Geist ein Körperteil

[98] Erstlich behaupt' ich, der Geist (wir nennen ihn öfter Verstand auch),

In dem unseres Lebens Beratung und Leitung den Sitz hat,

Ist nur ein Teil von dem Menschen, so gut wie die Hand und der Fuß ist

Oder das Auge ein Teil des ganzen lebendigen Wesens.

[Freilich nun haben dagegen sich einige leichthin geäußert,]

Geistiges Wesen sei nicht an bestimmte Organe gebunden,

Sondern als Lebenskraft in dem ganzen Körper verbreitet[98]

(Harmonie ist das griechische Wort), die Leben uns wirke

Und Empfindung zugleich, doch an keinem besonderen Ort sei.

Spricht man ja oft ganz ähnlich von unseres Körpers Gesundheit,

Die doch gewiß nicht als einzelner Teil des Gesunden sich darstellt.

Ebenso wohne der Geist nicht in einem bestimmten Organe.

Damit scheinen sie mir gar sehr auf den Abweg geraten.

Fühlt doch Krankheit bisweilen der sichtbare Körper, indessen

Wir voll Heiterkeit sind in anderen, innern Organen.

Aber auch andererseits begegnet das Gegenteil häufig:

Krank im Gemüt strahlt mancher trotzdem in Gesundheit des Körpers.

Ebenso bleibt vielleicht, wenn der Fuß uns Schmerzen bereitet,

Währenddessen das Haupt von jeglichem Leiden verschonet.

Ferner sobald uns der Schlummer mit weicher Umarmung genaht ist,

Ausgegossen die Glieder und fühllos dumpf uns der Leib liegt,

Lebt doch in unserer Brust noch ein anderes Etwas, das vielfach

Währenddessen sich regt, das alle die heitern Gedanken

Ebenso treulich erfaßt wie des Herzens nichtige Sorgen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 98-99.
Lizenz:
Kategorien: