Erste Bemerkung

[126] »Wir geben keine Geschichte nach der Ordnung der Zeit, sondern nach der Folge der Ideen. Die ökonomischen Phasen oder Kategorien treten in ihrer Manifestation bald gleichzeitig, bald in verkehrter Reihenfolge auf... Die ökonomischen Theorien haben nicht minder ihre logische Abfolge und ihre Gliederung in der Vernunft; diese Ordnung schmeicheln wir uns entdeckt zu haben.« (Proudhon, Bd. I, S. [145-]146.)

Ganz sicher hat Herr Proudhon den Franzosen einen Schreck einjagen wollen. Indem er ihnen quasi Hegelsche Phrasen an den Kopf warf. Wir haben also mit zwei Männern zu tun: zuerst mit Herrn Proudhon und dann mit Hegel. Wodurch zeichnet sich Herr Proudhon vor den anderen Ökonomen aus? Und welche Rolle spielt Hegel in der politischen Ökonomie des Herrn Proudhon?

Die Ökonomen stellen die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, Arbeitsteilung, Kredit, Geld etc., als fixe, unveränderliche, ewige Kategorien hin. Herr Proudhon, der diese Kategorien fertig vorfindet, will uns den Akt der Bildung und Erzeugung dieser Kategorien, Prinzipien, Gesetze, Ideen, Gedanken explizieren.

Die Ökonomen erklären uns, wie man unter den obigen gegebenen Verhältnissen produziert; was sie uns aber nicht erklären, ist, wie diese Verhältnisse selbst produziert werden, d.h. die historische Bewegung, die sie ins Leben ruft. Herr Proudhon, der diese Verhältnisse als Prinzipien, als Kategorien, als abstrakte Gedanken nimmt, hat nur diese Gedanken in eine bestimmte Ordnung zu bringen, die sich bereits in alphabetischer Reihenfolge am Schlüsse jeder Abhandlung über politische Ökonomie vorfinden. Die Materialien der Ökonomen sind das bewegte und bewegende Leben der Menschen; die Materialien des Herrn Proudhon sind die Dogmen der Ökonomen. Sobald man aber die historische Entwicklung der Produktionsverhältnisse nicht verfolgt – und die Kategorien sind nur der theoretische Ausdruck derselben –; sobald man in diesen Kategorien nur von selbst entstandene Ideen, von den wirklichen Verhältnissen unabhängige Gedanken sieht, ist man wohl oder übel gezwungen, den Ursprung dieser Gedanken in die Bewegung der reinen Vernunft zu verlegen. Wie erzeugt die reine, ewige, unpersönliche Vernunft diese Gedanken? Wie stellt sie es an, um sie zu erzeugen?[126]

Hätten wir die Unerschrockenheit des Herrn Proudhon in Sachen des Hegelianismus, so würden wir sagen: Sie unterscheidet sich in sich selbst von sich selbst. Was will das sagen? Da die unpersönliche Vernunft außer sich weder einen Boden hat, auf den sie sich stellen kann, noch ein Objekt, dem sie sich entgegenstellen kann, noch ein Subjekt, mit dem sie sich verbinden kann, sieht sie sich gezwungen, einen Purzelbaum zu schlagen und sich selbst zu ponieren, zu opponieren und zu komponieren – Position, Opposition, Komposition. Um griechisch zu sprechen, haben wir These, Antithese und Synthese. Für die, welche die Hegelsche Sprache nicht kennen, lassen wir die Weihungsformel folgen: Affirmation, Negation, Negation der Negation. Das nennt man reden. Es ist zwar kein Hebräisch, mit Verlaub des Herrn Proudhon: aber es ist die Sprache dieser reinen, vom Individuum getrennten Vernunft. An Stelle des gewöhnlichen Individuums und seiner gewöhnlichen Art zu reden und zu denken, haben wir lediglich diese gewöhnliche Art an sich, ohne das Individuum.

Ist es zum Verwundern, daß in letzter Abstraktion – denn es handelt sich um Abstraktion, nicht um Analyse – jedes Ding sich als logische Kategorie darstellt? Ist es zum Verwundern, daß, wenn man nach und nach alles fallen läßt, was die Individualität eines Hauses ausmacht, wenn man von den Baustoffen absieht, woraus es besteht, von der Form, die es auszeichnet, man schließlich nur noch einen Körper vor sich hat; daß, wenn man von den Umrissen dieses Körpers absieht, man schließlich nur einen Raum hat; daß, wenn man endlich von den Dimensionen dieses Raumes abstrahiert, man zum Schluß nichts mehr übrig hat als die Quantität an sich, die logische Kategorie der Quantität? Wenn wir solchermaßen konsequent abstrahieren, von jedem Subjekt, von allen seinen belebten oder unbelebten angeblichen Akzidenzien, Menschen oder Dingen, so haben wir ein Recht zu sagen, daß man in letzter Abstraktion nur noch die logischen Kategorien als Substanz übrigbehält. So haben die Metaphysiker, die sich einbilden, vermittelst solcher Abstraktionen zu analysieren, und die, je mehr sie sich von den Gegenständen entfernen, sie desto mehr zu durchdringen wähnen – diese Metaphysiker haben ihrerseits recht zu sagen, daß die Dinge dieser Welt nur Stickereien sind auf einem Stramingewebe, gebildet durch die logischen Kategorien. Da haben wir den Unterschied zwischen dem Philosophen und dem Christen. Der Christ kennt nur eine Fleischwerdung des Logos, trotz der Logik; der Philosoph kommt mit den Fleischwerdung gar nicht zu Ende. Daß alles, was existiert, daß alles, was auf der Erde und im Wasser lebt, durch Abstraktion auf eine[127] logische Kategorie zurückgeführt werden kann, daß man auf diese Art die gesamte wirkliche Welt ersäufen kann in der Welt der Abstraktionen, der Welt der logischen Kategorien – wen wundert das?

Alles, was existiert, alles, was auf der Erde und im Wasser lebt, existiert nur, lebt nur vermittelst irgendwelcher Bewegung. So erzeugt die Bewegung der Geschichte die sozialen Beziehungen, die Industrielle Bewegung gibt uns die industriellen Produkte etc.

Ebenso wie wir durch Abstraktion jedes Ding in eine logische Kategorie verwandelt haben, braucht man nur von jeder unterscheidenden Eigenschaft der verschiedenen Bewegungen zu abstrahieren, um zur Bewegung im abstrakten Zustande, zur rein formellen Bewegung, zu der rein logischen Formel der Bewegung zu gelangen. Hat man erst in den logischen Kategorien das Wesen aller Dinge gefunden, so bildet man sich ein, in der logischen Formel der Bewegung die absolute Methode zu finden, die nicht nur alle Dinge erklärt, sondern die auch die Bewegung der Dinge umfaßt.

Es ist dies die absolute Methode, von der Hegel sagt:

»Die Methode ist die absolute, die einzige, die höchste, unendliche Kraft, der kein Ding widerstehen kann. Sie ist die Tendenz der Vernunft, sich selbst in jedem Dinge wiederzufinden, wiederzuerkennen.« (»Logik«, Bd. III, [S. 320-321].)

Ist jedes Ding auf eine logische Kategorie und jede Bewegung, jeder Produktionsakt auf die Methode reduziert, so folgt daraus, daß jeder Zusammenhang von Produkten und Produktion, von Dingen und Bewegung sich auf eine angewandte Metaphysik reduziert. Was Hegel für die Religion, das Recht etc. getan hat, sucht Herr Proudhon für die politische Ökonomie zu tun.

Was ist somit diese absolute Methode? Die Abstraktion der Bewegung. Was ist die Abstraktion der Bewegung? Die Bewegung im abstrakten Zustande. Was ist die Bewegung im abstrakten Zustande? Die rein logische Formel der Bewegung oder die Bewegung der reinen Vernunft. Worin besteht die Bewegung der reinen Vernunft? Sich zu setzen, sich sich selbst entgegenzusetzen, und schließlich wieder sich mit sich selbst in eins zu setzen, sich als These, Antithese, Synthese zu formulieren, oder schließlich sich zu setzen, sich zu negieren und ihre Negation zu negieren.

Wie stellt es die Vernunft an, um sich als bestimmte Kategorie hinzustellen, zu setzen? Das ist die Sache der Vernunft selbst und ihrer Apologeten.

Aber, einmal dahin gelangt, sich als These zu setzen, spaltet sich diese[128] These, indem sie sich selbst entgegenstellt, in zwei widersprechende Gedanken, in Positiv und Negativ, in Ja und Nein. Der Kampf dieser beiden gegensätzlichen, in der Antithese enthaltenen Elemente bildet die dialektische Bewegung. Das Ja wird Nein, das Nein wird Ja, das Ja wird gleichzeitig Ja und Nein, das Nein wird gleichzeitig Nein und Ja; auf diese Weise halten sich die Gegensätze die Waage, neutralisieren sie sich, heben sie sich auf. Die Verschmelzung dieser beiden widersprechenden Gedanken bildet einen neuen Gedanken, die Synthese derselben. Dieser neue Gedanke spaltet sich wiederum in zwei widersprechende Gedanken, die ihrerseits wiederum eine neue Synthese bilden. Aus dieser Zeugungsarbeit erwächst eine Gruppe von Gedanken. Diese Gedankengruppe verfolgt dieselbe dialektische Bewegung wie eine einfache Kategorie und hat zur Antithese eine gegensätzliche Gruppe. Aus diesen zwei Gedankengruppen entsteht eine neue Gedankengruppe, die Synthese beider.

Wie aus der dialektischen Bewegung der einfachen Kategorien die Gruppe entsteht, so entsteht aus der dialektischen Bewegung der Gruppen die Reihe (série) und aus der dialektischen Bewegung der Reihen das ganze System.

Man wende diese Methode auf die Kategorien der politischen Ökonomie an, und man hat die Logik und die Metaphysik der politischen Ökonomie, oder mit anderen Worten: Man hat die aller Welt bekannten ökonomischen Kategorien in eine wenig bekannte Sprache übersetzt, in der sie aussehen, als seien sie soeben funkelneu einem reinen Vernunftskopf entsprungen; dergestalt scheinen diese Kategorien einander zu erzeugen, sich zu verketten und aneinanderzugliedern, vermittelst der bloßen Tätigkeit der dialektischen Bewegung. Der Leser braucht indes vor dieser Metaphysik mit ihrem ganzen Gerüst von Kategorien, Gruppen, Serien und Systemen nicht zu erschrecken. Trotz aller der sauren Arbeit, womit Herr Proudhon die Höhe dieses Systems der Widersprüche zu erklimmen strebt, bringt er es doch nie über die zwei ersten Stufen der einfachen These und Antithese; und auch sie hat er nur zweimal erstiegen, bei welcher Gelegenheit er einmal obendrein auf den Rücken gefallen ist.

Auch haben wir bis jetzt nur die Dialektik Hegels auseinandergesetzt; wir werden später sehen, wie Herr Proudhon es fertigbringt, sie auf das kläglichste Maß herunterzubringen. So ist für Hegel alles, was geschehen ist und noch geschieht, genau das, was in seinem eigenen Denken vor sich geht. So ist die Philosophie der Geschichte nur mehr die Geschichte der Philosophie, seiner eigenen Philosophie. Es gibt keine »Geschichte nach der Ordnung der Zeit« mehr, sondern nur noch die »Aufeinanderfolge der Ideen in der[129] Vernunft«. Er glaubt, die Welt mittelst der Bewegung des Gedankens konstruieren zu können, während er nur die Gedanken, die in jedermanns Kopf sind, systematisch rekonstruiert und nach der absoluten Methode klassifiziert.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1959, Band 4, S. 126-130.
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