Das Nilproblem

[232] Dies gilt auch für den Nil, Ägyptens Fluß, den auf Erden

Einzigen Strom, der im Sommer sich hebt und über die Felder

Tretend gewöhnlich das Land in der brennendsten Hitze bewässert,

Weil entweder im Sommer die Winde des Nordens die Mündung

Stauen, zumal just dann, wie es heißt, die Etesien wehen.

Diese blasen der Strömung entgegen und hemmen den Ausfluß,

Füllen mit Wasser den oberen Lauf und halten es fest dort.

Denn unzweifelhaft weht der Passatwind gegen die Strömung,

Da er von Norden herbraust von den eisigen Sternen des Poles,

Während der Strom von Süden her kommt aus der glühenden Zone,

Wo inmitten der Menschen mit schwarzverbrannten Gesichtern

Grad' in dem Mittagsland der Urquell sprudelt des Stromes.

Oder es ist auch möglich, daß mächtige Sandanhäufung,

Die das vom Winde getriebene Meer nach innen zu anschwemmt

Seine Mündung versperrt und gegen die Strömung sich anstemmt.

Hierdurch wird das Gewässer gehemmt und an dem freieren Ausfluß

Und das rege Gefälle der Flut natürlich verlangsamt.

Möglicherweise ereignen sich auch im Quellengebiete

Regengüsse zur Zeit, wo vom Norden herab die Passate

Wehen und alles Gewölk nach der südlichen Richtung hin treiben.

Wenn dies nämlich zuhaut nach der Mittagzone getrieben[232]

Dort sich allmählich sammelt und endlich an hohe Gebirge

Anstößt, ballen die Wolken und pressen sich heftig zusammen.

Auch die hohen Gebirge Äthiopiens ließen vielleicht ihn

Wachsen, wo schimmernden Schnee die alles erleuchtende Sonne

Zwingt mit schmelzendem Strahl auf die Felder hinunter zu rieseln.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 232-233.
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