Sechstes Kapitel.
Von den einfachen Vorstellungen der Selbstwahrnehmung

[127] § 1. (Die Thätigkeiten der Seele in Bezug auf ihre sonstigen Vorstellungen gewähren einfache Vorstellungen.) Wenn die Seele die in den froheren Kapiteln erwähnten Vorstellungen von aussen aufgenommen hat, und sie nun ihren Blick auf sich selbst wendet und ihr eignes Thun in Bezug auf diese erlangten Vorstellungen beobachtet, so gewinnt sie davon andere Vorstellungen, die ebenso gut zum Gegenstand der Betrachtung genommen werden können, wie die von äussern Dingen.

§ 2. (Die Vorstellung des Vorstellens und die des Wollens erlangt man durch Selbstwahrnehmung.) Die zwei grossen und hauptsächlichsten Thätigkeiten der Seele, die man am meisten betrachtet, und die so häufig sind, dass Jeder nach Belieben sie an sich selbst bemerken kann, sind: Vorstellen oder Denken und Verlangen oder Wollen. Das Vermögen, zu denken, heisst der Verstand, und das Vermögen, zu verlangen, der Wille. Diese beiden Vermögen oder Anlagen der Seele heissen Fähigkeiten. Ueber einige Arten dieser aus der Selbstwahrnehmung genommenen einfachen Vorstellungen, wie Erinnern, Unterscheiden, Begründen, Urtheilen, Wissen, Glauben werde ich später zu sprechen, Gelegenheit haben.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 127.
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1