Einleitung

Die Einwohner von Polen können füglich in folgende sechs Klassen oder Stände eingeteilt werden: hoher Adel, niederer Adel, Halbadlige, Bürger, Bauern, und Juden.

Der hohe Adel besteht aus den großen Gutsbesitzern und Verwaltern der hohen Ämter des Staats. Der niedere Adel kann zwar auch eigne Güter besitzen und alle Ämter im Staate bekleiden, wird aber seiner Armut wegen davon abgehalten. Der Halbadlige darf weder eigne Güter besitzen noch hohe Ämter im Staate bekleiden, wodurch er sich von dem Adligen unterscheidet. Er besitzt zwar hin und wieder Güter, ist aber in Ansehung derselben einigermaßen vom Landesherrn, in dessen Gebiet diese Güter liegen, abhängig, indem er ihm dafür einen jährlichen Tribut bezahlen muß.

Der Bürgerstand ist der elendeste unter allen. Der Bürger ist zwar nicht leibeigen und genießt einige Freiheiten, hat auch sogar seine eigene Gerichtsbarkeit. Da er aber mehrenteils keine einträglichen Güter besitzt und keine Profession gehörig treibt, so bleibt er immer in einem verächtlichen, armseligen Zustande.

Die letzten zwei Stände, nämlich der Bauernstand und die Juden, sind die nützlichsten im Lande. Jener beschäftigt sich mit dem Ackerbau, Viehweide, Bienenzucht usw., kurz mit allem, was das Land hervorbringt. Diese treiben Handel, sind Professionisten und Handwerker, Bäcker, Brauer, Bier-, Branntwein- und Metschenker u. dgl. Sie sind auch die einzigen Pächter in Städten und Dörfern, Klostergüter ausgenommen, wo Ihre Hochwürden es für Sünde halten, einen Juden in Nahrung zu setzen, und daher ihre Pächte lieber den Bauern überlassen; und obschon sie dafür büßen müssen, indem die Pächte zugrunde gehen, weil diese das Geschick dazu nicht haben, so ertragen sie doch dies lieber mit christlicher Geduld.[1]

Am Ende des vorigen Jahrhunderts gerieten die Pächte in Polen wegen Unwissenheit der meisten polnischen Herren, Unterdrückung der Untertanen und gänzlichen Mangels an Ökonomie so in Verfall, daß eine Pacht, die jetzt ungefähr tausend polnische Gulden einbringt, einem Juden für zehn Gulden angeboten wurde, wovon dieser wegen einer noch größeren Unwissenheit und Trägheit doch nicht leben konnte. Ein Umstand aber gab der Sache eine ganz andere Wendung. Zwei Brüder aus Galizien, wo die Juden viel verschlagener als in Litauen sind, nahmen unter dem Namen Dzierzawci oder Generalpächter alle Güter des Fürsten Radziwill in Pacht und setzten diese Güter durch mehr als gewöhnliche Tätigkeit und bessere Ökonomie nicht nur in bessern Stand, sondern bereicherten auch sich selbst in kurzer Zeit.

Sie erhöhten die Pächte, ohne sich an das Geschrei ihrer Mitbrüder zu kehren, und ließen die Pachtgelder von ihren Unterpächtern mit aller Strenge abfordern. Die von ihnen abhängenden Pächte nahmen sie selbst in Augenschein, und wo sie einen Pächter fanden, der, anstatt durch Fleiß und Ökonomie seine Pacht zu seinem und des Landesherrn Vorteil zu verbessern, den ganzen Tag im Müßiggange zubrachte und von Branntwein betrunken auf dem Ofen lag, so ließen sie ihn herunterbringen und durch Peitschen aus seiner Lethargie aufwecken, welches Verfahren den Herren Generalpächtern bei ihrer Nation den Namen der Tyrannen erworben hat.

Dieses tat aber eine sehr gute Wirkung. Der Pächter, der ehedem im gehörigen Termin seine zehn Gulden Pachtgeld nicht hatte herausbringen können, ohne darüber in Ketten zu kommen, bekam dadurch eine solche Impulsion zur Tätigkeit, daß er nicht nur von seiner Pacht eine Familie ernähren, sondern auch anstatt zehn Gulden vier- bis fünfhundert, ja sogar tausend Gulden bezahlen konnte.

Die Juden können wiederum in drei Klassen eingeteilt[2] werden, nämlich in arbeitsame Ungelehrte, in Gelehrte, die von ihrer Gelehrsamkeit Profession machen, und in diejenigen, die sich bloß der Gelehrsamkeit widmen, ohne sich mit irgendeinem Erwerbsmittel abzugeben, sondern von der arbeitsamen Klasse erhalten werden. Aus der zweiten Klasse sind die Oberrabbiner, Prediger, Richter, Schulmeister u. dgl. Die dritte Klasse besteht aus denjenigen Gelehrten, die wegen ihrer vorzüglichen Talente und Gelehrsamkeit die Aufmerksamkeit der Ungelehrten auf sich ziehen, von diesen in ihre Häuser genommen, mit ihren Töchtern verheiratet und einige Jahre auf eigene Unkosten mit Frau und Kindern unterhalten werden. Nachher aber muß diese Frau die Ernährung ihres heiligen Müßiggängers und ihrer Kinder (die gemeiniglich bei dieser Klasse sehr zahlreich sind) auf sich nehmen, worauf sie sich, wie billig, sehr viel einbildet.

Es gibt vielleicht kein anderes Land außer Polen, wo Religionsfreiheit und Religionshaß so im gleichen Grade anzutreffen wäre. Die Juden genießen da einer völlig freien Ausübung ihrer Religion und aller übrigen bürgerlichen Freiheiten, haben auch sogar ihre eigene Gerichtsbarkeit. Von der anderen Seite aber geht der Religionshaß so weit, daß der Name Jude zum Abscheu ist, und die Wirkung dieses zu den Zeiten der Barbarei eingewurzelten Abscheus noch zu meinen Zeiten, ungefähr vor dreizehn Jahren, dauerte. Dieser anscheinende Widerspruch läßt sich aber sehr gut heben, wenn man bedenkt, daß die in Polen den Juden zugestandene Religions- und bürgerliche Freiheit nicht aus Achtung für die allgemeinen Rechte der Menschheit entspringt, so wie auf der anderen Seite der Religionshaß und Verfolgung keineswegs die Wirkung einer weisen Politik ist, die dasjenige, was der Moralität und dem Wohlstand des Staates schädlich sein kann, aus dem Wege zu räumen sucht, sondern beide Folgen der in diesem Lande herrschenden politischen Unwissenheit und Trägheit sind. Da nämlich die Juden bei allen ihren Mängeln[3] dennoch in diesem Lande beinahe die einzigen brauchbaren Menschen sind, so sah sich zwar die polnische Nation gezwungen, zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse ihnen alle mögliche Freiheiten zu bewilligen, doch mußte auch ihre moralische Unwissenheit und Trägheit auf der anderen Seite notwendig Religionshaß und Verfolgung hervorbringen.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 1-4.
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