Erstes Kapitel.
Vom Wissen im Allgemeinen

[136] § 1. (Unser Wissen betrifft unsere Vorstellungen.) Da die Seele bei all ihrem Denken und Ueberlegen nur ihre eignen Vorstellungen zum unmittelbaren Gegenstande hat und sie nur diese betrachten kann, so ist klar, dass unser Wissen es nur mit diesen Vorstellungen zu thun hat.

§ 2. (Das Wissen ist die Auffassung der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung zweier Vorstellungen.) Das Wissen scheint mir daher nur die Auffassung der Verbindung und Uebereinstimmung oder der Nichtübereinstimmung und des Widerstreits unserer einzelnen Vorstellungen zu sein. Darin allein besteht es. Wo diese Auffassung ist, da ist auch ein Wissen, und wo sie fehlt, da mag ein Einbilden, Vermuthen, Glauben statt haben, aber kein Wissen. Denn wenn man weiss, dass schwarz nicht weiss ist, so erfasst man nur die Nichtübereinstimmung dieser zwei Vorstellungen. Wenn man durch den Beweis die höchste Gewissheit erlangt, dass die drei Winkel eines Dreiecks zweien rechten gleich seien, so erfasst man nur die Uebereinstimmung und Untrennbarkeit der Gleichheit zweier rechten Winkel mit den drei Winkeln des Dreiecks.

§ 3. (Diese Uebereinstimmung ist vierfach.) Um genauer einzusehen, worin diese Uebereinstimmung[136] oder Nichtübereinstimmung besteht, will ich sie auf folgende vier Arten zurückführen:

1) Dieselbigkeit oder Verschiedenheit;

2) Beziehung.

3) Zusammenbestehen oder nothwendige Verbindung.

4) Wirkliches Sein.

§ 4. (Von der Dieselbigkeit und der Verschiedenheit.) Was die erste Art anlangt, so ist das nächste, was die Seele bei ihrem Wahrnehmen oder Vorstellen überhaupt thut, dieser Vorstellungen sich bewusst zu werden, und so weit dies geschieht, von jeder zu wissen, was sie ist, und damit auch ihren Unterschied, und dass die eine nicht die andere ist, zu erfassen. Dies ist so unbedingt nothwendig, dass ohnedem kein Wissen, kein Begründen, kein Einbilden und überhaupt kein bestimmtes Denken möglich ist. Dadurch bemerkt die Seele klar und untrüglich, dass jede Vorstellung mit sich selbst übereinstimmt und dass sie ist, was sie ist, und dass alle bestimmten Vorstellungen von einander verschieden sind, d.h. dass die eine nicht die andere ist. Dies geschieht ohne Mühe, Anstrengung oder Beweisführung, sondern auf den ersten Blick vermöge des natürlichen Auffassungs- und Unterscheidungs-Vermögens. Die Gelehrten haben dies zwar in die allgemeinen Regeln gefasst: »Was ist, das ist« und »dasselbe Ding kann nicht sein und nicht sein«; damit man von diesen Sätzen gleich bei jeder Gelegenheit Gebrauch machen könne; allein die erste Ausübung dieses Vermögens geschieht immer an dem einzelnen Falle. Jedermann weiss untrüglich, sobald die Vorstellungen von Weiss und Rund in ihm auftreten, dass sie gerade diese Vorstellungen sind und nicht jene, die er roth und viereckig nennt. Kein Grundsatz und keine Regel in der Welt kann ihn davon klarer und deutlicher überzeugen, als er es schon vorher ist. Dies ist sonach die erste Art der Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung, welche die Seele, an ihren Vorstellungen bemerkt. Sie sieht dies immer auf den ersten Blick; jeder etwanige Zweifel hierbei trifft höchstens die Worte, aber nie die Vorstellungen, deren Dieselbigkeit oder unterschied immer sofort und klar mit deren Auftreten erkannt wird, wie es auch nicht anders sein kann.[137]

§ 5. (Die Beziehung.) Die zweite Art von Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, welche die Seele an ihren Vorstellungen bemerkt, kann die beziehende genannt werden und ist nur die Auffassung der Beziehung zweier Vorstellungen zu einander, seien sie Vorstellungen von Substanzen oder Eigenschaften oder sonst etwas. Denn da alle bestimmten Vorstellungen nicht dieselben sein können und deshalb die eine durchgängig und stets von der andern verneint werden muss, so wäre kein Raum für irgend ein inhaltliches Wissen, wenn man nicht eine Beziehung zwischen den Vorstellungen auffassen und ihre Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung bei den verschiedenen Arten, sie in der Seele zu vergleichen, bemerken könnte.

§ 6. (Das ZusammenBestehen.) Die dritte Art der Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung zwischen unsern Vorstellungen, welche die Seele erfasst, ist das Zusammenbestehen oder Nichtzusammenbestehen in demselben Gegenstande; sie betrifft vorzugsweise die Substanzen. Sagt man z.B. vom Gold, dass es feuerbeständig sei, so will das Wissen um diese Wahrheit nur sagen, dass diese Beständigkeit oder die Kraft, vom Feuer nicht verzehrt zu werden, eine Vorstellung ist, die immer mit der besondern Gelbheit, Schwere, Schmelzbarkeit, Biegsamkeit und Löslichkeit in Königswasser verbunden ist, welche unsere Gesammtvorstellung, die Gold genannt wird, ausmacht.

§ 7. (Das wirkliche Dasein.) Die vierte und letzte Art ist die des wirklichen Daseins und Bestehens, entsprechend der Vorstellung. In diesen vier Arten von Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ist meines Erachtens all unser Wissen, soweit wir dessen fähig sind, befasst. Denn alle Untersuchungen über unsere Vorstellungen, Alles, was wir über sie wissen oder behaupten können, ist, dass sie dieselben mit andern sind oder nicht sind; dass sie mit andern Vorstellungen in demselben Gegenstand entweder zusammenbestehn oder nicht; dass sie diese oder jene Beziehung mit andern haben, und dass sie ein wirkliches Bestehen ausserhalb der Seele haben. So ist blau nicht gelb; dies betrifft die Dieselbigkeit; so sind zwei Dreiecke auf gleichen Grundlinien zwischen zwei Parallellinien einander gleich; dies ist eine[138] Beziehung; so ist Eisen magnetischer Einwirkungen fähig; dies betrifft das Zusammenbestehen; und so betrifft der Satz: Gott besteht, das wirkliche Dasein. Allerdings sind die Dieselbigkeit und das Zusammenbestehen nur Beziehungen, indess ist diese Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen so eigenthümlicher Natur, dass sie als besondere Arten zu behandeln und nicht unter die Beziehungen im Allgemeinen zu stellen sind. Sie enthalten ganz verschiedene Gründe für die Bejahung und Verneinung, wie man leicht nach dem bisher Gesagten bemerken wird. Ehe ich nun zu den verschiedenen Graden des Wissens übergehe, werden zuerst die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Wissen zu betrachten sein.

§ 8. (Das gegenwärtige und das bekannte Wissen.) Die Seele kann die Wahrheit in verschiedener Weise besitzen, und eine jede heisst Wissen, 1) giebt es ein gegenwärtiges Wissen, was dann vorhanden ist, wenn die Seele die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung gewisser Vorstellungen oder deren Beziehungen zu einander in der Gegenwart erfasst. 2) sagt man, dass Jemand einen Satz wisse, wenn er einmal ihm vorgelegen hat, er die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seiner Vorstellungen klar erfasst hat und ihn so in sein Gedächtniss eingestellt hat, dass, sobald dieser Satz einmal wieder vorkommt, er ohne Zögern und Zweifeln sofort die richtige Seite erfasst, ihr beistimmt und von ihrer Wahrheit überzeugt ist. Man kann dies das bekannte Wissen nennen, und in diesem Sinne weiss man alle Wahrheiten, welche das Gedächtniss in Folge einer vorgegangenen klaren und vollen Auffassung bewahrt, und über welche die Seele keine Zweifel hegt, sobald sie gelegentlich wieder daran denkt. Denn unser endlicher Verstand vermag hier nur eine Sache auf einmal klar und deutlich zu denken, und wenn das Wissen der Menschen nicht über sein gegenwärtiges hinausginge, so wären die Menschen sämmtlich sehr unwissend, und selbst die, welche am meisten wüssten, wüssten nur eine Wahrheit, da sie mehr auf einmal zu denken nicht im Stande sind.

§ 9. (Das bekannte Wissen ist zweifach.) Von dem bekannten Wissen giebt es im gewöhnlichen[139] Sinne zwei Grade; der erste befasst die in dem Gedächtniss aufbewahrten Wahrheiten, von denen, so wie sie in der Seele vorkommen, sie die zwischen ihnen bestehende Beziehung gegenwärtig erfasst. Dies gilt von allen Wahrheiten, die man anschaulich weiss und wo die Vorstellungen unmittelbar als übereinstimmend oder nicht übereinstimmend erkannt werden. Der zweite Grad befasst solche Wahrheiten, welche die Seele, nachdem sie sich von denselben überzeugt hat, zwar im Gedächtniss behält, aber ohne ihre Beweise. So ist Jemand, der sich bestimmt entsinnt, einmal den Beweis eingesehen zu haben, dass die drei Winkel des Dreiecks zweien rechten gleich seien, sicher, dass er diesen Satz weiss, weil er seine Wahrheit nicht bezweifeln kann. Bei einer solchen Zustimmung zu einer Wahrheit, wo der Beweis, auf dem sie beruht, vergessen ist, scheint man mehr seinem Gedächtniss zu vertrauen als wirklich zu wissen; deshalb hielt ich früher diese Art von Ueberzeugung als ein Mittelding zwischen Wissen und Meinung und als eine Art Gewissheit, die mehr als blosses Glauben ist, was sich nur auf das Zeugniss Anderer stützt; indess habe ich bei näherer Prüfung gefunden, dass es der vollkommenen Gewissheit gleich steht und wirklich wahres Wissen ist. Was hier leicht zu einer falschen Auffassung verleitet, ist, dass die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen nicht so eingesehen wird wie das erste Mal, nämlich durch das wirkliche Ueberschauen aller Zwischenvorstellungen; sondern dass dies jetzt auf andern Zwischenvorstellungen beruht, welche die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen des Lehrsatzes darlegen, dessen Gewissheit man sich erinnert. Wenn z.B. Jemand von dem Satz, dass die drei Winkel des Dreiecks zwei rechten gleich seien, den Beweis einmal klar erkannt hat, so weiss er, auch wenn ihm der Beweis später entfallen ist, doch noch, dass er wahr ist. Der Beweis ist zwar jetzt nicht mehr gegenwärtig, und er kann sich auch nicht darauf besinnen; allein er weiss die Wahrheit jetzt in einer andern Weise als vorher. Er erfasst auch jetzt die Uebereinstimmung der zwei in diesem Satze verbundenen Vorstellungen, aber durch Vermittelung anderer Vorstellungen als derer, die dieses Wissen das erste Mal vermittelten. Er entsinnt[140] sich, d.h. er weiss (denn das Entsinnen ist nur das Wiederaufleben eines früheren Wissens), dass er einst von der Wahrheit dieses Satzes überzeugt gewesen, und so ist jetzt die Unveränderlichkeit der Beziehungen zwischen denselben unveränderlichen Dingen diejenige Vorstellung, die ihm zeigt, dass, wenn die drei Winkel des Dreiecks einmal zweien rechten gleich waren, sie dies immer sein werden. Deshalb ist er gewiss, dass das, was einmal wahr war, immer wahr sein wird, und dass Vorstellungen, die einmal übereinstimmten, immer übereinstimmen, und dass also das, was er einmal als wahr gewusst, er immer als wahr wissen werde, so lange er sich entsinnen kann, dass er es einmal gewusst habe. Aus diesem Grunde gewähren die Beweise für den einzelnen Fall in der Mathematik ein allgemeines Wissen. Wenn die Erkenntniss, dass dieselben Vorstellungen ewig dieselben Eigenheiten und Beziehungen behalten, das Wissen nicht genügend begründeten, so könnte in der Mathematik kein Wissen allgemeiner Sätze Statt haben; denn jeder mathematische Beweis wird nur an einem einzelnen Falle geführt, und wenn dieser Beweis auch an dem einen Dreieck oder Kreise geführt ist, so ginge er doch nicht über diese Figur hinaus. Sollte er eine weitere Geltung haben, so müsste in dem neuen Falle der Beweis erneuert werden, ehe man wissen könnte, ob der Satz auch für dieses Dreieck gälte, und so fort, womit das Wissen des Satzes in seiner Allgemeinheit nie erreicht werden würde. Niemand wird bestreiten, dass Herr Newton weiss, dass jeder Satz wahr ist, den er jetzt in seinem Werke liest, wenn er auch die wunderbare Kette von Zwischenvorstellungen nicht gegenwärtig hat, durch welche er zuerst dessen Wahrheit entdeckt hat. Ein Gedächtniss, was die Reihe solcher Besonderungen behielte, übersteigt das menschliche Vermögen, da schon die blosse Entdeckung, Auffassung und Darlegung dieser wunderbaren Verbindung von Vorstellungen die Fassungskraft der meisten Leser übersteigt. Dennoch weiss offenbar der Verfasser die Wahrheit seines Satzes; denn er entsinnt sich, dass er die Verbindung dieser Vorstellungen so sicher erfasst gehabt, als er weiss, dass dieser Mann jenen verwundet hat, weil er sich entsinnt, dass er gesehen, wie er ihn durchstochen hat. Indess ist[141] die Erinnerung nicht immer so klar, wie das wirkliche Erfassen, und sie nimmt mit der Zeit allmählich ab; deshalb und aus andern Umständen ist das auf Beweisen ruhende Wissen unvollkommener als das anschauliche, wie das folgende Kapitel ergeben wird.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 136-142.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
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