[47] 1. Utopia

Der Herr der gelben Erde saß auf dem Throne fünfzehn Jahre lang und freute sich darüber, daß die Welt ihm diente. Er pflegte seines Lebens, er genoß Schönheit und Wohlklang und erfreute sich an Speisen und Wohlgerüchen. Aber er ward bekümmert, also daß sein Fleisch verdorrte; er ward betrübt, also daß seine Gefühle sich verwirrten.

Abermals fünfzehn Jahre lang trauerte er, daß die Welt in Unordnung sei. Er strebte nach Einsicht und erschöpfte seine Weisheit und arbeitete am Volke. Aber er ward bekümmert, also daß sein Fleisch verdorrte; er ward betrübt, also daß seine Gefühle sich verwirrten.

Da atmete der Gelbe Herr tief und sprach seufzend: »Mein Fehler ist groß. Allein sein Selbst zu pflegen bringt solches Leid, alle Welt zu ordnen bringt solches Leid.«

Und so gab er auf seine tausend Gedanken, verließ die Schlafgemächer im Palast, entfernte die Diener, tat ab das Glocken- und Saitenspiel, verringerte die Speisen der Küche. Er zog sich zurück und wohnte in Muße in den Gemächern der großen Halle und sammelte sein Gemüt, daß er des Leibes wieder Meister würde. Drei Monate blieb er fern von den Geschäften der Regierung.

Da schlief er einmal bei Tage ein und hatte einen Traum. Er wandelte im Reiche der Hua Sü. Dieses Reich hat keine Herrscher: es geht alles von selber; das Volk hat keine Begierden:[47] es geht alles von selber. Man weiß nichts von der Freude am Leben noch dem Abscheu vor dem Tod: darum gibt es keine Plagen des Himmels. Man weiß nichts vom Haften am Selbst noch von der Entfremdung von der Außenwelt: darum gibt es nicht Liebe noch Haß. Man weiß nichts von der Abkehr von Andersdenkenden noch von der Zukehr zu Gleichgesinnten: darum gibt es nicht Nutzen noch Schaden. Keiner hat eine Vorliebe, keiner hat eine Abneigung. Sie gehen ins Wasser und ertrinken nicht, sie gehen ins Feuer und verbrennen nicht, Schläge machen nicht Wunden noch Schmerz, Kratzen macht nicht Brennen noch Jucken. Sie steigen in die Luft, wie man auf festen Boden tritt, sie ruhen im leeren Raum, wie man auf einem Bette schläft. Wolken und Nebel umdüstern nicht den Blick. Donnerrollen betäubt nicht das Ohr. Schönheit und Häßlichkeit betören nicht das Herz. Berge und Täler behindern nicht den Schritt. In Kraft des Geistes wandeln sie.

Als der Gelbe Herr erwachte, wurde er verstehend und kam zu sich selbst. Er berief seine drei Minister Himmelgreis, Krafthirt und den Denker vom großen Berg. Er redet also zu ihnen: »Ich lebte in Muße drei Monate lang und sammelte mein Gemüt, daß ich des Leibes wieder Meister würde, und dachte auf den Besitz des rechten SINNES zur Pflege des Ichs und zur Ordnung des Erdkreises. Aber ich fand nicht die rechte Art. Da ward ich müde und schlief ein. Was ich geträumt, war also. Nun weiß ich, daß der letzte SINN nicht durch leidenschaftliches Suchen zu finden ist. Ich weiß ihn jetzt, ich habe ihn jetzt, aber euch kann ich ihn nicht sagen.«

Und abermals vergingen 28 Jahre, und der Erdkreis war in guter Ordnung, fast wie das Reich der Hua Sü. Da ging der Herrscher zur Ruhe ein, und das Volk beweinte ihn 200 Jahre lang ohne aufzuhören.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 47-48.
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