Achtzehntes Kapitel.
Ueber Glauben und Vernunft, und ihre unterschiedenen Gebiete

[316] § 1. (Man muss ihre Grenzen kennen.) Ich habe früher dargelegt, 1) dass wir überall da, wo uns die Vorstellungen fehlen, auch nothwendig unwissend sind und des Wissens aller Art ermangeln. 2) Dass wir unwissend sind und des vernünftigen Wissens ermangeln, wo uns die Gründe fehlen. 3) Dass uns sicheres Wissen und Gewissheit abgeht, so weit uns klare und deutliche Vorstellungen in einem Gebiet abgehen. 4) Dass wir mit Wahrscheinlichkeit unsre Zustimmung nicht da ertheilen können, wo sowohl das eigene Wissen wie das Zeugniss Anderer fehlt, auf das sich unsre Vernunft gründen könnte. Nach Vorausschickung dessen wird sich das Maass und die Grenze zwischen Glauben und Vernunft feststellen lassen; die Unkenntniss derselben dürfte der Grund sein, weshalb grosse Unordnungen und mindestens grosse Streitigkeiten und vielleicht auch Irrthümer hierüber entstanden sind; denn so lange nicht feststeht, wie weit man durch die Vernunft und wie weit man durch den Glauben sich leiten zu lassen habe, wird man in Religionsfragen vergeblich streiten und einander zu überführen suchen.

§ 2. (Was der Glaube und die Vernunft als Gegensätze sind.) Ich finde, dass jede Sekte von[316] der Vernunft eifrig Gebrauch macht, so weit sie ihr dienen kann; wo das nicht mehr gehen will, da erheben sie den Ruf: Hier liegt eine Frage des Glaubens vor, die über die Vernunft geht. Indess sehe ich nicht ein, wie sie mit einem Andern sich streiten oder einen Gegner überführen wollen, der dieselbe Wendung gebraucht, so lange die Grenzen zwischen Glauben und Vernunft nicht genau festgestellt sind; dies muss also die erste Aufgabe bei allen Fragen sein, wo der Glaube betheiligt ist. In diesem Gegensatz zu dem Glauben fasse ich daher die Vernunft nur als das Mittel auf, um die Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit solcher Sätze oder Wahrheiten darzulegen, zu denen man durch Ableitungen aus solchen Vorstellungen gelangt, welche durch den Gebrauch der natürlichen Fähigkeiten erlangt werden, d.h. durch Sinnes- und Selbstwahrnehmung. Der Glaube ist dagegen die Zustimmung zu Sätzen, welche nicht auf diese Weise aus der Vernunft abgeleitet sind, sondern wo man sich auf die Glaubwürdigkeit des Sprechenden verlässt, der sie von Gott auf eine ausserordentliche Art mitgetheilt erhalten hat. Diese Art, den Menschen Wahrheiten mitzutheilen, heisst Offenbarung.

§ 3. (Neue einfache Vorstellungen können durch überlieferte Offenbarung nicht mitgetheilt werden.) Ich sage nun hier erstens, dass kein von Gott Belehrter durch irgend eine Offenbarung Andern neue einfache Vorstellungen mittheilen kann, die sie nicht bereits aus der Sinnes- oder Selbstwahrnehmung erlangt haben. Denn trotz aller Eindrücke, die Jemand durch die unmittelbare Hand Gottes empfangen haben mag, kann er doch diese Offenbarung, so wie sie neue einfache Vorstellungen enthält, Andern weder durch Worte noch durch Zeichen mittheilen. Denn Worte bewirken als natürliche Laute zunächst nur die Vorstellungen von solchen; blos durch die Gewohnheit, sie als Zeichen zu benutzen, erwecken sie die in der Seele verborgenen Vorstellungen; aber doch nur solche, die dort schon vorhanden sind. Denn die gesehenen oder gehörten Worte rufen nur die Vorstellungen zurück, als deren Zeichen sie gelten; aber sie können keine ganz neue, bisher nicht gekannte einfache Vorstellung uns zuführen. Dasselbe gilt für alle andern Zeichen; sie[317] können uns keine Dinge bezeichnen, von denen wir bisher noch gar keine Vorstellung gehabt haben. Was daher auch dem heiligen Paulus offenbart worden sein mag, als er in den dritten Himmel erhoben wurde, und welche neue Vorstellungen er auch da bekommen haben mag, so konnte er doch über diesen Ort Andern nur sagen, es seien dort solche Dinge »als noch kein Auge gesehn und kein Ohr gehört, noch in des Menschen Herz zum Begreifen eingegangen.« Selbst wenn Gott auf übernatürliche Weise Jemand die z.B. auf dem Jupiter oder Saturn vorhandenen Geschöpfe (denn dass es deren dort geben könne, wird Niemand leugnen können) mit sechs Sinnen zeigen sollte, und ihm die durch diesen sechsten Sinn erfolgenden Vorstellungen einprägen sollte, so würde er doch durch Worte sie Andern so wenig mittheilen können, als man die Vorstellung einer Farbe durch Worte einem Menschen mittheilen kann, der zwar vier Sinne ganz vollkommen besitzt, aber dem das Sehen abgeht. Deshalb sind wir in Bezug auf die einfachen Vorstellungen, welche die Grundlage und den Stoff all unsers Wissens und unsrer Begriffe abgeben, gänzlich von der Vernunft oder unserm natürlichen Vermögen abhängig, und die überlieferte Offenbarung kann sie uns nicht mittheilen; ich sage: die überlieferte Offenbarung zum Unterschied von der ursprünglichen Offenbarung. Unter letzterer verstehe ich den ersten Eindruck auf eines Menschen Seele, welcher unmittelbar von Gott ausgegangen ist, und welchem Eindruck man keine Schranken setzen kann; unter ersterer verstehe ich aber jene Eindrücke, welche Andern durch Worte und die gewöhnlichen Wege der Mittheilung überliefert worden sind.

§ 4. (Die überlieferte Offenbarung kann dem Wissen Sätze zuführen, die auch durch die Vernunft erkannt werden können; allein nicht mit der Gewissheit, wie es durch die Vernunft geschieht.) Zweitens sage ich, dass die Offenbarung uns dieselben Wahrheiten enthüllen und zuführen kann, die man auch durch die Vernunft und die auf natürlichem Wege erlangten Vorstellungen gewinnen kann. So hätte Gott ebenso gut irgend einen Lehrsatz des Euklid durch Offenbarung den Menschen mittheilen können, wie sie durch den Gebrauch ihrer natürlichen Fähigkeiten diese[318] Entdeckung selbst gemacht haben. In allen Fällen dieser Art bedarf es der Offenbarung nicht, da Gott uns mit den Mitteln ausgerüstet hat, durch die wir zu deren sicheren Kenntniss gelangen können. Jede Wahrheit, zu deren klaren Besitz man durch das Wissen und Betrachten der eigenen Vorstellungen gelangt, werden immer gewisser sein als die durch die überlieferte Offenbarung uns zugeführten; da das Wissen, dass diese Offenbarung zuerst von Gott komme, niemals so gewiss sein kann als das klare Wissen von der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung ausser Vorstellungen. Wäre z.B. vor Zeiten offenbart worden, dass die drei Winkel des Dreiecks zweien rechten gleich seien, so würde man im Vertrauen auf die Ueberlieferungen, dass dies offenbart worden, dieser Wahrheit zustimmen; allein dies würde niemals den hohen Grad von Gewissheit erreichen, wie sie durch die Vergleichung und Messung der eignen Vorstellungen von zwei rechten Winkeln und von den drei Winkeln eines Dreiecks gewonnen werden kann. Dasselbe gilt für Thatsachen, die man durch die Sinne wahrnehmen kann; so ist die Geschichte von der Sündfluth uns durch Schriften überliefert, die von der Offenbarung herrühren; und dennoch wird Niemand sagen, dass er ein so sicheres und klares Wissen davon habe, wie Noah selbst es hatte, der sie gesehen hat, und wie wir selbst gehabt haben würden, wenn wir damals gelebt und sie gesehen hätten. Denn dass dergleichen in dem Buche steht, was Moses in Folge einer Offenbarung geschrieben haben soll, weiss man auch nur auf Grund der Sinne; allein die Gewissheit, dass Moses dies Buch geschrieben habe, ist nicht so gross, als wenn man selbst es gesehn hätte; und somit ist die Gewissheit, dass es eine Offenbarung sei, immer geringer als die Gewissheit, die aus den Sinnen kommt.

§ 5. (Die Offenbarung kann nicht gegen das klare Zeugniss der Vernunft zugelassen werden.) Bei Sätzen, deren Gewissheit auf der klaren Erkenntniss der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung unserer Vorstellungen beruht, die entweder durch unmittelbare Anschauung, wie bei selbstverständlichen Sätzen oder durch offenbare vernünftige Ableitung aus Beweisen erlangt worden, bedarf man deshalb nicht der Hülfe der Offenbarung, um ihnen zuzustimmen oder sie in das Wissen[319] aufzunehmen. Denn die natürlichen Wege der Erkenntniss haben sie gewährt oder können es, und damit erreicht man die höchste Gewissheit, die von einer Sache möglich ist, ausgenommen, wenn Gott uns unmittelbar etwas offenbart, und selbst da kann unsre Gewissheit nicht grösser sein als die, dass es eine Offenbarung von Gott sei. Allein unter diesem Namen darf nichts das klare Wissen erschüttern oder beseitigen, und nichts vernünftiger Weise uns bestimmen, es trotz seines Widerspruchs mit der klaren Erkenntniss des eignen Verstandes für wahr zu halten. Denn keine Kunde, welche wir durch unsre Vermögen empfangen und durch welche wir solche Offenbarungen erhalten, kann der Gewissheit unsers anschaulichen Wissens gleich kommen oder gar sie übertreffen, und deshalb kann man Nichts für wahr halten, was unserm klaren und deutlichen Wissen geradezu widerspricht. So stimmen z.B. die Vorstellungen des Körpers und des Orts so klar überein, und es wird dies so klar erkannt, dass man niemals dem Satze zustimmen kann, welcher aussagt, dass ein Körper sich zugleich an zwei verschiedenen Orten befinde, selbst wenn er sich als ein göttlich offenbarter ankündigte; denn die Gewissheit, dass man sich nicht selbst täuscht, wenn man dies Gott zuschreibt, und dass man es recht verstanden habe, kann nie so gross sein als die Gewissheit unsers anschaulichen Wissens, vermöge dessen wir es als unmöglich erkennen, dass derselbe Körper zugleich an zwei Orten sein könne. Deshalb kann kein Satz für eine göttliche Offenbarung gelten und die einer solchen gebührende Zustimmung erhalten, wenn er der klaren anschaulichen Erkenntniss widerspricht. Denn damit würden die Grundsätze und Grundlagen alles Wissens, aller Gewissheit und Zustimmung umgestürzt; es gäbe keinen Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Trug, und kein Maass für Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, wenn zweifelhafte Sätze den Vorrang vor selbstgewissen erhalten sollten, und wenn man das gewiss Erkannte aufgäbe für Sätze, bei denen man sich geirrt haben könnte. Widersprechen mithin Sätze der klaren Erkenntniss von der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung unserer Vorstellungen, so hilft es nichts, sie als Glaubenssätze geltend zu machen; sie können unter[320] diesem oder einem andern Vorgeben die Zustimmung nicht erlangen; denn ein Glaube kann nie die Ueberzeugung von Etwas gewähren, was unserm Wissen widerspricht. Der Glaube stützt sich zwar auf das Zeugniss Gottes (der nicht lügen kann), der uns es offenbart habe; allein unsere Gewissheit, dass es eine solche Offenbarung sei, kann nicht grösser als unser Wissen sein, da die ganze Stärke der Gewissheit darauf beruht, dass wir wissen, es sei eine Offenbarung Gottes, und da in solchen Fällen, wo die angebliche Offenbarung dem Wissen oder der Vernunft widerspricht, ihr immer der Einwand entgegensteht, dass man nicht begreifen könne, wie es von Gott, dem gütigen Schöpfer unsers Daseins, kommen könne, der, wenn es für wahr angenommen werden sollte, alle Grundsätze und Unterlagen des Wissens, die er uns gegeben, umstürzen, all unsre Vermögen nutzlos machen und unsern Verstand, das schönste Stück seiner Schöpfung, ganz zerstören und den Menschen in eine Lage bringen müsste, wo er weniger Licht und weniger Leitung hätte als das Vieh, welches umkommt. Denn die Seele kann nie Etwas mit mehr Gewissheit (und wohl nicht einmal mit gleicher) für eine göttliche Offenbarung halten, als die Grundsätze ihrer eignen Vernunft, und deshalb hat sie niemals einen Grand, die klare Auskunft ihrer Vernunft zu verlassen und einen Satz anzunehmen, dessen Offenbarung nicht gewisser ist, als diese Grundsätze sind.

§ 6. (Noch weniger die überlieferte Offenbarung.) So weit hat der Mensch selbst bei einer unmittelbaren und ursprünglichen Offenbarung, die an ihn selbst ergeht, seine Vernunft zu gebrauchen und auf sie zu hören; wenn es sich aber nicht um einen solchen Fall handelt, sondern Gehorsam und Glauben für Wahrheiten verlangt wird, die Andern geoffenbart worden und vermittelst der Ueberlieferung von Schriften oder Reden jetzt empfangen werden, so hat die Vernunft hier noch mehr zu thun, und nur sie kann uns bestimmen, diese Offenbarungen anzunehmen. Denn da der Gegenstand des Glaubens nur allein die göttliche Offenbarung ist, so hat der Glaube in seiner gewöhnlichen Bedeutung (wo er meist göttlicher Glaube heisst) nur mit Sätzen zu thun, welche als von Gott offenbart angenommen sind. Ich weiss deshalb nicht, wie Die, welche die Offenbarung[321] zu dem alleinigen Gegenstand des Glaubens machen, sagen können, dass es Sache des Glaubens und nicht der Vernunft sei, zu glauben, dass ein solcher Satz in einem solchen Buche eine göttliche Offenbarung sei, wenn nicht offenbart ist, dass dieser Satz oder der ganze Inhalt des Buches auf göttlicher Eingebung beruhe. Ohne eine solche Offenbarung kann das Fürwahrhalten, dass dieser Satz oder dieses Buch von Gott komme, kein Gegenstand des Glaubens, sondern nur der Vernunft sein. Wenn ich also nur durch den Gebrauch meiner Vernunft dem beistimmen kann, so kann diese mich nie berechtigen, das zu glauben, was ihr selbst widerspricht; denn die Vernunft kann nicht die Zustimmung zu Etwas vermitteln, was an sich unvernünftig erscheint. Deshalb bleibt in allen Dingen, wo man volle Gewissheit vermittelst unsrer Vorstellungen und der obengennanten Grundsätze des Wissens hat, die Vernunft der wahre Richter, und die Offenbarung kann die Gebote jener wohl bestätigen, aber in solchen Fällen deren Gebote nicht entkräften; noch ist man da, wo man den klaren und offenbaren Ausspruch der Vernunft hat, verpflichtet, ihn um der gegentheiligen Ansicht willen aufzugeben, weil es sich angeblich um eine Sache des Glaubens handle; denn dieser kann gegen die klaren und einfachen Gebote der Vernunft sich nicht geltend machen.

§ 7. (Dinge aber der Vernunft.) Drittens giebt es jedoch Dinge, von denen man gar keine oder nur unvollkommene Begriffe hat, und andere, von deren vergangenem, gegenwärtigen oder zukünftigen Dasein man vermittelst seiner natürlichen Fähigkeiten überhaupt nichts wissen kann, weil sie dieselben übersteigen und über die Vernunft gehen; deshalb sind sie, wenn sie offenbart worden, der eigentliche Gegenstand des Glaubens, so übersteigen z.B. Sätze, dass ein Theil der Engel einstmals gegen Gott sich empört und damit ihren ursprünglichen Zustand der Seligkeit verloren haben, und dass die Todten zu neuem Leben auferstehn werden, die Vernunft, und sind reine Glaubenssachen, mit denen die Vernunft durchaus nichts zu thun hat.

§ 8. (Oder nicht gegen die Vernunft, sind, wenn sie offenbart worden, Glaubenssachen.) Allein indem Gott uns das Licht der Vernunft gegeben[322] hat, hat er sich damit nicht selbst die Hände gebunden; er kann uns, wenn er es für zweckmässig findet, das Licht der Offenbarung überall da zukommen lassen, wo die natürlichen Fähigkeiten wohl etwas als wahrscheinlich bieten können, aber die Offenbarung, so weites Gott, sie zu ertheilen, gefallen hat, die Geltung über diese Vermuthungen haben muss. Hier, wo man die Wahrheit nicht sicher wissen, sondern nur der anscheinenden Wahrscheinlichkeit nachgeben kann, hat man einem solchen Zeugniss beizustimmen, welches nach der eignen Ueberzeugung von Dem kommt, der nicht irren kann und nicht betrügen will. Allein auch hier hat die Vernunft zu entscheiden, ob es eine Offenbarung ist, und was die Worte, in denen sie überliefert ist, bedeuten. Sollte also eine angebliche Offenbarung den einfachen Grundsätzen der Vernunft und dem offenbaren Wissen der eignen klaren, und deutlichen Vorstellungen widersprechen, so müsste auch hier die Vernunft gehört werden, und der Fall gehört in ihr Gebiet, da ein Wissen, dass etwas offenbart sei, was den klaren Grundsätzen und dem Zeugniss der eignen Vernunft widerspricht, oder ein Wissen, dass die geoffenbarten Worte richtig verstanden seien, nie so gewiss sein kann als das Wissen von der Wahrheit des Gegentheils; deshalb ist diese Frage als ein Gegenstand der Vernunft zu behandeln und zu entscheiden, und man braucht sie nicht, ohne Prüfung, als eine Sache des Glaubens hinunterzuschlucken.

§ 9. (Die Offenbarung in Sachen, wo die Vernunft nicht urtheilen oder nur Wahrscheinlichkeiten bieten kann.) Erstens sind alle Sätze, die offenbart sind, und über deren Wahrheit die Seele mit ihrem natürlichen Vermögen und Begriffen nicht urtheilen kann, reine Sache des Glaubens und über der Vernunft. Zweitens sind alle Sätze, über welche die Seele vermöge ihrer natürlichen Vermögen entscheiden, und nach ihren, auf natürlichem Wege erlangten Vorstellungen urtheilen kann, Sache der Vernunft; indess mit der Maassgabe, dass in allen Dingen von schwankender Gewissheit, wo nur Wahrscheinlichkeitsgründe vorhanden sind, die Sätze nur auf solche hin angenommen werden und das Gegentheil also möglich bleibt, ohne dass man dem eignen klaren Wissen Gewalt anthut und die Grundsätze[323] seiner Vernunft umstösst, der sicheren Offenbarung selbst gegen die Wahrscheinlichkeit zugestimmt werden muss. Denn wo die Grundsätze der Vernunft einen Satz nicht als offenbar wahr oder falsch ergeben, da kann die klare Offenbarung oder eine andere Regel der Wahrheit den Grund für die Zustimmung abgeben, und deshalb kann solcher Fall eine Sache des Glaubens sein und über die Vernunft gehen. Denn wo die Vernunft nur bis zur Wahrscheinlichkeit reicht, da entscheidet der Glaube, und die Vernunft muss nachstehn, und die Offenbarung zeigt, auf welcher Seite die Wahrheit ist.

§ 10. (Wo die Vernunft Gewissheit bieten kann, muss sie ebenfalls gehört werden.) So weit reicht das Gebiet des Glaubens, und zwar ohne der Vernunft Gewalt anzuthun oder sie zu hindern; vielmehr wird diese nicht gehindert noch verletzt, sondern unterstützt und gestärkt, wenn neue Wahrheiten ihr aus der ewigen Quelle alles Wissens zugeführt werden. Alles, was Gott offenbart hat, ist sicherlich wahr, und kein Zweifel kann sich dagegen erheben. Dies ist der eigentliche Gegenstand des Glaubens; aber ob Etwas göttlich offenbart sei, das hat die Vernunft zu entscheiden, und diese gestattet niemals, eine höhere Gewissheit um einer geringerem willen zu verwerfen oder die Wahrscheinlichkeit über die Gewissheit und Erkenntniss zu stellen. Kein Zeugniss für den göttlichen Ursprung einer überlieferten Offenbarung nach ihren Worten und nach dem Sinne, in dem sie aufgefasst wird, kann so klar und sicher sein als das Zeugniss der Vernunft und ihrer Grundsätze, und deshalb kann nichts, was sich mit den klaren und selbstverständlichen Geboten der Vernunft nicht verträgt, oder ihnen widerspricht, als Glaubenssätze geltend gemacht werden, bei welchen die Vernunft nichts zu sagen habe, und denen man zustimmen müsse. Alle göttliche Offenbarung muss über unseren Meinungen, Vorurtheilen und Wünschen stehen, und hat ein Recht, mit voller Zustimmung angenommen zu werden. Eine solche Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben, zerstört nicht die Grenzpfähle des Wissens, erschüttert nicht die Grundlagen der Vernunft, sondern lässt unseren Vermögen den Gebrauch, wofür sie uns gegeben worden sind.

§ 11. (So lange die Grenzen zwischen Vernunft[324] und Glauben nicht feststehn, kann keiner Schwärmerei und Ausgelassenheit in Religionssachen entgegengetreten werden.) Wenn die Gebiete des Glaubens und der Vernunft nicht durch solche Grenzen geschieden gehalten werden, so bleibt in Sachen der Religion überhaupt kein Platz für die Vernunft, und all jene tollen Meinungen und Gebräuche, die sich in den Religionen auf dieser Erde finden, können dann nicht getadelt werden. Denn den Aufschrei des Glaubens gegen die Vernunft kann man zum grossen Theile dem Widersinn zuschreiben, der beinah alle Religionen erfüllt, welche die Menschheit beherrschen und trennen. Denn ist es zum Grundsatz geworden, dass in Sachen der Religion die Vernunft nicht befragt werden dürfe, wenn jene auch noch so offenbar dem gesunden Verstande und den Grundsätzen alles Wissens widersprechen, so ist der Einbildungskraft und dem natürlichen Aberglauben freier Lauf gelassen, und die Religion geräth auf solche sonderbare Meinungen und ausgelassene Gebräuche, dass jeder besonnene Mann über diese Tollheiten erstaunen muss. Sie können ihm nicht für Etwas, was dem grossen und weisen Gotte genehm ist, gelten, sondern für Etwas, was lächerlich ist und den einfachen ehrlichen Mann nur verletzen kann. Obgleich die Menschen gerade durch die Religion sich von den Thieren unterscheiden und als vernünftige Wesen sich über diese rohen Wesen erheben sollten, so zeigen sie sich doch gerade in der Religion am unvernünftigsten, und selbst unverständiger als die Thiere. »Credo, quia impogsibile est«, d.h. »ich glaube es, weil es unmöglich ist«, mag bei einem guten Menschen als ein Anfall von Religionseifer hingehen, allein es wäre eine schlimme Regel, wenn man danach seine Meinungen und seine Religion bestimmen wollte.[325]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 316-326.
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
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