Streben nach der Mitte

[58] Hierbei, o Memmius, mußt du dem Glauben von Grund aus entsagen,

Daß nach der Mitte der Welt (so redet man) alles sich dränge;

Und so könne die Welt auch ohne die Stöße von außen

Feststehn, ohne sich irgendwohin auseinander zu lösen.

Alles, was oben und unten, sei stets auf die Mitte gerichtet.

Danach glaubst du an etwas, das auf sich selber sich hinstellt,

Glaubst, daß gewaltige Massen, die unter der Erde sich finden,

Aufwärtsfliehn und verkehrt auf der Erde sich lagern und ruhen,

Wie wir im Wasser verkehrt jetzt Spiegelbilder erblicken.

Und auf ähnliche Weise (behauptet man) gingen dort aufrecht

Alle Geschöpfe. Sie könnten auch nicht von der Erde gen Himmel

Fallen dort unten, so wenig wie unsere Körper vermöchten

Selbst und mit eigener Kraft zu den Räumen des Himmels zu fliegen,[58]

Jene bekämen die Sonne zu sehen, wenn wir die Gestirne

Sehen der Nacht, und sie teilten mit uns die Zeiten des Himmels

Wechselsweis: es entspräche ihr Tag so unserer Nachtzeit.

Doch dies [alles] ist Wahn, [der den Irrtum zeugt] bei den Toren,

Weil sie von Anfang an sich [in falsche Methoden] verstrickten.

Denn [da alles sich dehnt ins Unendliche,] fehlt ihm die Mitte.

Doch selbst [gäb' es die Mitte,] warum denn sollte man [glauben,]

Daß nun grad' in die Mitte sich irgendein Körperchen drängte

Eher, als weiter [zu schweifen] auf andrem beliebigen Wege.

Denn ein jeglicher Ort und Raum, den [Leeres wir nennen,

Muß] vor gewichtigen Massen in gleichem Verhältnisse weichen

Ob zu mitten, ob nicht, wohin sie sich grade bewegen.

Auch ist nirgend ein Punkt, wo die Körper, sobald er erreicht war,

Könnten im Leeren sich halten, als ob sie die Schwere verloren,

Auch darf nichts, was leer ist, für irgendwas Grundstein werden,

Sondern es muß stets weichen, wie seine Natur es erfordert.

Also können die Dinge nicht etwa, dem Drang nach der Mitte

Folgend, nach diesem Gesetze den Zwang zur Vereinigung fühlen.

Übrigens leihn sie ja doch durchaus nicht sämtlichen Körpern

Jenen Drang nach der Mitte, vielmehr nur dem Naß und der Erde,

Also den Wogen des Meers und den mächtigen Wassern der Berge

Und was etwa im All erdartigen Körper besitze;

Aber hingegen die Dünne der Luft und die Hitze des Feuers

Strebe (so fahren sie fort) von der Mitte weg stetig nach oben;

Darum flimmre der Äther ringsum vom Sternengefunkel

Und auf der Weide des Himmels ergehe sich flammend die Sonne,

Weil dort sämtliche Glut aus der Mitte entweichend sich sammle;

Auch vermöge das Laub in den Kronen der Bäume durchaus nicht

Zu ergrünen, sofern nicht die Erde die Nahrung für jeden

[Mählich spendete, da sich der Saft von hier aus verbreite:

Nun, dies Dogma der Gegner ist ganz unhaltbar und irrig,

Wie ich an späterem Orte ausführlich werde beweisen.

So will jetzt ich nur dies, damit du nicht irrest, erwidern:

Wenn nicht besondere Kräfte die Körper in andere Richtung

Treiben, muß alles nach unten der Schwerkraft folgend sich stürzen

So ist zu fürchten, daß einst, wenn die Fugen der Welt nicht mehr halten,

Ihre Atome zerflatternd hinab in das Endlose fallen,]

Daß wie fliegende Flammen die Mauern des Firmamentes

Plötzlich sich lösen und rasch im unendlichen Leeren zerstieben,[59]

Und auch die übrige Welt dem gegebenen Beispiel folge,

Daß aus der Höhe herab lautdonnernd die Himmelsgewölbe

Stürzen und plötzlich die Erde zu unseren Füßen sich senke

Und in der Abgrundtiefe des Leeren sich gänzlich verliere,

Während das All mit dem Himmel zerbracht in gemeinsamem Einsturz,

Der die Körper zerstreut, um im Nu nichts übrig zu lassen

Als den verwaisten Raum und die unsichtbaren Atome.

Denn wo irgend zuerst ein wirklicher Mangel an Urstoff

Eintritt, öffnet sich gleich für die Dinge die Pforte des Todes:

Da wird wirbelnd ins Weite sich stürzen der sämtliche Urstoff.


So bis ans Ende geführt wirst leicht du unsere Lehre

Fassen; denn eins wird klar aus dem ändern, und finstere Nacht wird

Nie dir den Pfad so verdunkeln, daß nicht auch das Letzte sich klärte

In der Natur; so zündet das eine dem ändern ein Licht an.[60]

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 58-61.
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