welcher zuerst deutsch in den Göttingischen Zeitungen erschien und sodann in Berlin übersetzt wurde. Das Verdienst des französischen Stils käme also nicht Hollmann zu.

332

Vgl. Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert, Leipzig 1858 II., S. 392 U. ff.

333

Vgl. Justi, Winckelmann I. S. 25; ebendas. S. 23 u. ff. interessante Mitteilungen über den Zustand der Schulen gegen Schluß des 17. Jahrhunderts. Wir bemerken nur dazu, daß Winckelmanns Lehrer Tappert, wiewohl des Griechischen wenig kundig, doch offenbar auch zu den Neueren gehörte, welche einerseits den Bedürfnissen des Lebens durch Einführung neuer Fächer Rechnung trugen und die Alleinherrschaft des Lateinischen beseitigten, anderseits aber auch im lateinischen Unterricht selbst die humanistische Richtung gegenüber der verzopften des 17. Jahrhunderts wieder geltend zu machen suchten. Es ist kein Zufall, daß im Anfang des 18. Jahrhunderts vielfach wieder an die Sturmschen Überlieferungen im Gymnasialwesen angeknüpft wurde, daher z.B. der Eifer für Nachahmung Ciceros in dieser Zeit nicht schlechthin als überlieferte Verehrung des Lateinischen, sondern als neuerwachter Sinn für Schönheit und Eleganz der Sprache zu betrachten ist. Als bedeutendere Beispiele der Schulreform in diesem Sinne erwähnen wir nur die Tätigkeit des Nürnberger Inspektors Feuerlein (vgl. von Raumer, Gesch. d. Päd. II., 3. Aufl. S. 101 u. öfter), wo übrigens die Bemühungen Feuerleins um qualitative Verbesserung des lateinischen und griechischen Unterrichts neben seinen Bemühungen für Deutsch und Realien zu wenig hervorgehoben sind (auf Feuerlein hatte besonders der bekannte Polyhistor Morhof gewirkt), und des gelehrten Rektors Köhler zu Ansbach, aus dessen Schule Johann Matthias Gesner hervorging, welcher die hier erwähnte Reform durch seine institutiones rei scholasticae (1715) und seine griechische Chrestomathie (1731) zum Durchbruch brachte. Vgl. Sauppe, Weimarische Schulreden, VIII. Joh. M. Gesner. (Weimar 1856.)

334

Uz, den seine Zeitgenossen später als den deutschen Horaz bewunderten, war auf dem Gymnasium in Ansbach gebildet, aus welchem I. M. Gesner hervorging (vgl. die vorhergehende Anmerk.); Gleim kam von Wernigerode, wo man zwar im Griechischen noch zurück war, aber um so eifriger lateinische und deutsche Verse machte (vgl. Pröhle, Gleim auf der Schule, Progr. Berlin 1857). In Halle, wo diese jungen Leute den Bund der Anakreontiker bildeten, begannen sie damit, den Anakreon in der Ursprache zu lesen. Die beiden Hagedorn, Dichter und Kunstkenner, kamen von Hamburg, wo der berühmte Polyhistor Joh. Alb. Fabricius gute Bücher und daneben »schlechte Reimereien« machte (Gervinus).

335

Über Thomasius und seinen Einfluß vgl. besonders Biedermann Deutschl. im 18. Jahrh. II. S. 358 u. ff.

336

Ein besonders charakteristisches Beispiel dafür bietet der von Justi, Winckelmann 1., S. 34 u. ff. treffend geschilderte Professor Damm in Berlin, dessen Einfluß auf die Verbreitung des Griechischen und namentlich Homers sehr bedeutend war.

337

Lichtenbergs vermischte Schriften, herausg. v. Kries, II., S. 27.

338

Vgl. den von Anton Dohrn (in Westermanns Monatsheften) veröffentlichten Brief Goethes, abgedr. in Bergmanns philos. Monatsheften IV., S. 516 (März 1870).

339

In den Annalen, 1811, anläßlich des Jakobischen Buches »von den göttlichen Dingen«.

340

»Wahrheit und Dichtung«, im 11. Buche.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 406-426.
Lizenz:
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