Theorie des Traums

[158] Welchem Beruf nun ein jeder sich widmet und eifriger hingibt

Oder womit man auch sonst sich vorher lange beschäftigt

Oder auf welchem Geleise man mehr den Verstand hat getummelt,

Damit scheinen wir auch in dem Schlaf uns meist zu beschäft'gen:

Rechtsanwälte verfassen Gesetze und führen Prozesse,

Feldherrn kämpfen im Traum und ziehen ins Schlachtengetümmel.

Schifferleben zur See im ewigen Kampf mit den Winden,

Mein Traum aber betrifft dies Werk: die Natur zu erforschen

Und, was ich fand, zu beschreiben in Dichtungen heimischer Sprache.

So nun scheinen im Schlaf auch die übrigen Studien und Künste

Meist das Gemüt der Menschen noch weiter täuschend zu fesseln:

Allen, die hintereinander an vielen Tagen die Spiele

Immer beharrlich verfolgen, verbleiben (wie oft schon zu sehn war),

Wenn auch der Anblick längst aus der Sphäre der Sinne geschwunden,

Doch noch offen gewisse noch übrige Gänge des Geistes,

Durch die immer noch strömen die nämlichen Bilder der Dinge.

Und so schweben noch lange alltäglich dieselben Gestalten

Ihnen vor Augen, so daß sie sogar im Wachen noch immer

Schauen die Tänzer, wie rasch und geschmeidig die Glieder sie regen,

Und in dem Ohr tönt lange noch nach hellklingend der Zither

Lied und die Sprache der Saiten; sie schauen noch immer denselben

Zuschauerraum und den glänzenden Schmuck der wechselnden Bühne.

So sehr kommt's dabei an auf den Eifer und Willen des Menschen

Und womit man sich grade gewohnheitsmäßig beschäftigt.

Doch dies trifft nicht den Menschen allein, nein alle Geschöpfe.

Sieht man doch mutige Rosse, die abends die Glieder zur Ruhe

Legen, im Schlaf trotzdem stark schwitzen und immerfort keuchen,[158]

Jegliche Muskel gespannt, als gelt' es die Palme des Sieges,

Oder als wollten sie starten, nachdem sich die Schranke geöffnet.

Häufig bewegt sich auch plötzlich im wohligsten Schlafe der Jagdhund

Heftig mit seinen Beinen; er fängt auf einmal zu bellen

An und er zieht durch die Nase mit häufigem Schnuppern die Luft ein,

Gleichsam als sei er nunmehr auf die Fährte des Wildes gestoßen.

Wenn er darüber erwacht, setzt oft er dem nichtigen Trugbild

Nach, als sah' er die Hirsche in eiligem Flüchten begriffen,

Bis er dann zu sich kommt, wenn der Irrtum endlich verscheucht ist, –

Während das trauliche Rudel, des Haushunds niedliche Jungen,

Sich zu schütteln beginnen und rasch vom Boden sich reißen,

Grade als ob sie Gestalt und Gesicht von Fremden erblickten.

Und je wilder geartet die Brut ist der einzelnen Tiere,

Um so wütender müssen sie auch sich im Schlafe gebärden.

Aber die Scharen der Vögel, sie flüchten sich plötzlich zur Nachtzeit,

Und ihr Fittig versetzt die Haine der Götter in Aufruhr,

Wenn sie im Schlummer, der leis sie umfängt, den Habicht erblicken,

Wie er sie fliegend verfolgt, um Schlacht und Kampf zu entfachen.

Ferner, dem Geiste der Helden, die Großes nach großen Entschlüssen

Leisten, erscheint im Schlafe das nämliche Wirken und Handeln:

Könige sehn sich im Traum als Erobrer, als Lenker der Schlachten,

Auch als Gefangne, wobei sie Schrein, als ging's an die Kehle.

Viele auch kämpfen auf Leben und Tod. Sie stöhnen vor Schmerzen

Und erfüllen das ganze Gemach mit lautem Gebrülle,

Als ob grausiger Löwen und Panther Gebiß sie zerfleischte.

Viele plaudern wohl auch die wichtigsten Dinge im Traum aus,

Und gar mancher verriet, was er selber schon Böses getan hat.

Viele auch wähnenden Tod zu erleiden, und andre erschrecken

Plötzlich, als ob sie vom Gipfel des Bergs mit der Schwere des Körpers

Auf den Boden hin schlügen: ihr Körper erglüht wie im Fieber

Und ihr Geist ist betäubt: mit Mühe nur kommen sie zu sich.

Leidet man Durst, so glaubt man an lieblicher Quelle zu sitzen

Oder am Strom und das Wasser schier ganz mit dem Schlund zu erschöpfen.

Kinder glauben bisweilen vom Schlafe befangen am Weiher

Oder am Töpfchen zu stehn und das Kleid in die Hohe zu heben:

Dann ergießt sich das Naß, das im Leibe sich hatte gesammelt,

Und überschwemmt die glänzende Pracht der persischen Decke.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 158-159.
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