Teilbarkeit der Seele

[115] Wir empfinden auch stets, daß überall unsere Körper

Lebensgefühle durchströmen, und sehen, wie ganz er belebt ist.

Spaltete nun in der Mitte urplötzlich ein rascher Gewaltstreich

Unseren Körper so, daß jede der Hälften getrennt liegt,

Würde wohl sicherlich auch die seelische Kraft sich verteilen

Und mit dem Körper zugleich auseinander gerissen zerstieben.

Doch was sich spaltbar zeigt und in Teile beliebig zerlegbar,

Muß natürlich verzichten, als ewiges Wesen zu gelten.

Sichelwagen, so heißt es, bespritzt von rauchendem Mordblut

Schneiden bisweilen so überaus rasch die Glieder vom Rumpf ab,

Daß man das aus den Gelenken geschnittene Stück auf den Boden[115]

Fallend und dort noch zappelnd erblickt, obgleich doch des Menschen

Geistige Kraft von dem Schmerz nichts spürt, da so plötzlich das Unheil

Kommt und der Geist sich zugleich in die Kampfwut gänzlich verrannt hat.

Noch mit dem Körperstumpfe begehrt er den Kampf und das Blutbad

Und er bemerkt oft nicht, daß die Räder und reißenden Sicheln

Seine Linke zugleich mit dem Schild vor die Rosse geschleudert.

Einer, der Mauern erklimmt, fühlt seiner Rechten Verlust nicht:

Aufstehn möchte ein andrer trotz abgehauenem Beine,

Während daneben sein Fuß noch sterbend zuckt mit den Zehen:

Auch wenn das Haupt von dem warmen und lebenden Rumpfe getrennt ist,

Zeigt es im Sand noch lebendigen Blick und geöffnete Augen,

Bis es die Reste der Seele hat allesamt von sich gegeben.

Ja, wenn du Lust hast, der Schlange, die naht mit züngelnder Zunge,

Drohend erhobenem Schwanz und sich langhin rollendem Leibe,

Beides, den Leib wie die Seele, durch Schwertstreich vielfach zu trennen,

Siehst du, wie alle die Stücke zerschnitten mit frischer Verwundung

Einzeln sich winden und eitriges Blut auf dem Boden zerstreuen,

Wie sie sich selbst abmüht, mit dem Maul ihr Ende zu fassen,

Um durch den Biß sich den brennenden Schmerz der Zerfleischung zu lindern.

Sollen wir demnach sagen, ein jedes der Stücke besitze

Seine Seele für sich? Dann würde sich hieraus ergeben,

Daß ein einzig Geschöpf viel Seelen im Leibe behauste.

Folglich ward nur die eine, die vordem da war, zerteilet

Mit dem Körper zugleich; drum muß man doch beide für sterblich

Halten, da Seele wie Leib gleichmäßig sich vielfach zerteilen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 115-116.
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