Liebeswahn

Liebeswahn

[161] Wer die Leidenschaft flieht, verzichtet darum nicht auf jeden

Liebesgenuß, nur sucht er vielmehr die straflosen Freuden.

Denn ein Gesunder erfreut sich doch offenbar reinerer Wollust

Als wer krank ist vor Liebe. Denn selbst bei dem Akt der Umarmung

Schwanket der Liebenden Brunst in taumelnder Irrnis. Sie wissen

Kaum, wo zuerst sich ersättigen soll der Blick und die Hände.

Was sie ergreifen, erdrücken sie fast; sie mißhandeln den Körper

Schmerzhaft, ja sie zerbeißen sich oft mit den Zähnen die Lippen.

Pressen sie Küsse darauf. Sie leitet nicht reiner Genußtrieb,

Sondern ein heimlicher Stachel den Gegenstand selbst zu verletzen,

Wer es auch sei, der die rasende Wut in dem Herzen entfacht hat.

Freilich im Liebesgenuß weiß Venus die Qualen zu lindern,

Und die schmeichelnde Lust hemmt leicht die gefährlichen Bisse,

Denn es betört sie die Hoffnung, die brünstige Flamme zu löschen

Habe nur der Leib wirklich die Kraft, dem die Glut ist entglommen.

Doch dies wäre fürwahr der Natur vollkommen zuwider.

Das ist das einzige Ding, von welchem das glühende Herz will

Immer noch mehr sich gewinnen, je mehr wir davon schon besitzen,

Speise und Trank nimmt auf das Innere unseres Körpers

Und, da sie hierin erfüllen bestimmte Reviere, so kann man

Damit leicht das Verlangen nach Trank und Speise befried'gen.

Doch von dem schönen Gesicht und der blühenden Farbe des Menschen

Bleibt dem Leib zum Genuß nichts übrig als zarteste Bilder.

Ach, ein schwächlicher Trost, den ein Windstoß oft noch davonführt![161]

Wie in dem Traum dem Dürstenden oft das Getränke versagt bleibt,

Das ihm die brennende Glut in den Gliedern zu löschen vermöchte,

Und statt dessen nur Bilder des Wassers ihn täuschend umgaukeln,

Daß er beim Trinken inmitten des reißenden Stromes verdurstet,

So äfft Venus die Liebenden oft mit den Bildern der Liebe,

Da sie sich selbst in der Nähe am Sehn nicht ersättigen können

Und kein Stück mit der Hand von dem Reize der Glieder erhaschen,

Wenn sie den Leib auch ganz im Liebestaumel durchirren.

Endlich wenn Glied sich dem Gliede geeint, um die Blüte der Jugend

Auszukosten, im ersten Gefühle der kommenden Wonne,

Wenn sich Venus bereitet das weibliche Feld zu besamen,

Pressen mit Gier sie die Brust an die Brust; es vermischt sich des Mundes

Speichel, sie pressen den Zahn in die Lippen mit keuchendem Atem:

Doch umsonst, sie können ja nichts dem Körper entreißen

Oder mit ihrem Leib sich ganz in den ändern versenken,

Was sie wirklich bisweilen zu tun um die Wette bemüht sind;

So fest hängen sie beide in Venus' Banden zusammen,

Bis sich die Kraft der Wollust bricht und die Glieder sich lösen.

Hat sich nun so die gesammelte Lust aus den Adern entladen,

Tritt in der heftigen Brunst wohl ein Stillstand ein für ein Weilchen,

Dann kehrt wieder von neuem zurück die wütende Tollheit,

Wieder versuchen sie endlich zum Ziele der Wünsche zu kommen:

Doch da gibt es kein Mittel die Krankheit wirklich zu heilen.

Hilflos gehen sie so an der heimlichen Wunde zu Grunde.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 161-162.
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