Zwölftes Buch

1.

[149] Alles, was Du jetzt auf Umwegen zu erreichen wünschest, könntest Du schon besitzen, wenn Du nicht[149] missgünstig gegen Dich selber wärest. Es wäre Dein, sobald Du im Stande wärst, was hinter Dir liegt auf sich beruhen zu lassen, was vor Dir, der Vorsehung anheimzustellen, und nur das Gegenwärtige der Frömmigkeit und Gerechtigkeit gemäss zu gestalten; der Frömmigkeit, indem Du Dich Deines Schicksales freust, der Gerechtigkeit, indem Du freimüthig und ohne Umschweif die Wahrheit redest und thust, was das Gesetz und was der Werth jeder Sache erfordern, unbeirrt von Anderer Schlechtigkeit, von irgend welchen übelangebrachten Vorstellungen, von dem Gerede Anderer und von den Empfindungen Deiner fleischlichen Hülle. Denn wenn Du so Deinem Lebensende entgegengehst, alles Andere mit Gleichgültigkeit betrachtest, nur das Göttliche in Dir, den herrschenden Genius verehrend, und nicht sowohl das Aufhören des Lebens als vielmehr das Nicht-Beginnen eines naturgemässen Lebens fürchtest, dann darfst Du auch ein Mensch heissen, der würdig ist der Welt, die ihn hervorgebracht, und wirst aufhören ein Fremdling zu sein in Deinem Vaterlande.


2.

Als nackt und von dem Gefäss, der Schaale, dem Schmutz des Körpers entblösst sieht Gott die Seele an. Denn die eigentliche Berührung zwischen ihm und seinen Werken findet nur vermittelst seines Geistes statt. Thue es ihm nach und Du befreist Dich von so mancher Last und Sorge. Denn wer erst absehen gelernt hat von seinem Leibe, der ihm das Nächste ist, der achtet dann[150] gewiss auch nicht mehr auf Kleidung, Häuslichkeit, Ansehen bei den Leuten und all' dergleichen Aeusserlichkeiten.


3.

Leib und Seele sind Dein nur soweit es Deine Pflicht ist für sie zu sorgen. Der Geist aber ist ganz eigentlich Dein. Doch nur, wenn Du ihn frei zu machen weisst von allen Einflüssen der Aussenwelt, des eigenen Leibes und der dem Leibe eingepflanzten Seele, so dass er ein Leben aus sich und für sich selber führt, vollbringend was die Gerechtigkeit gebietet, wollend was das Schicksal auferlegt und wahr in seinen Reden, nur dann kannst Du die noch übrige Zeit ruhig und heiter leben und wirst treu bleiben Deinem Genius.


4.

Ich wundere mich oft darüber, wie derselbe Mensch, der sich mehr liebt als alle Anderen, dennoch mehr Gewicht auf das Urtheil Anderer über ihn, als auf das eigene legen kann. Bedenkt man freilich, dass kein noch so bedeutender Lehrer, ja dass kein Gott es auch nur einen Tag lang von uns erreichen würde, gleich zu sagen, was wir denken, so wie wir den Gedanken nur gefasst, so ist's auch wiederum natürlich, dass wir eine weit grössere Scheu vor dem haben, was Andere von uns denken, als vor unserer eigenen Meinung.




5.

Wie mag es nur kommen, dass die Götter, die doch Alles so schön und menschenfreundlich eingerichtet[151] haben, das Eine übersehen konnten, dass selbst die wenigen trefflichen Menschen, die mit dem Göttlichen aufs Innigste verkehrten und sich ihm durch fromme Werke und heiligen Dienst zu besonderen Freunden gemacht haben, wenn sie einmal todt sind, nicht wiederkommen, sondern ganz und gar verschwunden sind? Allein, wenn sich die Sache wirklich so verhält, so wisse, dass, wenn es anders hätte sein sollen, sie's auch anders gemacht hätten. Wäre es gut gewesen, hätte es auch gewiss geschehen können; wäre es natürlich, so würde es die Natur auch einrichten. Daraus also, dass es nicht so ist, wofern es nämlich nicht so ist, erkennst Du, dass es nicht so sein darf. Und – würdest Du denn überhaupt auf diese Weise mit den Göttern rechten, wenn nicht die stillschweigende Voraussetzung wäre, dass sie die besten und gerechtesten sind? Und daraus folgt ja schon von selbst, dass sie in ihren Anordnungen nicht ungerecht und gegen die Vernunft verfahren konnten.




6.

Auch daran kann man sich gewöhnen, was Einem Anfangs verzweifelt scheint. Die linke Hand, die zu so vielen Dingen unbrauchbar ist aus Mangel an Gewöhnung, ist doch z.B. zur Führung des Zügels weit geschickter, als die rechte. Weil sie's gewohnt ist.


7.

Bei der Anwendung unserer Grundsätze aufs Leben gilt es mehr dem Ringer, als dem Fechter ähnlich zu[152] sein. Der nämlich ist verloren, sobald ihm das Schwert abhanden kommt. Jenem aber steht die Faust immer zu Gebote; er braucht sie eben nur zu ballen.


8.

Welche Gewalt hat doch der Mensch, der Nichts thut, als was Gott loben kann, und der Alles hinnimmt, was Gott ihm sendet!




9.

Ist Alles eine unabänderliche Notwendigkeit, wie kannst Du widerstreben? Giebt's aber eine Vorsehung, die sich versöhnen lässt, so mache Dich des göttlichen Beistandes würdig! Ist aber auch dieses nicht das Richtige, ist vielmehr Alles nur die principloseste Verwirrung, so sei Du froh, dass Du selbst doch mitten in diesem Wirrwarr an Deinem Geiste ein solches leitendes Princip besitzest. Wohin Dich nun auch jene Strömung treiben mag – mag sie den Leib, die Seele, Alles mit hinwegführen, den Geist wird sie nicht mit sich fortführen!


10.

Das Licht der Lampe scheint, bis man es auslöscht; nicht eher giebt es seinen Strahl ab. Soll denn die Wahrheit, die Gerechtigkeit und Besonnenheit in Dir eher verlöschen?




11.

Wenn Jemand Dir die Meinung beigebracht, er habe sich vergangen, weisst Du auch gewiss, ob es ein Vergehen ist? und wenn er sich wirklich vergangen[153] hat, ist er selber auch der Meinung? Oder gliche er dann nicht einem Menschen, der sich selbst das Auge auskratzt?


12.

Was sich nicht ziemt, das thue auch nicht, und was nicht wahr ist, sage nicht. Dein Hauptbestreben sei jederzeit, das Ganze im Auge zu haben.


13.

Merkst Du endlich, dass etwas Besseres und Göttlicheres in Dir ist, als das, was die Leidenschaften hervorruft und was Dich bald hierhin, bald dorthin zieht?




14.

Binde Dich an keinen Ort, an Nichts von dem, was Du jetzt siehst, an Keinen derer, die jetzt leben. Denn das Alles ist wandelbar und wird vergehen, um Anderen Platz zu machen.


15.

Des Menschen Geist ist göttlichen Geschlechts und von Gott ausgeflossen, und Nichts ist irgend eines Menschen Eigenthum.


16.

Der Allerunerträglichste ist der, der sich mit seiner Demuth brüstet.




17.

Die Dich etwa fragen möchten, wo Du denn eigentlich die Götter gesehen, und woraus Du entnommen habest, dass sie sind, so dass Du sie verehren magst,[154] denen gieb zur Antwort: Einmal, sie sind wirklich mit Augen zu sehen. Dann, auch meine Seele habe ich ja noch nie gesehen, und halte sie doch in Ehren. Daraus, dass ich ihre Macht immer gespürt, habe ich entnommen, dass die Götter sind, und darum verehre ich sie.


18.

Eine gute That der andern so anreihen, dass auch nicht der kleinste Zwischenraum bleibt, was heisst das anders, als das Leben geniessen?




19.

Ein Sonnenlicht, obwohl gebrochen durch Mauern, Berge, tausend Anderes. Ein gemeinsamer Stoff, obwohl hindurchgehend durch tausend eigenthümliche Bildungen. Ein Leben, obwohl vertheilt auf unzählige Wesen, deren jedes seine Besonderheit hat. Eine Vernunft, obwohl auch sie zertheilt erscheint. Alles Uebrige, die Welt der Objecte, der empfindungslosen, ist ohne Zusammenhang in sich, obgleich auch hier der Geist waltet und Alles in seine Wagschaale fällt, nur das Menschenherz hat seinen ihm eigenthümlichen Zug nach dem, was ihm verwandt ist, und lässt sich diesen Gemeinschafts-Trieb nicht nehmen.


20.

So hast Du denn Dein Bürgerrecht gehabt, o Mensch, in diesem grossen Reiche. Wie lange es gedauert, darauf kommt's nicht an. Was den Gesetzen gemäss ist,[155] ist auch Jedem billig. Was also wäre Schlimmes daran, wenn Du entlassen wirst? entlassen ja nicht von einem Despoten oder ungerechten Richter, sondern von der Natur, derselben, die Dich eingeführt. So darf ja wohl der Intendant, der einen Schauspieler angestellt, ihm wieder kündigen. Aber, sagst Du, von fünf Akten sind ja erst drei abgespielt! Sehr gut. Doch sind im Leben auch drei Akte das ganze Stück. Der ehemals die Stoffe zusammenfügte und der jetzt sie wieder löst, der hat das Ende zu bestimmen. Du bist unschuldig an Beidem. So gehe denn versöhnt! Der Dich abspannt, ist's auch.[156]

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 31875.
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