Viertes Kapitel

[20] Jüdische Schulen. Die Freude, daraus erlöst zu werden, verursacht einen steifen Fuß.


Mein älterer Bruder, Josef, und ich wurden nach der Stadt Mirz in die Schule geschickt. Mein Bruder, der ungefähr zwölf Jahre alt war, wurde bei einem damals berühmten Schulmeister, namens Jossel, in die Kost gegeben. Dieser war der Schrecken aller jungen Leute, die Geißel Gottes; er behandelte seine Untergebenen mit einer unerhörten Grausamkeit, peitschte sie um das mindeste Vergehn bis aufs Blut, riß nicht selten Ohren ab und schlug Augen aus; und wenn dann die Eltern dieser Unglücklichen zu ihm kamen und ihn zur Rede stellten, so schmiß er sie, ohne Unterschied der Person, mit Steinen oder was er sonst fand, und jagte sie aus der Stube mit seinem Stock bis nach ihrer Wohnung. Alle, die unter seiner Zucht standen, sind entweder Dummköpfe oder große[20] Gelehrte geworden. Ich, der ich damals nur sieben Jahre alt war, wurde zu einem andern Schulmeister geschickt.

Eine Anekdote muß ich hier erzählen, die von der einen Seite große brüderliche Liebe beweist, und von der andern als Äußerung des Gemütszustandes eines Kindes anzusehen ist, das zwischen Hoffnung der Erleichterung eines Übels und Furcht vor der Vergrößerung desselben schwebt. Ich kam einst aus der Schule mit verweinten Augen (sie hatten gewiß ihre Ursache dazu). Mein Bruder bemerkte es und fragte mich nach der Ursache. Anfangs trug ich Bedenken, ihm darauf zu antworten, endlich aber sagte ich: ich weine darüber, daß man nicht aus der Schule plaudern darf. Mein Bruder verstand mich sehr wohl, war außerordentlich wider meinen Lehrer entrüstet und wollte ihm darüber den Text lesen. Ich bat ihn aber, er möchte es nicht tun, weil allem Vermuten nach der Lehrer mir das Aus-der-Schule-Plaudern entgelten lassen würde.

Nun muß ich noch etwas von der Beschaffenheit jüdischer Schulen überhaupt sagen. Die Schule ist gemeiniglich eine kleine Rauchhütte, und die Kinder sind teils auf Bänken, teils auf bloßer Erde zerstreut. Der Lehrer, im schmutzigen Hemd auf dem Tisch sitzend, hält zwischen den Beinen einen Napf, worin er mit einer großen Herkuleskeule Schnupftabak reibt, und zugleich sein Regiment kommandiert. Die Unterlehrer exerzieren jeder in seinem Winkel und beherrschen ihre Untergebenen, ebenso wie der Lehrer selbst, ganz despotisch. Von dem Frühstück, Vesperbrot usw., das man den Kindern in die Schule schickt, behalten diese Herren den größten Teil für sich, ja zuweilen bekommen die armen Jungen gar nichts davon, und doch dürfen sie sich darüber nicht beklagen, wenn sie nicht der Rache dieser Tyrannen ausgesetzt sein wollen. Hier werden die Kinder vom Morgen bis Abend eingekerkert und haben gar keine Freistunden, außer am Freitage und am Neumond einen Nachmittag.

Was das Studium selbst betrifft, so wird wenigstens das[21] Lesen der hebräischen Schrift noch ziemlich ordentlich erlernt. Hingegen geht es mit der Erlernung der hebräischen Sprache ganz seltsam zu. Grammatik wird in der Schule nicht traktiert, sondern diese muß ex usu, durch Übersetzung der Heiligen Schrift erlernt werden, so ungefähr wie der gemeine Mann durch den Umgang, auf eine sehr unvollständige Art die Grammatik seiner Muttersprache lernt. Auch gibt es kein Wörterbuch der hebräischen Sprache. Man fängt also bei Kindern gleich mit Explizierung der Bibel an; und da diese in so viele Abschnitte geteilt ist, als Wochen im Jahre sind (damit man die Bücher Mosis, worin alle Sonnabend in der Synagoge gelesen wird, in einem Jahre durchlesen könne), so werden alle Woche einige Verse vom Anfange des dieser Woche gehörigen Abschnitts expliziert, und dieses mit allen möglichengrammatikalischen Fehlern. Es ist auch nicht gut anders möglich; denn da das Hebräische durch die Muttersprache expliziert werden soll, die jüdisch-polnische Muttersprache aber selbst voller Mängel und grammatischer Unrichtigkeiten ist, so muß auch natürlich die dadurch erlernte hebräische Sprache von gleichem Schlage sein. Der Schüler bekommt auf diese Art ebensowenig Kenntnis von der Sprache als von dem Inhalt der Bibel.

Außerdem haben noch die Talmudisten allerhand seltsame Einfälle der Bibel angeheftet. Der unwissende Lehrer glaubt getrost, daß die Bibel in der Tat keinen andern Sinn haben könne, als diese Erklärer ihr beilegen, und sein Schüler muß es ihm nachglauben, wodurch der richtige Wortverstand notwendig verlorengehn muß. Wenn es z.B. im ersten Buch Mosis heißt: Jakob schickte Boten an seinen Bruder Esau usw., so gefiel es den Talmudisten vorzugeben, daß diese Boten Engel gewesen. Denn obgleich das Wort Malachim im Hebräischen sowohl Boten als Engel bedeutet, wählten diese Wunderhäscher doch lieber die zweite Bedeutung, da die erste nichts Wunderbares in sich enthält. Der Schüler glaubt also steif und fest, daß Malachim[22] nichts anders als Engel bedeute, und die natürliche Bedeutung von Boten geht für ihn ganz verloren. Nur durch eignes Studium und Lesung einiger Grammatiken sowohl als grammatisch-kritischer Kommentare über die Bibel, z.B. Rabbi David Kimchi und Aben Esra (wovon aber die wenigsten Rabbiner Gebrauch machen) kann man nach und nach zu richtiger Erkenntnis der hebräischen Sprache und einer gesunden Exegese gelangen.

Da die Kinder in der Blüte ihrer Jugend zu einer solchen Hölle von Schule verdammt sind, so kann man sich leicht denken, mit welcher Freude und Entzücken sie ihrer Befreiung entgegensehen müssen. Wir (mein Bruder und ich) wurden zu den großen Festtagen nach Hause abgeholt, und bei einer solchen Spazierfahrt ereignete sich folgende Begebenheit, die in Ansehung meiner sehr kritisch war. Meine Mutter kam einst vor dem Pfingstfest nach der Stadt, wo wir in der Schule waren, um verschiedenes zu ihrem Hauswesen Notwendiges einzukaufen. Sie nahm uns hierauf mit nach Hause. Die Befreiung von der Schule und der Anblick der schönen Natur, die sich um diese Zeit in ihrem besten Schmuck zeigt, entzückte uns so sehr, daß wir dadurch auf allerhand mutwillige Einfälle gerieten. Als wir nicht mehr weit von unsrer Heimat entfernt waren, sprang mein Bruder aus dem Wagen und lief zu Fuße; ich wollte ihm diesen kühnen Sprung nachmachen, hatte aber zum Unglück nicht genug Kräfte dazu. Ich fiel daher hart am Wagen nieder, so daß meine Beine zwischen die Räder kamen und das Rad über mein linkes Bein fuhr, das dadurch jämmerlich zerquetscht wurde. Man brachte mich halbtot nach Hause. Mein Fuß wurde kontrakt, und ich konnte ihn gar nicht bewegen.

Man konsultierte darüber einen jüdischen Doktor, der zwar nicht ordentlich auf einer Universität studiert und promoviert, sondern sich seine medizinischen Kenntnisse bloß dadurch erworben hatte, daß er bei einem Arzt gedient und einige medizinische Bücher in polnischer Sprache[23] gelesen, der aber nichtsdestoweniger ein sehr guter praktischer Arzt war und viel glückliche Kuren machte. Dieser sagte, daß er jetzt zwar keine Medizin im Vorrat habe (eine Medizinapotheke war ungefähr zwanzig Meilen von dem Orte entfernt) und folglich nichts Methodisches verordnen könne, unterdessen möchte man doch ein leichtes Hausmittel gebrauchen. Man sollte nämlich einen Hund totschlagen und den kontrakten Fuß hineinstecken; dieses einigemal wiederholt, würde gewiß Erleichterung schaffen. Man befolgte seine Vorschrift mit dem gewünschten Erfolg, so daß ich nach einigen Wochen den Fuß wieder bewegen und darauf treten konnte, auch nach und nach völlig wiederhergestellt wurde.

Ich denke, es wäre gar nicht übel, wenn die Mediziner auf solche Hausmittel, deren man sich in Gegenden, wo keine ordentlichen Ärzte und Apotheken sind, mit sehr gutem Erfolg bedient, aufmerksamer würden und sogar zu diesem Behuf besondere Reisen anstellten. Ich weiß eine Menge Beispiele dieser Art, die sich auf keine Weise wegräsonieren lassen. Doch dieses im Vorbeigehn. Ich komme auf meine Geschichte zurück.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 20-24.
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Salomon Maimons Lebensgeschichte
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