15. Die beiden Schützen

[114] Gan Ying war ein tüchtiger Bogenschütze der alten Zeit. Spannte er den Bogen, so brachen die Tiere zusammen und die Vögel fielen herunter. Sein Schüler, namens Fe We, der bei ihm das Schießen gelernt hatte, übertraf an Geschicklichkeit noch seinen Meister. Gi Tschang wiederum wollte das Schießen bei Fe We lernen.

Fe We sprach: »Du mußt erst lernen, nicht zu blinzeln. Danach erst kann vom Schießen die Rede sein.« Gi Tschang ging heim und legte sich unter den Webstuhl seines Weibes und verfolgte mit dem Auge die auf- und niedergehenden Rahmen.[114] Nach zwei Jahren hatte er es so weit gebracht, daß er nicht blinzelte, ob auch eine Ahle mit der Spitze ihm ins Auge fiel. Das sagte er Fe We.

Fe We sprach: »Das ist's noch nicht. Nun mußt du sehen lernen, daß du Kleines groß siehst und Unsichtbares deutlich. Dann sag mir's.« Gi Tschang hing nun an einem Haar eine Laus im Fenster auf. Nach der blickte er innen vom Zimmer aus. Nach zehn Tagen wurde sie allmählich größer. Nach drei Jahren sah er sie wohl so groß wie ein Wagenrad, so daß er andere Dinge alle so groß wie Berge sah. Da nahm er einen Bogen aus Horn von Yän und einen Pfeil aus Rohr von Scho und schoß nach ihr. Er durchbohrte das Herz der Laus, ohne daß das Haar abriß. Das sagte er Fe We. Fe We machte einen Luftsprung, schlug sich auf den Leib und sprach: »Du hast's erreicht.«

Da nun Gi Tschang die Kunst des Fe We innehatte, überschlug er, daß nunmehr auf der ganzen Welt nur noch ein einziger Mensch es mit ihm aufnehmen könne. Und er gedachte den Fe We zu töten. Sie trafen sich im Walde, und die beiden Männer schossen aufeinander. Auf halbem Wege trafen sich die Spitzen ihrer Pfeile, und sie fielen zur Erde, ohne den Staub zu erregen. Fe We's Pfeile waren zuerst alle. Gi Tschang hatte noch einen Pfeil, den schoß er ab. Fe We aber parierte ihn mit der Spitze eines Dornes, ohne ihn zu fehlen.

Darauf brachen die beiden in Tränen aus, ließen ihre Bogen fallen und warfen sich auf offener Straße voreinander nieder und schlossen einen Bund als Vater und Sohn. Sie schnitten sich in den Arm und schworen, daß sie ihre Kunst niemand verraten wollten.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 114-115.
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