Vererbung geistiger Eigenschaften

Vererbung geistiger Eigenschaften

[118] Weshalb endlich ist stets bei dem grimmigen Löwengeschlechte

Wilde Gewalttat erblich, beim Fuchse die List, bei den Hirschen

Flucht von den Vätern vererbt und der Schreck, der die Glieder beflügelt?[118]

Ähnlich die übrigen Sippen; warum nur arten sie alle

Von dem Beginn des Lebens in Gliedern und Geist dem Geschlecht nach?

Doch nur aus dem Grund, weil die besondere seelische Kraft wächst

Stets aus dem eigenen Samen und Stamm mit dem Körper zusammen.

Wäre die Seele unsterblich und wechselte öfter die Leiber,

Müßte bei allen Geschöpfen sich auch der Charakter vermischen.

Dann ergriffe wohl oft ein Hund Hyrkanischer Rasse

Vor dem Hirsche die Flucht, wenn mit seinem Geweih er ihn anrennt,

Scheu entflöhe der Falk in die Luft vor der nahenden Taube,

Tiere bekämen Vernunft und vernunftlos würden die Menschen.

Denn wenn man sagt, es verändre sich auch die unsterbliche Seele,

Wie sich der Leib umwandelt, so ist die Erklärung nicht richtig.

Denn was sich wandelt, das löst sich auch auf, geht also zugrunde.

Da sich die Teile verschieben und nicht in der Reihe verbleiben,

Müssen sie auch in den Gliedern bequem auseinander sich lösen

Können, um alle zuletzt mit dem Körper zugleich zu verscheiden.

Wenn sie dann aber behaupten, die Seelenwanderung gehe

Immer durch menschliche Körper, so frag' ich, weshalb wohl die klügsten

Geister bisweilen verdummen, warum kein Kind schon verständig

Und kein Füllen gelehrig schon ist wie ein kräftiger Renner?

'Weil natürlich im zarteren Leib auch der zartere Geist wohnt',

Lautet die Ausflucht jener. Doch ist's so, mußt du der Seele

Sterbliches Wesen bejahn; denn wenn sie im Körper sich so sehr

Ändert, büßt sie doch ein das frühere Leben und Fühlen.

Und wie soll denn die geistige Kraft mit dem Körper erstarken

Und zur willkommenen Reife des Lebens gemeinsam erblühen,

Wenn sie nicht schon vom Lebensbeginn sein treuer Genösse?

Oder was will sie für sich, daß sie flieht aus den alternden Gliedern?

Fürchtet sie etwa verhaftet im modernden Körper zu bleiben

Und von den Trümmern verschüttet der altersschwachen Behausung

Unterzugehen, trotzdem der Unsterblichen keine Gefahr droht?

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 118-119.
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