II. Teil

38. Die (sogenannte) hohe Tugend ist keine Tugend. Denn es ist die Tugend des Seins. Die (sogenannte) niedere Tugend verliert nicht ihre Tugendkraft. Denn es ist die Tugend des Nichts. Die (eigentliche) hohe Tugend ist es, wenn Nichts handelt oder wenn Nichts durch sie bewirkt wird. Das aus der (eigentlichen) niederen Tugend Bewirkte ist, daß daraus Sein gestaltet wird. Das aus (eigentlicher) hoher Menschlichkeit Bewirkte ist, daß Nichts bewirkt wird. Das aus (sogenannter) hoher Gerechtigkeit Bewirkte ist, daß dadurch Sein gestaltet wird. Was aus (sogenannter) hoher Sittlichkeit geschieht, hat keinen Effekt. Dann bleibt alles trotz großer Anstrengung wie vorher. Und zwar darum, weil es (erst) nach dem Verlust des Dao die Tugend gibt, nach dem Verlust der Tugend die Menschlichkeit, nach dem Verlust der Menschlichkeit die Gerechtigkeit, nach dem Verlust der Gerechtigkeit die Sittlichkeit. Derjenige, der sich an die Sitten hält, ist arm an Loyalität und Vertrauen, und er ist der Kopf der Unordnung. Wer das Vorige versteht, ist eine Blüte des Dao und der Anfang der Schlichtheit. So ruht ein zehn Fuß hoher Mann in seiner Kraft und mimt nicht den Schlappen. Er ruht in dem, was er wirklich ist und betont nicht sein blühendes Aussehen. Darum meidet er das eine und wählt das andere.


39. Was von alters her besteht, dem wurde etwas Einheitliches zuteil. Der Himmel erhielt Einheitlichkeit durch die Klarheit. Die Erde erhielt Einheitlichkeit durch die Ruhe. Die Geister erhielten Einheitlichkeit durch die Beseelung. Die Täler erhielten Einheitlichkeit durch das, was sie füllte. Alle Dinge erhielten Einheitlichkeit durch das Entstehen. Adlige und Könige erhielten Einheitlichkeit dadurch, daß sie die Welt unter dem Himmel glückverheißend gestalteten. Um dies zu erreichen, brachte das Nichts als die Klarheit des Himmels es dahin, daß er sich vor dem Bersten fürchtete. Das Nichts als Ruhe der Erde brachte sie dahin, sich davor zu fürchten, aus ihrer Ruhe herauszuwachsen. Das Nichts als Beseelung der Geister brachte sie dahin zu fürchten, daß sie erstarrten. Das Nichts als Fülle der Täler brachte sie dahin zu fürchten, daß sie sich erschöpften. Das Nichts als das Lebendige an allen Dingen brachte sie dahin zu fürchten, daß sie vernichtet würden. Das Nichts als Hohes und Würdiges am Adel und bei Königen brachte sie dahin zu fürchten, daß sie fallen würden. Darum macht das Wertvolle das Geringe zu seiner Wurzel, das Hohe macht das Niedrige zu seinem Grund. Und das ist es, weshalb die Adligen und die Könige sich selber »Verweiste«, »Einsame« und »Habenichtse« nennen. Ist es daher nicht falsch, das Wertlose zur Wurzel zu machen, ist das nicht falsch? Darum gilt: Wer zuviele Wagen erlangt, hat Nichts von den Wagen. Strebe nicht danach, wie ein Juwel zu glänzen oder wie ein Klangstein zu tönen!


40. Die Dao-Bewegung ist ein »Gegen«, und Zartes nutzt das Dao deswegen. Das Sein ist Ursprung allen Dingen, doch lässt das Nichts das Sein entspringen.


41. Wenn hochgesinnte gelehrte Männer vom Dao hören, so werden sie zum Handeln angespornt. Wenn durchschnittliche Gelehrte vom Dao hören, so bewahren es die einen, und die anderen lassen es fahren. Wenn die minderen Gelehrten vom Dao hören, so lachen sie darüber. Nicht zu lachen genügt aber nicht, um mit dem Dao umzugehen. Darum definiere ich vom Seinshaften her: Klares Dao gibt es (nur), wenn es (auch) Dunkles gibt, nahendes Dao nur, wenn es sich auch entzieht, gewöhnliches Dao nur beim Mangel. Hohe Tugend gibt es (nur) wo auch Abgründe sind, großes Weiß (d. h. Tadellosigkeit) nur, wo auch Schande, weitestreichende Tugend nur, wo auch Unzulänglichkeit, gefestigte Tugend nur, wo auch die Verstohlenheit, wahrhaft Beschworenes nur, wo es auch Widerrufe gibt. Riesige Flächen begrenzen sich im Nichts, große Gewerke werden erst in (unabsehbaren) späteren Zeiten fertig, gewaltigen Krach hört man (von ferne nur) leise, riesige Erscheinungen haben Nichts an Konturen. Dao ist (dabei) unter der Bezeichnung »Nichts« verborgen. Das ist das reine Dao. Schön verspendet es sich, und es vollendet auch.


42. Dao bringt Einheitlichkeit hervor. Die Einheitlichkeit bringt Doppelheit hervor. Doppelheit bringt Dreifaches hervor. Dreifaches bringt die unzähligen Dinge hervor. Alle Dinge stützen sich auf Yin und bergen Yang. Als durchströmender Atem wird durch sie Harmonie geschaffen. Was bei den Menschen als Schlechtes gilt, das ist Verwaistsein, Einsamkeit und Nichtshaben. Und doch machen Könige und Fürsten das zu ihrer Bezeichnung. Bei den Dingen ist es daher so, daß bei einigen eine Schädigung nützlich ist, und bei einigen ihr Nutzen ein Schaden ist. Was bei den Menschen als Gemeinplatz gilt, davon habe ich mich auch überzeugt: Was fest gefügt ist, dem passiert es nicht, daß es einstürzt. Mich bringt es dazu, daraus meine Grundlehre zu machen.


43. Was in der Welt Geschmeidigkeit erreicht hat holt im Galopp dasjenige ein, was hart geworden ist. Das Sein am Nichts dringt in die Zwischenräume des Nichts ein. Daher weiß ich um die Seinsfülle der Wirkungen des Nichts. Wie man ohne Worte lehrt, so bewirkt das Nichts die Fülle. Alles in der Welt strebt danach, dies zu erreichen.


44. Ist einem der (gute) Ruf oder die (eigene) Person lieber? Zählt die Persönlichkeit oder der Besitz mehr? Ist einem Bekommen oder Verlieren schmerzlicher? Es gilt doch: Wahre Liebe muß sich großzügig verschenken. Und bei viel Vermögen muß man dicke Verluste hinnehmen. Um das Auslangen zu wissen, ist keine Schande. Und zu wissen, wann man aufhören muß, ist ungefährlich. Damit kann man lange bestehen.


45. Große Leistungen gibt es nur, wenn es Mangel gibt. Ihn zu nutzen ist kein Betrug. Große Fülle gibt es nur beim Überfluß. Ihn zu nutzen erschöpft ihn nicht. Große Geradheit gibt es nur, wenn es auch Krummheit gibt, Geschicklichkeit nur wenn auch Ungeschicklichkeit, große Debatten nur wenn man sorgfältig redet. Hitze geht zwar über Kälte, aber Ruhe geht über Aufgeregtheit. Klare Ruhe bringt alles unter dem Himmel ins Lot.


46. Gilt in der Welt das Sein als Dao, dann lehnt man es ab, mit dem Kot der Reitpferde zu düngen. Gilt in der Welt das Nichts als Dao, dann wachsen die Kriegspferde vor den Städten (von selbst) heran. Kein grösseres Verhängnis als nicht zu wissen, wann es genug ist! Kein grösseres Übel als das Bekommenwollen! Darum gilt: Genügend zu wissen, wann es genug ist, ist für immer genug!


47. Ohne aus der Tür zu gehen, kennt man die Welt. Ohne aus dem Fenster zu spähen, sieht man das Himmels-Dao. Geht man aber aus ihr heraus, so entfernt sich alles immer mehr, und das Wissen um dieses (Himmelsdao) wird immer geringer. Darum kennt sich der Heilige ohne zu reisen aus. Er nennt die Dinge beim Namen ohne herumzuspähen, und er bringt etwas zustande ohne einzugreifen.


48. Sich mit gelehrten Studien zu befassen, füllt die Tage reichlich aus. Sich mit dem Dao zu befassen, macht die Tage kürzer. Indem sie (einem) kürzer und immer kürzer werden, kommt man dadurch schließlich dahin, daß das Nichts wirkt. Das Nichts wirkt, oder das Nichts wirkt nicht. Die Dinge in der Welt erfaßt man dauerhaft nur dadurch, das das Nichts geschäftig ist. Hält man sich aber an die Geschäftigkeit des Seins, dann genügt das nicht für die Erfassung der Dinge in der Welt.


49. Der Heilige hat im Sinn, das Nichts beständig zu machen. Und er hat im Sinn, dadurch auch den Sinn der Leute darauf auszurichten. Wer gut ist, ist auch für mich gut. Und wer nicht gut ist, ist für mich auch gut. Tugend ist gut. Wer vertrauenswürdig ist, dem vertraue ich. Wer nicht vertrauenswürdig ist, dem schenke ich trotzdem Vertrauen. Tugend ist Vertrauenswürdigkeit. Der Heilige in der Welt wirkt ganz konzentriert darauf hin, daß alle unter dem Himmel von diesem Sinn ganz und gar durchdrungen werden. Die Heiligen sind alle kindlich.


50. Geborenwerden ist ein Eintritt ins Sterben. Die Menge der Lebendgeborenen ist drei von zehn. Die Menge der Totgeburten ist drei von zehn. Die Menge der Menschen, die am Leben bleiben und die vom Tod bewegt werden beträgt auch drei von zehn. Warum ist das so? Weil diese für ihr Leben lebenskräftig sind. Nun hört man, daß es welche gibt, die das Leben gut meistern. Auf Landreisen sind sie nicht auf Nashörner und Tiger gestoßen. Als sie ins Heer eintraten, sind sie nicht durch Panzerung und Waffen verletzt worden. Das Nashorn hatte Nichts, um sein Horn hineinzustoßen. Der Tiger hatte Nichts, um seine Pranke hineinzuhauen. Der Soldat hatte Nichts, was seinen Schwerthieb erdulden mußte. Und warum? Weil für sie Nichts zum Sterben da- war.


51. Was vom Dao stammt, wird von der Tugend umhegt, nimmt Gestalt an als Ding, vollendet sich in Lagen. Und deshalb gibt es keines von allen Dingen, welches nicht das Dao verehrt und die Tugend schätzt. Die Verehrung des Dao und die Schätzung der Tugend geschieht ohne Befehl und ist von selbst beständig. Daher ist das Dao lebenspendend, die Tugend hegend, langmütig und erzieherisch, zuweilen grausam, ernährend und beschirmend. Hervorbringen, aber nicht behalten, gestalten, aber nicht ausnützen, gerade ausrichten, aber nicht dirigieren, das nenne ich elementare Tugend.


52. Das Sein in der Welt hat einen Anfang. Der wird zur Mutter der Dinge in der Welt. Da sie eine Mutter bekommen haben, so kennt man dadurch ihre Kinder. Da man ihre Kinder kennt, schützt man umgekehrt auch ihre Mutter, denn niemand ist ungefährdet. Wenn sie ihre Güter verschließt und (gleichsam) ihren Laden geschlossen hält, dann macht keiner mehr einen Finger krumm. Wenn sie ihre Güter aber feilbietet und sich um ihr Geschäft kümmert, dann bleibt schließlich niemandem mehr ein Wunsch offen. Winziges zu bemerken heißt Klugheit, Schwaches zu beschützen heißt Stärke. Deren Sichtbarkeit zu nutzen und immer wieder auf seine Klugheit zurückzukommen, aber das Nichts außer acht zu lassen, das ist für jeden gefährlich. Und zwar, weil man sich daran gewöhnt, daß dies beständig sei.


53. Falls ich nur wüsste, mich um das reine Sein zu kümmern, dann ginge ich auf der Heerstraße. In ihrer puren Erstreckung ist sie angsteinflössend. Die Heerstraße ist in der Tat barbarisch, aber das Volk liebt gerade Wege. Da gibt es in der Tat reichlich Höfe, aber die Felder sind ganz überwuchert, die Getreidespeicher ganz leer, die Kleider aber sind schön bestickt, am Gürtel trägt man scharfe Schwerter, man ißt und trinkt bis zum Überdruß, Vermögen und Warenangebot gibt es reichlich. Das ist es, was man ein »Dao«-(Räuber)system nennt. Aber das ist nicht der Dao-Weg.


54. Was gut befestigt ist, wird nicht ausgerissen. Was gut verwahrt ist, wird nicht fortgenommen. Wenn Kinder und Enkel nicht aufhören, die Ahnenopfer darzubringen und ihre Persönlichkeit auszubilden, dann ist das eine Grundlage für ihre Tugend. Sorgen sie für die Familie, dann ist ihre Tugend noch grösser. Sorgen sie für ihre Gemeinde, dann ist ihre Tugend weitreichend. Sorgen sie für ihren Staat, dann ist ihre Tugend überreich. Sorgen sie sich um alles in der Welt, dann ist ihre Tugend allumfassend. Darum muß man von der (eigenen) Person aus die Persönlichkeiten prüfen, von der Familie aus die Familien ansehen, von der Gemeinde aus die Gemeinden beobachten, vom Staat aus die Staaten beurteilen, von den Dingen in der Welt aus die Dinge in der Welt anschauen. Woher sollte ich denn die Dinge in der Welt kennen? Eben dadurch!


55. Wie man die Tugend als Vermögen in sich birgt, sieht man an einem Säugling. Wenn ihn die Wespen, Skorpione, Nattern und Schlangen nicht durch ihren Biß vergiftet, wilde Tiere ihn nicht zur Beute genommen, Raubvögel ihn nicht ergriffen haben, dann packt er trotz zarten Knochen und weichen Muskeln fest zu. Er kennt die Vereinigung von Weiblichem und Männlichem nicht, aber seine (Geschlechts-)Organe sind schon ganz ausgebildet. Sie haben schon eine gewisse Vollkommenheit erreicht. Wenn er bis zum Tagesende schreit, so wird er doch nicht heißer. Er hat schon eine gewisse Übereinstimmung mit sich selbst erreicht. Diese Übereinstimmung zu kennen heißt Beständigkeit. Die Beständigkeit zu kennen, heißt Klugheit. Prächtig zu gedeihen, verspricht Glück. Der vom Herzen ausgehende Lebensatem heißt Stärke. Sind die Sachen aber kräftig ausgebildet, und er ist alsbald gebrechlich, so nennt man das »daolos«. Das Daolose geht früh zugrunde.


56. Was gewußt wird, kommt nicht zur Sprache. Und was zur Sprache kommt, ist kein Wissen. Sich dem Austausch verweigern, sich bedeckt halten, dabei Spitzen zu entschärfen, Unterscheidungen verwässern, sich in helles Licht stellen und schmutzige Dinge vorbringen, das nennt man elementare Unterhaltung. Dadurch kommt es aber nur zu Vertraulichkeiten, man ruft nur Befremden hervor, man kann nur Vorteile einheimsen und man kann nur Schaden anrichten, es kommt nur zu Bewertungen, und es kommt nur zu Diskriminierungen. Und dadurch wird alles unter dem Himmel interessant.


57. Mit Korrekturen den Staat regieren, auf geheimnisvolle Weise das Militär einsetzen, mit dem dienstbaren Nichts die Dinge unter dem Himmel in den Griff nehmen, wie geht das? Folgendermaßen: Gibt es in der Welt viel Mißgunst und Tabus, so breitet sich im Volk die Armut aus. Hat das Volk viel nützliche Gerätschaften, so wird die Bevölkerung immer dümmer. Haben die Menschen viel Geschicklichkeit und Erfindungsreichtum, dann entstehen zahlreiche wunderbare Sachen. Werden Gesetze und Befehle reichlich verkündet, dann gibt es viele Diebe und Gewaltverbrecher. Darum sagt der Heilige: Wenn ich das Nichts wirken lasse, so entwickelt sich das Volk von diesem her. Wenn ich die Ruhe liebe, so korrigiert sich das Volk von daher. Wenn ich das Nichts geschäftig mache, so wird das Volk von daher reich. Wenn ich das Nichts streben lasse, dann wird das Volk von daher einfältig.


58. Solche Herrschaft geschieht ganz heimlich, und ein solches Volk ist ganz ehrlich. Kontrolliert und prüft solche Herrschaft aber alles streng, dann findet sie in ihrem Volk lauter Mängel und Fehler. Das Unglück ist sozusagen die Unterlage des Glücks, und das Glück verbirgt sich gewissermaßen hinter dem Unglück. Wer weiß, wann der Gipfel davon erreicht ist? Wenn da das Nichts korrigierend eingreift! Die Korrektur wirkt wiederum Wunder. Das Gute wirkt wiederum auf wunderbare Weise, auch wenn die Verirrungen der Menschen sich täglich verfestigt haben. Das also rückt der Heilige zurecht, aber er richtet keinen Schaden an. Er hält sich bescheiden zurück, aber er verletzt nicht. Er ist geradeheraus, aber nicht zügellos. Er hat Ausstrahlung, aber er blendet nicht.


59. Betreibt der Himmel das Geschäft der Menschenregierung, dann (tut er es) mit unvergleichlicher Sparsamkeit, ja mit purem Geiz! Da heißt es, sich beizeiten darauf einstellen! Sich beizeiten darauf einstellen heißt: die Tugend des Anhäufens (Sparens) wichtig nehmen. Hat man die Tugend des Wichtignehmens des Sparens, dann ist das Nichts dem nicht gewachsen. Leistet das Nichts keinen Widerstand, dann kennt keiner mehr seine Grenzen. Kennt keiner mehr seine Grenzen, dann kann es den Seins-Staat geben. Ist das Sein die Mutter des Staates, dann kann er lange beständig sein. Man nennt das »tiefe Wurzel und feste Begründung«. Es ist das Dao eines ausgebreiteten Wachstums und einer langdauernden Ansehnlichkeit.


60. Wie man bei der Regierung eines großen Staates kleine Fische brät, so verwaltet man mit dem Dao die Dinge unter dem Himmel. Dabei Dämonen anzunehmen ist geistlos, und Dämonen zu leugnen, ist (auch) geistlos. Solche Geister schaden den Menschen nicht. Und solche Geister zu leugnen, schadet den Menschen (auch) nicht. Auch der Heilige schadet den Menschen nicht. Und so schadet alles beides nicht. Darum geht die Tugend auf beides zurück!


61. Ist ein großer Staat in seinem Wesen verderbt, so verkehren sich die Dinge unter dem Himmel. Das weibliche Element unter dem Himmel, dies Weibliche überwindet beständig in aller Ruhe das Männliche. In aller Ruhe wirkt es als Unterlegenes. Darum nimmt ein großer Staat, der einem kleinen Staat unterliegt, dann die Kleinstaatlichkeit an. Ein kleiner Staat, der einem großen Staat unterliegt, nimmt dann die Großstaatlichkeit an. Darum sind einige durch die Übernahme unterlegen, und andere übernehmen durch ihre Unterlegenheit. Große Staaten wollen nicht mehr, als ihre Menschen zusammenzuhalten und sie zu ernähren. Kleine Staaten wollen nicht mehr, als geschäftige Menschen aufzunehmen. Damit jedes von beiden seinen diesbezüglichen Willen bekommt, zeigt der große offen, daß er sich zum Unterlegenen macht.


62. Das Daohafte ist das Geheimnisvollste an allen Dingen und das Wertvollste an den guten Menschen. Was schlechte Menschen sozusagen in sich bergen, das kann man mit schönen Worten bemänteln. Wenn man ihre Handlungsweisen rühmt, dann kann man die Menschen noch darin bestärken. Das Ungute am Menschen, was ist es, wodurch man es beseitigt? Dazu hat man das Kaisertum errichtet und die drei Herzöge (die ersten Minister) eingesetzt. Wenn sie auch vor ihren Vierspännern Kleinodien vorantragen ließen, so doch nicht als Einsetzung und Beförderung dieses Daos. Was hatte es also bei den Vorfahren mit der sogenannten Wertschätzung dieses Daohaften auf sich? Keine Rede davon, es durch Bitten zu erhalten! Es gab Strafen, um dadurch Verderbnisse zu verhindern. Dadurch machten sie alles unter dem Himmel wertvoll.


63. Bewirke, daß das Nichts wirkt. Schaffe, daß das Nichts schafft. Schmecke, wo es nach Nichts schmeckt. Ob groß oder klein, viel oder wenig, erwidere Mißgunst mit Tugend. Plane Schwieriges im Ausgang von dem, was daran leicht ist. Bewirke Großes von dem aus, was daran winzig ist. Alle schwierigen Unternehmungen müssen vom Leichten aus gemacht werden. Alle großen Unternehmungen müssen vom Winzigen aus gemacht werden. Deshalb bewirkt der Heilige nicht vom Ende her Großes. Darum kann er seine großen Leistungen vollbringen. Wer leicht etwas verspricht, muß alleine dafür geradestehen. Wo viel Leichtes ist, muß es auch viel Schwieriges geben. Deshalb ist der Heilige vergleichweise etwas Schwieriges. Denn letzten Endes ist das Nichts schwierig.


64. Was stillhält, ergreift man leicht. Was noch nicht entschieden ist, verspricht man leicht. Sprödes zergeht leicht. Kleinigkeiten zerstreuen sich leicht. Geschaffenes kommt aus dem noch nicht Seienden. Geordnetes kommt aus dem noch nicht Verwirrten. Ein Baum, den man mit beiden Armen umfaßt, wächst aus einem winzigen Samenkorn. Ein neunstöckiger Turm entsteht aus aufgehäufter Erde. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Aber der Schaffende schädigt und der Zupackende macht Fehler. Deshalb lässt der Heilige das Nichts wirken, und darum entsteht Nichts an Schaden. Er lässt das Nichts zupacken, und darum entsteht Nichts an Verlusten. Geht das Volk seinen Geschäften nach, wieviel Schaden wird da beständig angerichtet. Würde man diesen Endeffekt ebenso wie den Anfang bedenken, dann gäbe es Nichts von schädlichen Geschäften. Darum will der Heilige wunschlos sein. Er schätzt nicht schwer zu erhaltende Güter. Er lernt, ohne zu studieren. Er stellt wieder her, was die Masse der Menschen Übles angerichtet hat. Indem er die Natur aller Dinge unterstützt, schafft er ohne Übermut.


65. Diejenigen von den Vorfahren, die das Daohafte gut betrieben, machten sie nicht das Volk dadurch klug, ehe sie es dadurch schlicht machten? Ein Volk ist schwer zu regieren. Nur wenn es in ihm viel Weisheit um dieses (Dao) gibt, wird darum der Staat mit Weisheit regiert. Rebellion gegen einen nicht mit Weisheit regierten Staat ist ein Segen für den Staat. Mit dem Wissen um dieses beides prüft man auch die Form. Beständiges Wissen um die Prüfung der Form, das ist es, was ich elementare Tugend nenne. Die elementare Tugend ist tiefgründig und sie ist weitreichend und sie setzt instand, die Dinge umzukehren. Erst danach findet man das, was im Großen paßt.


66. Flüsse und Meere können sich bekanntlich hunderter Täler bemächtigen. Ihr Gutes liegt im Abwärtsfließen. Darum können sie sich zu Königen über hunderte von Tälern machen. In gleicher Weise muß derjenige, der über ein Volk herrschen will, sich mit seinen Worten unter das Volk stellen. Will er das Volk führen, so muß er für seine Person hinter ihm bleiben. Deswegen behält der Heilige seine Hoheit nur, wenn das Volk es nicht bemerkt. Er bleibt nur vor ihm, wenn das Volk nicht leidet. Und nur dann gibt ihm alle Welt mit Freuden nach und wird seiner nicht überdrüssig. Um ihn gibt es keinen Streit. Darum kann in der Welt keiner mit ihm streiten.


67. Alle Welt sagt mir, das Dao sei ein zu großes Vorbild, als daß man ihm folgen könne. Es sei schlechtweg zu groß, und darum könne man ihm nicht folgen. Folgt man ihm aber lange, ist es eher zu klein. Ich habe drei Kleinode, die ich festhalte und bewahre. Das erste heißt Sanftmut. Das zweite heißt Mässigkeit (Sparsamkeit). Das dritte heißt: Sich nicht übermütig allem in der Welt voransetzen. Auf Grund der Sanftmut kann man mutig sein. Auf Grund der Sparsamkeit kann man großzügig sein. Auf Grund des Sich-nicht-allem-übermütig-Voranstellens kann man es fertigbringen, lange tauglich zu sein. Wo jetzt Sanftmut weilt, da ist bald Mut. Wo Sparsamkeit weilt, da ist bald Großzügigkeit. Wo Zurückhaltung weilt, da ist man bald voraus. Kommt es zum Sterben und man hat keine Sanftmut, dann kämpft man schrecklich, ehe man erliegt. Bewahrt man sie aber, dann ist man standhaft. Was der Himmel erlösen will, das begleitet er mit Sanftmut.


68. Was einen guten Soldaten ausmacht, das ist nicht das Kriegerische. Wer gut kaempft, der gerät nicht in Wut. Wer einen Gegner gut besiegt, der rächt sich nicht dabei. Wer Menschen gut einsetzt, der hat sich unter sie gestellt. Das nennt man die Tugend des Nicht-Wetteiferns. Das heißt: die Kräfte der Menschen einsetzen, und es heißt: nach bester Tradition dem Himmel entsprechen.


69. Für den Einsatz von Truppen gibt es eine Maxime: Ich imponiere nicht durch Bravour, sondern wirke nur als Beteiligter. Ehe ich kühn einen Zoll vorrücke, ziehe ich mich lieber einen Schritt zurück. Das nennt man: marschieren, indem Nichts marschiert, abwehren, indem Nichts einen Arm rührt, niederwerfen, indem Nichts angreift, einnehmen mit der Waffe des Nichts. Man mache das Unglück für schwache Gegner nicht noch grösser! Wieviele schwache Gegner sind umgekommen, die mir teuer waren. Darum leiste man nur einem gleichstarken Truppenaufgebot Widerstand. Und man sei ein mitleidiger Sieger!


70. Meine Worte sind wirklich leicht zu verstehen und wirklich leicht auszuführen. Es kann sie aber in der Welt keiner verstehen und keiner kann sie ausführen, der nur die Worte über das Sein ernst nimmt und sich nur vornehm mit dem Seienden beschäftigt. Hinsichtlich des Wissens über das reine Nichts versteht er mich nicht. Wer mich versteht, weiß dann auch dieses von mir zu schätzen. Und deshalb bewahrt der Heilige diesen Edelstein unter seinem ärmlichen Gewand.


71. Das Nichtwissen zu kennen ist etwas Hohes. Vom Wissen keine Ahnung zu haben, ist eine Krankheit. Wer freilich an dieser Krankheit erkrankt ist, der leidet nicht darunter (»Dummheit tut nicht weh!«). Der Heilige leidet (auch) nicht darunter. Und das ist seine Krankheit, unter der er leidet: eben daß man nicht darunter leidet.


72. Das Volk hat keine Angst vor dem Erlöschen, bis dann das große Erlöschen kommt. Das Nichts wohnt sozusagen vertraut bei ihm, und das Nichts verschmäht sein sogenanntes Leben. Jedoch wendet Euch ja nicht von ihm ab! Denn es wendet sich auch nicht von Euch ab. Deshalb sieht der Heilige, der sich selbst kennt, nicht auf sich selbst. Bei aller Eigenliebe macht er mit sich nicht viel daher. Darum meidet er das eine und wählt das andere.


73. Mut bis zur Tollkühnheit ist tödlich. Mut ohne Tollkühnheit ist lebenserhaltend. Das eine von beiden bringt Nutzen, das andere Schaden. Was man das Übel in der Welt nennt, wer kennt seinen Grund? Darüber gerät selbst der Heilige noch in Verlegenheit. Das himmlische Dao wetteifert nicht und überwindet doch gut. Es spricht nicht und antwortet doch gut. Ungerufen kommt es doch von selbst. Es lässt den Dingen ihren Lauf und plant doch gut. Das Himmelsnetz ist weitgespannt. Es gibt nach, hat aber keine Lücken.


74. Das Volk hat keine Angst vor dem Tode. Es ist also aussichtslos, es mit dem Tod (als Strafe) einzuschüchtern. Gesetzt jedoch, das Volk werde dazu gebracht, den Tod beständig zu fürchten, und es würde etwas Außerordentliches daraus machen, dann erreichte ich nur, daß man jeden Verhafteten töten würde. Wer wäre so tollkühn (so weit zu gehen)? Zum Töten gibt es seit jeher Scharfrichter. Schafft doch das Töten durch Scharfrichter ab. Ich meine, laßt sie Zimmermannsarbeit verrichten. Macht ihr sie zu Zimmerleuten, dann werden sie bestrebt sein, nicht (einmal) ihre Hände zu verletzten.


75. Hungersnot im Volk kommt dadurch auf, daß seine Oberen zu viele Steuern verzehren. Daher der Hunger. Das Volk ist schwer zu regieren, weil es seinen Oberen (nur) um das Sein geht. Daher ist es schwer zu regieren. Das Volk nimmt den Tod leicht, weil seine Oberen (nur) das Leben voll zu genießen trachten. Deswegen nimmt das Volk den Tod leicht. Laßt ihr aber das Nichts das Leben gestalten, dann ist das weiser als das Leben hochzuschätzen.


76. Wenn die Menschen geboren werden, sind sie zart und schwach. Wenn sie sterben, sind sie hart und stark. Die Gräser und Bäume sind beim Aufsprossen zart und brüchig. Im Tod aber sind sie morsch und welk. Darum geht das Feste und Starke mit dem Tode einher, und das Weiche und Schwache geht mit dem Lebendigen einher. Und deswegen härtet man die (tödlichen) Waffen bis es nicht mehr überboten werden kann, und die Bäume macht man erst, wenn sie stark sind, zu Waffen. Die grösste Stärke wohnt dem unteren Teil inne. Zartes und Schwaches bleibt im oberen Teil.


77. Das himmlische Dao! Sein Gewährenlassen ist wie das Spannen eines Bogens: Was heraussteht wird zurückgedrückt, und was zurücksteht wird nach vorn gedrückt. Was Überfluß hat, wird gemindert, und was nicht genügt, wird ergänzt. Das himmlische Dao mindert den Überfluß des Seins, aber es hilft dem Ungenügen ab. Die menschliche Dao-Regel ist nicht so. Man schädigt das Ungenügende dadurch, daß man Seinsüberfluß hinnimmt. Was vermag der Seinsüberfluß durch die Vereinnahmung aller Dinge unter dem Himmel? Nur Seins-Daohaftes! Deshalb handelt der Heilige, ohne es sich zunutze zu machen, und er vollbringt Leistungen, ohne dabei zu bleiben. Seine Wunschlosigkeit erscheint als Weisheit.


78. In der Welt gibt es nichts, was so weich und schwach ist wie das Wasser. Aber für die Bearbeitung von Festem und Hartem kann es nichts besseres geben. Durch sein Nichts als Leichtes und Schwaches überwindet es das Harte. Daß das Weiche das Harte überwindet, ist keinem in der Welt unbekannt, denn sonst könnte nichts gelingen. Deshalb sagt der Heilige: »Nimmt es den schmutzigen Abfall des Landes auf, dann nennt man es den Herrn über Felder und Früchte. Leitet es die drohende Katastrophe (der Überschwemmung) des Landes ab, dann macht es sich zum König der Welt.« Richtige Worte, (die) wie ein Widerspruch (klingen)!


79. Wenn man großen Groll versöhnt, so muß doch ein Rest an Mißgunst übrigbleiben. Kann eine solche Schlichtung wohl etwas Gutes bewirken? Deswegen kümmert sich der Heilige um solche ungeschickten Vereinbarungen und macht sie den Menschen nicht zum Vorwurf. Die Tugend des Seins sieht nur auf die Vereinbarungsurkunde, die Tugend des Nichts sieht auf ihre Gründe. Das Himmelsdao steht dem Nichts nahe. Stets gibt es den Menschen das Gute.


80. In einem kleinen Staat ist das Volk ganz für sich. Man lässt es vielfältige ausgezeichnete Geräte besitzen, aber ohne daß sie benutzt werden. Man lässt das Volk die Todesstrafe ernst nehmen, aber man verbannt nicht in die Ferne. Wenn es auch Schiffe und Fahrzeuge gibt, so fährt gleichsam Nichts damit. Und wenn es auch bewaffnete Streitkräfte gibt, so werden sie sozusagen für Nichts aufgestellt. Man lässt die Menschen die Schnurknotenschrift wieder herstellen und sie auch benutzen. Ihre Speisen sind wohlschmeckend, ihre Kleider schön, ihre Wohnungen sicher, ihre Umgangsformen angenehm. Die Nachbarstaaten achten sich gegenseitig, und man hört jeweils von der anderen Seite die Stimmen der Hähne und Hunde. Das Volk erreicht ein hohes Alter, ohne sich gegenseitig zu besuchen.


81. Ehrliche Worte sind nicht schön. Schöne Worte sind nicht ehrlich. Wer es gut meint, disputiert nicht. Wer disputiert, meint es nicht gut. Der Sachkenner ist nicht weitschweifig, und der Weitschweifige ist nicht sachkundig. Der Heilige ist nicht kompliziert, und das macht sein Menschsein aus. Je mehr er selbst hat, um es den Menschen zu geben, umso vielseitiger ist er selbst. Auf dem Weg des Himmels (Tian Zhi Dao) stiftet er Nutzen, aber er bringt keinen Schaden. Auf dem Weg des Heiligen (Sheng Ren Zhi Dao) gestaltet er, aber ohne zu streiten.

Quelle:
Lao Zi Dao De Jing. Eine philosophische Übersetzung von Lutz Geldsetzer. © März 2000 Lutz Geldsetzer, http://www.phil- fak.uni-duesseldorf.de/philo/geldsetzer/laozidao.html..
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