Wahngedanken über den Tod

Wahngedanken über den Tod

[122] Siehst du daher, daß ein Mensch sich entrüsten will über sich selber,

Modern zu müssen im Grab, wo der Leib nach dem Tode soll ruhen,

Oder von Flammen, ja gar von Bestien gefressen zu werden,

Glaub mir, da klingt's nicht rein, da liegt ein verborgener Stachel

Noch in dem Herzen versteckt, so sehr es jener auch leugnet,

Selber an Fortempfindung im Todesfalle zu glauben;

Denn, wie mich dünkt, erfüllt er nicht recht sein Versprechen und dessen

Tieferen Grund, und er kann sich nicht ganz vom Leben noch scheiden,

Sondern er läßt noch ein Restchen vom Ich auch jenseits bestehen,

Ohn' es zu merken. Denn wer als Lebend'ger einmal es sich vorstellt,

Wie im Tode den Körper die Vögel und Bestien zerfleischen,[122]

Wird sich selber bejammern. Er kann sich von jenem nicht trennen,

Kann sich nicht recht noch scheiden von seinem leblosen Körper,

Wähnet, er sei es noch selber und leiht ihm seine Empfindung.

Drum entrüstet er sich ob seines sterblichen Ursprungs,

Ohne zu sehn, daß beim wirklichen Tod er nicht selbst noch als Fremder

Dastehn werde, um lebend den eigenen Tod zu bejammern

Und zu bedauern, ein Raub von Flammen und Tieren zu werden.

Denn wenn es schlimm ist, im Tod von dem Biß und den Kiefern der Bestien

Übel mißhandelt zu werden, so find' ich es ebenso bitter,

Auf das Feuer gelegt und in glühenden Flammen gebraten

Oder gebettet zu sein in erstickende Honigklumpen

Oder im Frost zu erstarren auf eisiger Marmorplatte

Oder von oben zerdrückt durch der Erde Gewicht sich zu fühlen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 122-123.
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